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Der Tag hatte so vielversprechend begonnen. Aber dieser Zustand war schnell verflogen. Jo stieg aus dem Aufzug und sah sich vorsichtig um. Als sie niemanden erblickte, setzte sie sich zügig in Bewegung und ging zu ihrem Zimmer. Kurz schüttelte sie ihren Kopf über ihr mehr als nur auffälliges Benehmen, aber sie konnte einfach nicht anders. Es war schon fast ein Reflex geworden.

Denn Missy war heute da.

Diese Nachricht wurde ihr vorhin von Wanda mit Grabesstimme übermittelt, bevor sie sich in Richtung Trainingshalle geflüchtet hatte. Auch Pietros Schwester mochte die Blonde nicht. Sei es, weil sie Joannas Platz einnahm, oder aufgrund ihres Verhaltens. Welches man bestenfalls als arrogant bezeichnen konnte. Und da Pietro in dieser Hinsicht nicht mit sich reden ließ, ging Wanda der neuen Freundin ihres Bruders konsequent aus dem Weg.

Joanna bemerkte, dass sie Pietros Zimmertür angestarrt hatte und wandte sich schnell ab. Nicht das sie noch von dem blonden Paar erwischt wurde. Wenn sie gnädig wäre, dann würde Missy ihr nur einen Blick zuwerfen, welcher Triumph und Verachtung ausdrückte. Wenn nicht, dann würde sie etwas sagen. Oder sich Pietro an den Hals hängen.

Der Speedster hingegen würde Jo keines Blickes würdigen und wortlos an ihr vorbeigehen. Was viel schlimmer war als Missys Benehmen. Sie hatte schon gehofft, dass Pietros Erinnerung langsam wieder zurückkommen würde. Aber der eine Erinnerungsfetzen vor über einer Woche war der einzige geblieben. Eigentlich war er sogar noch abweisender ihr gegenüber geworden. Inzwischen war auch Missy ein häufiger Gast im Tower. Und da Jo nicht kindisch und eifersüchtig erscheinen wollte, schluckte sie ihre Beschwerden über die Anwesenheit ihrer Cousine hinunter.

Schnaubend wandte Jo sich ihrer Tür zu und wollte diese gerade öffnen. Da stutze sie. Ihre Zimmertür war nur angelehnt, obwohl sie diese fest verschlossen zurückgelassen hatte. Vorsichtig drückte sie gegen die Tür, sodass diese in ihr Zimmer aufschwang. Dann betrat sie den Raum, ging ein paar Schritte hinein und blieb wie angewurzelt stehen.

Auf dem Sofa, bequem in die Kissen gelehnt, saß Missy und wartete offenbar auf sie. Auf dem gelangweilten Gesicht ihrer Cousine zeigte sich ein arrogantes Lächeln, sobald sie Joanna erblickte. Sie hob ihre Füße und legte sie lässig auf den niedrigen Tisch vor sich. Dabei knirschte es leise, als sie diese ablegte.

Bei diesem Geräusch zuckte Jos Blick zu den Füßen der Blonden. Ihre Augen sprangen erschrocken auf, als sie einen Bilderrahmen erblickte. Dem Rahmen nach zu urteilen, war es das Foto, welches sie und Pietro nach ihrem ersten Date zeigte. Sie schnaubte wütend und stürmte auf Missy zu. Bei dieser angekommen, schubste sie deren Füße weg und griff nach dem Bild. Vorsichtig strich sie über das Bild und musste schwer schlucken, als sie die feinen Risse im Glas bemerkte, sowie die Schmutzflecken welche Missy hinterlassen hatte. Ihren Zorn unterdrückend sah sie zu der Blonden hinunter.

„Was glaubst du eigentlich, was du hier machst?"

Bei dieser Frage lächelte Missy nur träge, bevor sie aufstand und somit über Joanna aufragte.

„Ich wollte nur dich, meine liebe Cousine, besuchen." Erwiderte sie süßlich. „Immerhin sind wir Cousinen und gehören zu einer Familie."

Jo schnaubte nur. „Fein..." Sie sah zu Missy auf. „Jetzt bist du da. Und wie du siehst, geht es mir gut. Jetzt geh bitte." Anschließend wandte sie sich ab und ging von der Blonden weg, das Bild noch immer in ihren vor Wut zitternden Händen. Langsam atmete sie durch, um ihre Kontrolle wieder zurückzuerlangen. Es wäre jetzt nicht gut, wenn sie ausrastete. Sie blieb stehen, als sie erneut Missys Stimme hinter sich hörte.

„Oh nein meine Liebe... Dir geht es nicht gut, denn..." Da machte sie eine kleine Pause. Ihre Stimme klang dabei mehr als nur sehr zufrieden. „... denn ich habe deinen Freund." Wieder machte sie eine kurze Pause, bevor sie genüsslich weiter sprach. „Ein wahres Prachtexemplar. Hätte nicht gedacht, dass du es schaffst so einen Mann nur ansatzweise zu beeindrucken, geschweige davon das ihr tatsächlich ein Paar seid."

Jo hörte wie Missy sich ihr wieder näherte. Spürte wie die Blonde dicht hinter ihr stehen blieb. Nahm deren süßliches Parfüm wahr, welches sie schon immer verabscheut hatte. Einen Moment fragte Joanna sich, was Missy mit diesem Besuch überhaupt beabsichtigte. Was sie aber wusste war, dass Missy offenbar vergessen hatte, wie ihr letztes Treffen in der Schule abgelaufen war. Sie wandte sich um und sah wieder zu der Älteren hinauf.

„War es das jetzt?" Zischte Jo. „Du hast mir unter die Nase gerieben, dass du jetzt mit Pietro zusammen bist. Glückwunsch! Ihr wart sogar das Königspaar bei der Abschlussfeier! Besser geht es wirklich nicht." Gab sie sarkastisch von sich. „Genieße es, solange du noch kannst. Denn sollte der Fall eintreten, dass er sich doch noch erinnert, dann bist du weg!"

„Darauf würde ich nicht bauen!" Erwiderte Missy ungerührt. „Er hat mir von seinem Unfall erzählt. Auch davon, was die Ärztin gesagt hat. Je länger seine Erinnerung braucht um zurückzukehren, desto unwahrscheinlicher ist es. Du siehst..." Dabei beugte sie sich zu Joanna hinab. „... Ich werde hier noch lange herkommen und dir das Leben schwer machen." Flüsterte sie in Joannas Ohr. Dann sah sie Jo lächelnd an.

Ein Lächeln, welches verrutschte, als sie sah, dass Jo ebenfalls lächelte. Diese strich sich langsam eine Haarsträhne hinter ein Ohr und sah ihre Cousine abschätzend an.

„Du vergisst etwas Entscheidendes."

Missy schnaubte daraufhin nur. „Was?"

„Ich wohne hier. Meinem Vater gehört der Tower. Ich bitte ihn darum, dass du nicht mehr hier herein kannst. Dann muss ich dein Gesicht und deine Gegenwart nicht mehr ertragen." Bei ihren nächsten Worten sah Jo Missy genau ins Gesicht. Sie wollte jetzt deren Reaktion auf gar keinen Fall verpassen. „Und hast du vergessen, was damals in der Schule geschehen ist?" Jetzt flackerte so etwas wie Angst über Missys Gesicht. „Seitdem ist viel Zeit vergangen. Auf jeden Fall genug, um zu wissen, was ich machen muss, ohne jemanden dabei aus Versehen zu töten."

Diese Worte wirkten auf Missy offenbar wie ein Schlag ins Gesicht, sodass sie ein paar Schritte von Joanna zurücktaumelte. Dieses Mal schien sie tatsächlich Angst zu haben. Sie hatte ihr Gesicht verzogen und war ein paar Schritte von Jo weggegangen.

„Du würdest nicht..." Begann Missy mit zittriger Stimme.

„Wirklich?" Jo zog abschätzend eine Augenbraue hoch. „Willst du es wirklich darauf ankommen lassen? Willst du mich wirklich so weit provozieren, dass mir eine Sicherung durchbrennt?" Die Braunhaarige hielt kurz inne, bevor sie weitersprach. „Komm nie wieder in dieses Zimmer! Halte dich von meinen Sachen fern!"

„Pietro?"

Jo seufzte. „Pietro ist da schon etwas anders. Die Tatsache, dass er mit dir zusammen ist kann ich leider nicht ändern. So sehr ich es auch will. Aber komm mir nicht mehr in die Quere, sonst..." Den restlichen Satz ließ Joanna unausgesprochen zwischen ihnen hängen.

Aber Missy verstand auch so. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und stürmte zur Zimmertür, welche sie laut hinter sich zufallen ließ.

Sobald ihre Cousine den Raum verlassen hatte, atmete Jo erleichtert auf. Langsam ging sie zu ihrem Bett und ließ sich darauf fallen. Vorsichtig legte sie das kaputte Bild auf ihren Schoß und sah es lange an.

So lange, bis Tränen ihren Blick füllten und sie anfing zu schluchzen.

An ordinary extraordinary LifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt