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Bevor sie sich versah, stürzte Joanna und fiel auf ihre Knie. Brennender Schmerz zog durch diese und sie musste ein schmerzerfülltes Keuchen unterdrücken. 
Auf ihren Schmerzenslaut hin hörte sie ein hämisches Lachen. Und augenblicklich war ihr klar, weswegen sie gestürzt war. Missy Bedford, dass beliebteste Mädchen der Schule und zudem ihre Cousine, hatte ihr ein Bein gestellt. Missys Gefolge zeigte ebenso schadenfrohe Gesichter und auch sonst waren vereinzelte Lacher zu hören. Das kam davon, wenn man der unbeliebteste Mensch der ganzen High-School war.
Schnell sammelte Jo ihre herunter gefallenen Sachen auf und stand auf. Dabei strich sich eine durch den Sturz gelöste braune Haarsträhne hinter die Ohren. Sie warf einen schnellen Blick auf Missy, den diese gehässig erwiderte.
“Na Brillenschlange. Zu blöd um zu sehen, wo du hin gehst?“ Wie als ein Echo ihrer Worte erhob sich wieder ein Kichern. 
Die Braunhaarige blieb stumm, denn Widerworte würden ihr nur noch mehr Probleme bringen. Wobei auch das egal war, denn ihre Cousine würde schon eine Lüge einfallen, die sie ihrer Mutter präsentieren würde. Und diese hatte ebenfalls einen unerklärlichen Hass auf ihre Nichte. Trotzdem hatte sie Joanna nach dem Tod ihrer Mutter aufgenommen, da keine andere Familie vorhanden war. 
“Na, hat es dir die Sprache verschlagen? Man beantwortet Fragen die einem gestellt werden. Oder sind mit deiner Mutter auch deine guten Manieren gestorben?“
Jo verschlug es zuerst den Atem. “Wage es nicht meine Mutter da hineinzuziehen du Miststück!“ Während sie sprach, trat sie einen Schritt vor und blickte Missy wütend an.
Diese zeigte sich nur wenig beeindruckt und sah auf ihre kleinere Cousine. Diese war mit ihren eins fünfundsechzig zwar nicht übermäßig klein, aber gegen die Blonde mit ihrer Größe von eins achtzig kam sie nicht an. Und das bekam sie immer zu spüren. Das sie klein und unbedeutend neben ihrer schönen Cousine war. Unerwünscht und ungeliebt. 
“Ach, wir geben Widerworte. Wie mutig.“ Wieder folgte als ein Echo mehrstimmiges Kichern.
Jo wollte bereits zum Sprechen ansetzen, als die Schulglocke schlimmeres verhinderte. Sie drückte ihre Bücher fester an sich, drehte sich um und eilte zur nächsten Unterrichtsstunde. 
“Wir sehen uns Zuhause.“ Ertönte es nur noch schadenfroh hinter ihr.
Bei diesen Worten biss sie ihre Zähne nur fest zusammen und lief weiter. Sie fürchtete die Reaktion ihrer Tante, die sie oft wegen Nichtigkeiten bestrafte. Aber hauptsächlich dafür, dass sie Jo hatte aufnehmen müssen und deswegen das Geld als auch der Wohnraum knapp geworden waren. Selbst die heutige Testamentseröffnung würde wenig bringen, da Joannas Mutter wenig besessen hatte und das wenige für ihre Behandlung verwendet worden war. 
Tränen schossen Joanna in die Augen und sie bog schnell zur nächsten Mädchentoilette ab. Sie war eh schon zu spät, also könnte sie die restliche Stunde gleich hier verbringen. Zum Glück war keiner mehr in der Toilette, sodass sie gleich den Spiegel ansteuerte. Ihr Anblick führte nicht unbedingt dazu das sie sich besser fühlte. Eine Brille mit dickem Rahmen, die ihr ein Streberimage verlieh. Welches aber unberechtigt war, da sie keine gute Schülerin war. Die braunen Augen wirkten traurig in diesem blassen Gesicht, welches unter dem wenigen Makeup verblasste Veilchen aufwies. Hastig nahm sie ihre Brille ab, drehte den Wasserhahn auf und spritzte sich das eiskalte Wasser ins Gesicht. Sie blickte auf und sah, das durch die Kälte fast so etwas wie Farbe in ihrem Gesicht erschienen war. 
Sie lachte bitter auf. Dieses Lachen wurde schnell zu einem Schluchzen und sie sank weinend zu Boden. 
Ihre Mum fehlte ihr so.
Vor nicht einmal einem Monat war sie an einem aggressiven Gehirntumor verstorben. Sie hatte erleben müssen, wie ihre Mum in kürzester Zeit von einer lebenslustigen Person zu einem schmerzgeplagten Gerippe geworden war. So wie der Frühling alles hatte erblühen lassen, so war ihre Mum im Gegenzug immer mehr verfallen. Ein Schatten, der jeden Schmerz bis zum Schluss bewusst miterlebt hat. Seit der Beerdigung, die ein paar Tage darauf stattgefunden hatte, lief sie in diesem Zombiemodus und der Umzug zu ihrer Tante hatte es nicht besser gemacht. 
Heute sollte das Testament ihrer Mum eröffnet werden. Jo wusste nicht, was sie heute noch zu erwarten hatte. Sie rieb sich mit der Hand über ihre Augen. Mühevoll stand sie auf und sah wieder in den Spiegel. Sie zog eine Grimasse, als sie ihre verquollenen Augen sah. Das wäre jetzt ein gefundenes Fressen für Missy gewesen, wenn sie sie so sehen könnte. Schnell wusch sie sich das Gesicht und kühlte ihre Wangen.
Ebenso schnell holte sie eine Bürste aus ihrem abgewetzten Rucksack und zog diese durch ihre Haare. Der Termin war nämlich direkt nach der Schule angesetzt und für Fremde musste der Schein einer heilen Welt gewahrt werden. Lieber ihre Tante ertragen, als ins System eingespeist zu werden und in eine Pflegefamilie zu kommen. Sie würde zwar in wenigen Wochen siebzehn werden, aber bis zur Volljährigkeit war es immer noch etwas hin. 
Jo griff nach ihrem Abdeckpuder und behandelte schnell ihr ganzes Gesicht. Dann verstaute sie ihre Sachen schnell wieder und besah sich prüfend ihr Gesicht. Sie sah wieder fast wie sie selbst aus. Noch vor diesem ganzen Albtraum. Sie atmete tief ein und wandte sich zum Gehen um. 
Sie würde sicher nicht mit Missy auf ihre Tante warten, damit sie dann gemeinsam zum Anwalt fahren konnten. Das würde später zwar wieder für Ärger sorgen, aber sie wollte sich jetzt auf den Weg machen. 
Vorsichtig steckte Jo ihren Kopf aus der Mädchentoilette und blickte sich um. Es war weit und breit niemand zu sehen, sodass sie schnell den Raum verließ und sich zügigen Schrittes zum Ausgang begab. Auch sonst schien ihr heute jemand wohlgesonnen zu sein, da sie niemandem begegnete.
Schnell passierte sie die große Pforte und wurde vom üblichen New-Yorker Lärm empfangen. Sie atmete tief durch, bevor sie die Treppe hinunterlief und sich zur nächsten Bushaltestelle wandte. Die Kanzlei war nur wenige Blocks entfernt und es fuhr ein Bus direkt daran vorbei. 
Joanna musste rennen, da der Bus die Bushaltestelle anfuhr, als sie noch mehrere Meter von dieser entfernt war. Schnaufend stieg sie ein und blieb gleich stehen. Nach nur wenigen Minuten stieg sie wieder aus und sah sich um. 
Die Kanzlei “Barnes & Hughes“ sollte sich gleich in dem nächsten Gebäude befinden. Nach kurzem suchen hatte sie dieses dann auch gefunden und steuerte auf den Eingang zu.
Sie ging zur allgemeinen Anmeldung, nannte ihren Namen und ihr Anliegen. Dort wurde sie dann zu den Aufzügen verwiesen. In diesem drückte sie auf den Knopf für die zehnte Etage. Nachdem sich die Tür wieder geöffnet hatte, sah sie auch schon das Firmenschild der Kanzlei. Jo machte große Augen, da sie nicht erwartet hätte in eine so schicke Kanzlei zu kommen.
Auch hier ging sie wieder zur Anmeldung und sah sich einer freundlich wirkenden Empfangsdame gegenüber. Diese sah sie mit erhobener Augenbraue fragend an.
“Guten Tag. Mein Name ist Joanna Kingsley. Ich habe einen Termin bei Mr. Barnes zur Testamentseröffnung.“ 
Die Sekretärin grüßte zurück und blickte schnell in ihren Computer um den Termin einzusehen. 
“Guten Tag Miss Kingsley. Ich habe hier aber noch stehen, dass sie in Begleitung einer Mrs. Bedford erwartet werden.“ Sie sah fragend zu Jo.
“Meine Tante kommt noch. Sie holt bloß noch meine Cousine von der Schule ab. Ich konnte es bloß nicht mehr erwarten.“ Gab die junge Frau mit einem gequältem Lächeln von sich.
Daraufhin erntete sie ein nachsichtiges Lächeln der Frau. Diese erhob sich anschließend und ging auf die nächstliegende Tür zu. “Sie haben Glück. Mr. Barnes hat bereits jetzt Zeit, da eine Lücke frei geworden ist.“ Sie klopfte und öffnete diese, nachdem sie ein 'Herein' vernommen hatte. “Mr. Barnes ich wollte ihnen mitteilen das Miss Kingsley bereits anwesend wäre.“ Sie lauschte kurz. “Natürlich.“ Dann wandte sie sich an Joanna. “Treten sie bitte ein. Was darf ich ihnen anbieten. Kaffee oder Tee?“
Jo musste nervös schlucken, als sie sich in Bewegung setzte. “Einen Tee bitte.“ Sie trat in das Büro ein und die Tür wurde hinter ihr geschlossen. Sie blickte zu dem großen Schreibtisch und sah dahinter einen Mann mittleren Alters, der sie freundlich anlächelte.
Zögerlich setzte sie einen Schritt nach den anderen und ging zu dem Tisch. Barnes stand auf und umrundete seinen Schreibtisch. Er reichte ihr die Hand und gab ihr einen festen Händedruck.
“Es freut mich sie kennenzulernen Miss Kingsley. Selbst wenn es unter solch traurigen Umständen ist.“ Er deutete zu einem Sessel, der vor seinem Tisch stand. “Setzen sie sich, damit wir gleich beginnen können.“
Während sie sich setzte, sah Jo erstaunt auf. “Aber müssen wir nicht auf meine Tante als meinen Vormund warten?“
Der Anwalt wollte gerade antworten, als sie von seiner Sekretärin unterbrochen wurden. Diese brachte ein Tablett mit Getränken herein. Mit einem Lächeln stellte sie es auf dem Schreibtisch ab und reichte Jo anschließend ihre Tasse. Diese nahm sie mit einem “Danke.“ entgegen und nahm einen kleinen Schluck.
Nachdem sie wieder allein waren, setzte Mr. Barnes erneut zum Sprechen an. “Dem ist tatsächlich so. Aber es war der ausdrückliche Wunsch ihrer Mutter das sie beim ersten und auch wichtigsten Teil allein sind.“ Noch während er sprach, fing er an in einer Mappe etwas zu suchen.
“Warum?“ Entschlüpfte Joannas Lippen.
Er hielt kurz inne und sah hoch. “Wenn sie wünschen, können wir auch auf ihre Tante warten.“
“Nein!“ Das kam zu schnell und zu panisch über ihre Lippen, sodass sie sich schnell auf diese biss. Sie hoffte, dass der ältere Mann nichts von ihrem Unbehagen gemerkt hatte.
“Das Testament ihrer Mutter beinhaltet unter anderem einen Brief, der an sie adressiert ist. Sein Inhalt ist mir grob bekannt, da ihre Mutter mit mir darüber gesprochen hat.“ Er zog ein hellblaues Kuvert aus der Mappe und reichte es an Joanna.
Jo nahm es entgegen und betastete es vorsichtig. Es enthielt wohl mehrere Blätter Papier und auch einen harten Gegenstand. Sie drehte es um und blickte wehmütig auf die Handschrift ihrer Mutter, die ihren Namen bildete. Sie blickte zu dem ihr gegenübersitzenden Mann.
“Wann war sie hier?“ 
Barnes überlegte kurz. “Das muss im letzten Herbst gewesen sein.“
Tränen traten Jo in die Augen. Im Herbst ging es ihrer Mum doch noch gut. Die endgültige Diagnose war erst mit dem Wintereinzug gekommen. Aber anscheinend hatte ihre Mum bereits da eine Vorahnung gehabt. Sie drehte den Umschlag in ihren Händen und öffnete ihn vorsichtig. Er enthielt einen Brief, ein offizielles Dokument und als sie ihn umkippte, fiel ein Medaillon an einer Kette in ihren Schoß. Die Kette und das Dokument legte sie auf den vor ihr stehenden Tisch und faltete zuerst den Brief auseinander.
Sie atmete noch einmal tief durch und fing an zu lesen.

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