heute
HAILEES SICHT
Bienvenido a casa. Ich kichere und berühre das schwarze Schild an der Haustür, das vor dem imposanten Glaseingang hängt. „Das hat er doch gegoogelt", ich drehe mich grinsend zu Atlas, der seine weiße Reisetasche umklammert und dem Taxifahrer winkt, der uns vom Flughafen hergebracht hat. Mein Bruder hat extra eins mit getönten Scheiben bestellt, damit unsere Ankunft nicht auffällt. Natürlich hat das nicht geklappt, wir wurden bereits am Flughafen fotografiert und ein Reporter ist uns nachgerannt, sodass Atlas seinen Mantel über mich geworfen hat und meine Locken elektrisiert hat. „Natürlich hat er das, der Spinner", er lächelt und entspannt sich augenblicklich, als er die Schrift seines besten Freundes sieht. „Du hast ihn sehr vermisst", ich stupse ihn an und betrachte die weichen Gesichtszüge von Atlas, der sich seine braunen Strähnen aus dem Gesicht streicht und dann in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel greift. Schnell sperrt er die Tür auf und schiebt mich nach drinnen; ich ziehe meinen rot-gelben Koffer hinterher und umklammere die Träger meines Jutebeutels, den ich vor Jahren daheim bemalt habe. Daheim. In Mexiko. Oder ist Wisconsin mein Zuhause? „Wow, und wer wohnt dann unter uns?", erkunde ich den neuen Hausflur, der steril und teuer wirkt. „Ein junges Paar, beide Demokraten, haben wir schon recherchiert", versichert Atlas mir und läuft zielstrebig zu dem Aufzug, der gegenüberliegt. Ich folge ihm neugierig und erschrecke bei meinem Anblick in dem verglasten Spiegel: Ich wirke müde und abgekämpft. Mein Eyeliner betont meine Augenringe, meine Lippen wirken spröde und meine Locken durcheinander von dem achtstündigen Flug. Selbst auf meinem orangefarbenen Top sind noch ein paar Spritzer vom Salatdressing und meine Shorts wirken verknittert. Anders als Atlas, bei dem sein beigefarbenes kurzes Hemd, die graue Anzughose und die silberne Armbanduhr perfekt gebügelt wirken – er lächelt charmant, er hat sein Politiker-Gesicht aufgesetzt, und doch leuchten seine Augen warm. „Hails, ich war schon zweimal hier und habe mir die Wohnung angesehen. Sie ist perfekt für uns drei, sie ist sicher und die Reporter kommen dort nicht hin. Es ist alles in Ordnung", versichert Atlas' perfektes Spiegelbild mir, ich lächele ihn angespannt an. „Ich mache mir nicht um mich Sorgen, Mister Harper. Ich bin bloß das schwarze Schaf der Familie Harper, von mir wird nicht erwartet, dass ich das Familienunternehmen übernehme und ich stehe auch nicht unter Beobachtung, weil ich irgendwann die Präsidentin der USA sein könnte", ich sehe meinen Bruder an, der schluckt. „Du bist nicht – nicht für mich", verbessert er sich und greift nach meiner Schulter. Ich schmunzele und hüpfe hastig aus dem Aufzug, kaum öffnen sich die schweren Türen. Vor uns liegt ein leerer Flur, einzig allein eine Überwachungskamera hängt hier. Und vor der riesigen weißen Tür hängt eine bunte Girlande. „So viel Farbe hätte ich weder dir noch ihm zugetraut", murmele ich und ziehe meinen Koffer zur Tür, doch Atlas ist vor mir da und sperrt leise die Tür auf. Als er mich verschwörerisch anlächelt, weiß ich sofort, was er vorhat und beiße mir auf die Lippen. So vorsichtig wie möglich öffnet Atlas die Tür und lässt mich unter seinem Arm hindurch schlüpfen. Hier drinnen riecht es perfekt: nach Kakteen, Wein und Gewürzen. „Atlas? Hails?", ertönt eine tiefe, kratzige Stimme. Amüsiert gucke ich zu Atlas, der sanft die Tür hinter uns ins Schloss fallen lässt und lautlos aus seinen Puma-Sneakern schlüpft, um dann durch den Flur zu schleichen. Rechts an der Wand ist riesiger Schrank, in dem ich bereits ein paar Lederjacken und Mäntel erkenne; daneben ein riesiger Schuhschrank, bei dem einige Fächer leer sind. Links von uns befinden sich kahle Wände und eine geöffnete Tür, aus der ein Lichtspalt fällt. Sofort biegt Atlas dort ein, er war ja schon zur Besichtigung hier, und pirscht sich an. Ich schnüre hastig meine roten Boots auf und hüpfe barfuß und ohne Gepäck hinterher. Scheinbar handelt es sich hierbei um das Wohnzimmer: eine riesiges Sofa thront vor der Tür, ein leerer Wohnzimmertisch, Kartons, Regale und ein Flachbildfernseher befinden sich daneben. In der Mitte des Raums steht ein großer Glastisch mit vier nigelnagelneuen Stühlen, dahinter ist eine riesige Kochnische mit etlichen Schränken und alten Kartons – und Jesper Young. Gerade, als Atlas ihn fast erreicht hat, dreht er sich um und schreit auf. „Alter!", er lacht dunkel und die beiden fallen sich in die Arme, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Tatsächlich war Atlas erst vor einem Monat das letzte Mal in Milwaukee, um mit Jesper unsere Wohnung auszusuchen. Dann ist Jesper schon eingezogen, hat das meiste aufgebaut und in den letzten Tagen unsere Sachen angenommen und eingerichtet, während wir noch in Mexiko waren. Aber zugegeben, davor haben die beiden sich wirklich selten gesehen, weil wir seit fünf Jahren bei unseren Großeltern in Veracruz gelebt haben – die vierzehn Jahre davor hier in Milwaukee. „Hails! Wow, du bist ja groß geworden. Also für deine Verhältnisse, sonst bist du immer noch so winzig", begrüßt Jesper mich, als er sich von Atlas löst. „Atlas ist auch winzig", beschwere ich mich lachend und strahle Jesper an, meinen einzigen männlichen Freund; und einzigen neben Tori. „Neben mir schon", lacht er und kommt zu mir, um mich herumzuwirbeln. Bei ihm habe ich wirklich das Gefühl, dass er mich gleich zerquetscht, denn Jesper ist riesig: über einen Meter neunzig. Nach außen wirkt er wie ein Bad Boy mit seinem schwarzen Dutt, den dunkelblauen wachsamen Augen und dem morbiden Style aus T-Shirts, Rollkragenpullovern und schwarzen Boots, aber eigentlich ist er ein genauso großer Softie wie mein Bruder. Die beiden stehen sich nicht umsonst seit dem Kindergarten so nahe. „Neben dir wirkt jeder klein", merke ich an, als er mich absetzt und mir durch die Locken wuschelt. Als wir Kinder waren, wollte er mir immer die Haare frisieren und hat mir lauter knollige Dutts gemacht, bis er selbst lange Haare hatte. Dafür habe ich später seinen Style mit den Boots kopiert und ihn dazu gezwungen, mich auf ein Rock-Konzert mitzunehmen, weil Atlas zu spießig für so etwas ist. Er ist wie ein zweiter Bruder für mich – der Kumpel, nicht der Beschützer wie Atlas. „Nicht nur körperlich", witzelt Jesper und grinst überheblich, ich haue ihm genervt gegen die Oberarme und mustere den jungen Mann, der so viel älter und reifer wirkt als beim letzten Mal, als er uns in Veracruz besucht hat. „Ich glaube, dein Studium steigt dir zu Kopf", ziehe ich ihn auf und deute anklagend auf Atlas: „Und deines dir auch!" „Sagt die, die noch nicht einmal ein Ersti ist", merkt Jesper trocken an und klopft mir auf die Schultern, ich verschränke die Arme und versuche, böse zu schauen. „Jetzt mach Hails keinen Stress, Jes. Es ist vollkommen okay, erst mit neunzehn ein Studium zu beginnen", meldet sich Atlas zu Wort und schlendert zu uns, um sich dicht neben Jesper zu stellen. Sein bester Freund überragt ihn um fast einen Kopf, aber bei unseren mexikanischen Genen ist das auch kein Wunder. „Danke, Bruderherz", ich lächele ihn fröhlich an und versuche mich darauf zu fokussieren, dass das hier wirklich eine coole Erfahrung werden könnte. Online habe ich mir schon die Universität angeschaut und bin angenommen geworden; ich weiß nur nicht, ob es daran liegt, dass ich eine gute Journalistin bin, oder an meinem Nachnamen. „Jetzt verbündet euch nicht gegen mich! Wenn ich euch schon nicht vom Flughafen abholen durfte, habe ich extra veganes Sushi gekocht. Mit Avocado für Atlas und Mango für Hails", Jesper grinst stolz und deutet auf den eingedeckten Tisch, auf dem drei Weingläser stehen. „Und morgen gibt es Chili sin Carne, nehme ich an? Für dich?", Atlas schiebt sich die Hände in die Hosentasche und betrachtet Jesper. „Mal sehen. Oder willst du kochen?", fragt Jesper mich begeistert und wackelt mit seinen dunklen Augenbrauen. „Ja? Oder mit dir, das haben wir ewig nicht mehr gemacht", ich ringe mich zu einem Lächeln durch, auch wenn ich ein bisschen Panik bekomme. Nicht wegen Jesper, nein, sondern, dass mir das alles hier zu viel wird. Dass ich wieder zur Belastung werde und wieder zusammenklappe. „Dann kann es ja nur die beste chinesische Reispfanne der Welt werden, wenn meine Lieblingsmenschen sie zubereiten", strahlt Atlas und schiebt mich an den gedeckten Tisch. Möglichst fröhlich lasse ich mich auf den Stuhl am Kopfende fallen, damit die Männer sich anschauen können. „Nawww, ihr seid auch meine Lieblingsmenschen", ruft Jesper und eilt mit dunklen Kochhandschuhen und einem Teller an den Esstisch. Darauf stehen kleine Schälchen mit Soße, die mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, mich aber auch daran erinnert, dass ich mir seit heute Morgen nicht mehr die Zähne geputzt habe und noch immer das bittere Salatdressing aus dem Flugzeug schmecke. „Lüge nicht, Jes. Du liebst Atlas mehr als mich", ich strahle so breit wie möglich und greife hastig nach der Weinflasche, um sie zu mustern. „Ich kenne ihn länger. Besser, sagen wir besser", lacht Jesper und setzt sich breitbeinig. Atlas wirft ihm empörte Blicke zu, als er ihn scheinbar unter dem Tisch tritt. „Ihr habt all die Jahre täglich Videochats abgehalten", brumme ich und öffne gierig den Wein. „Ja, wir sind schließlich beste Freunde", mein Bruder räuspert sich und hält mir die Gläser hin, damit ich uns allen drei einschenke. „Seit dem Kindergarten", lächelt Jesper und greift dann nach dem Glas. „Auf alte Zeiten. Und darauf, dass ihr endlich wieder daheim seid. In Milwaukee", verkündet unser Freund und hält feierlich sein Glas mit Rotwein in die Mitte. „Auf uns drei und unser neues Zuhause", stimmt Atlas zu und sieht uns liebevoll an. Ich schlucke und räuspere mich: „Auf einen Neuanfang."
DU LIEST GERADE
shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...