Kapitel vierundzwanzig

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HAILEES SICHT


„Glückwunsch übrigens zu deiner Nominierung", Madison stößt mich in die Seite, als ich gerade die Plastikverpackung meines Glückskekses in den Mülleimer neben Frau Doktor Nelson werfe. „Du hast sie gesehen?", stoße ich hervor und lächele gezwungen. „Klar, dein Blog ist ja nicht komplett anonym", erwidert Madison und kramt in ihrer Handtasche nach einer Sonnenbrille, „außerdem bin ich Journalistin." „Uhhh, stimmt", kichere ich und sehe dann zu unserer Therapeutin, die sich neben uns schiebt. „Nominierung?", fragt sie mütterlich und verstaut noch ihre Sachen im Gehen in ihrer Handtasche. „Hailees veganer Food-Blog ist nominiert. Sie könnte als Influencerin nach Mexiko fliegen und dort zur Convention, wo zehn junge Menschen mit einer entsprechenden Reichweite ausgewählt werden", plappert Madison los und hilft Doktor Nelson beim Abschließen des Raums. „Wow, das klingt gut. Aber dann müsstest du dich auch als Blogbetreiberin präsentieren, oder?", hakt sie nach und lächelt mich verständnisvoll an. „Ja, ich müsste auf die Bühne, Videos und Interviews mitmachen und so weiter. Wahrscheinlich müsste ich live etwas essen oder kochen, schätze ich", seufze ich und spiele an meinen Armbändern. „Denkst du denn, dass du dazu bereit bist?", hakt Doktor Nelson nach und nickt Madison dankbar zu, als diese die Glastür vor uns öffnet, damit wir zu dritt in den Sommerabend schlendern. „Ich weiß es nicht. Ich schätze, dass ich das mit dem Blog könnte. Nur wäre dann alles anders, mein Bruder und ich wären noch größere Zielscheiben, aber wir könnten öffentlich an einem Strang ziehen. Und dann kommt natürlich noch dazu, dass ich nicht irgendwelche Fotos von mir auswählen kann, sondern in jeder Pose mit jedem Gesichtsausdruck abgelichtet werden kann. Und der Fokus auf meinem Mund läge, schließlich geht es ums Essen", denke ich laut und atme tief durch. Aus gutem Grund habe ich noch nicht wirklich mit Atlas und Jesper darüber geredet; sie haben gerade genug Stress mit den Spekulationen und dem Wissen unserer Eltern, das sie noch nicht für sich genutzt haben. „Was war denn dein erstes Gefühl dazu?", lässt Doktor Nelson nicht locker und fächert sich Luft bei der Hitze zu. „Ich habe mich geehrt gefühlt", ich lächele und blinzele in das orangefarbene Sonnenlicht. „Das ist auch sehr cool, Hailee. Das käme an unserer Uni bestimmt auch gut an", Madison lacht und applaudiert gespielt. „Ja, aber ich will dort erfolgreich sein, weil ich Hailee bin und nicht, weil ich eine Harper bin. Oder allein wegen des Blogs. Ich will eine gute Journalistin sein", ich atme tief durch und will mich auf die Bank fallen lassen, als ein Motorrad auf den Hof biegt. Ich grinse sofort, als ich die dunkle Kawasaki mit dem braun und grau angezogenen Kerl darauf erkenne. „Uhhh, ist das dein Freund?", neckt Madison mich und sieht mich begeistert an, woraufhin Doktor Nelson neugierig guckt. Zwar habe ich in der Gruppentherapie erzählt, dass ich eine Beziehung führe, aber nicht mit wem. Es ist Vincents Sache, schließlich kennen die meisten auch ihn und seine Geschichte. „Ja, du erkennst ihn aber gut", erwidere ich ironisch – dank Jespers Tipps – und strahle, als Vincent fünf Meter entfernt von uns hält und seinen Helm abzieht. „Oh, Vincent, hallo", Doktor Nelson strahlt und quiekt sogar leise. „Hallo, Doktor Nelson. Es freut mich, Sie zu sehen. Ich hole Hailee ab", erklärt er das Offensichtliche und reicht mir seinen Ersatzhelm, den ich bereits unzählige Male getragen habe. „Das freut mich so sehr für euch. Für euch beide", schmunzelt sie und verabschiedet sich dann herzlich, wir winken ihr alle drei. „Viel Spaß euch heute! Wir sehen uns dann bei deiner Aufführung am nächsten Freitag, Vincent!", zwitschert Madison und marschiert selbstsicher zu ihrem Wagen, der als einziger noch dasteht. „Was?", Vincent stöhnt auf, woraufhin ich kichere und ihm gegen den harten Brustkorb schlage: „Vinz, sei nett! Ich mag sie. Und Dylan ist noch immer in sie verliebt. Ist doch klar, dass er sie eingeladen hat." „Immerhin kommen meine Moms auch", brummt Vincent nur und schaut gequält. „Und Atlas und Jesper", grinse ich und ziehe mir den Helm über, um dann auf Vincents Maschine zu steigen und mich an ihn zu schmiegen. Zugegeben, ich schlinge meine Arme vielleicht etwas fester als nötig um ihn und bette meinen Kopf auf seine breiten Schultern, als er vom Hof rast und uns in die WG bringt. Nach Hause.

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