Kapitel einundzwanzig

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VINCENTS SICHT


„Vincent! Warte mal, Mann!", brüllt Dylan durch das Theater. Die meisten sind bereits weg, einzig allein Regisseur Gonzalez und die Techniker sind noch da, um sich auf die nächsten Tage vorzubereiten. „Was ist los?", ich drehe mich zu Dylan um und schlendere langsamer durch die Reihen, damit er mich einholen kann. „Wir sollten mal über die nächsten Szenen reden. Du weißt schon, unsere heißen Szenen", Dylan lacht dreckig und klopft mir auf die Schulter, die ich anspanne. Dylan und ich spielen wirklich sehr gut zusammen und haben heute nur Lob bekommen – unsere Chemie auf der Bühne passt und wir geben einander den Raum, um zu glänzen. Einzig allein unsere Liebesszenen hat unser Regisseur nicht umsonst aufgeschoben, weil ich ihn vor Wochen darum gebeten habe. „Ja, die ...", erwidere ich gedehnt und fahre mir durch die Haare. Dylan sieht mich forschend an und greift sich im Vorbeigehen noch zwei Flaschen Cola vom Tresen, woraufhin ich sogar grinsen muss. „Hör mal, Mann, ich merke, dass du da keinen Bock drauf hast. Und ehrlich gesagt habe ich mit Madison geredet, weil sie dich ja auch kennt ...", deutet Dylan langsam an und öffnet mir die Tür. Fuck. Gemeinsam schieben wir uns nach draußen in den Sommerabend, für den es noch ziemlich heiß ist. „Und was meinte sie?", presse ich heraus und sehe bewusst weg. „Dass du mir selbst sagen sollst, warum du so abweisend bist. Aber dass es nicht an mir liegt und dass du so etwas nicht magst", bei Dylan klingt das so simpel. So, als wäre das in einem Satz geklärt und als würde er kein Drama daraus machen wollen. „Stimmt. Es ist mein Problem und ich kümmere mich drum. Ich will nicht, dass unser Stück darunter leidet. Und auch nicht unsere ... Bekanntschaft", ich grinse Dylan so an, wie Hailee mich immer anlächelt. Wahrscheinlich sieht es bei mir eher aus wie bei einem Soziopathen, aber ich versuche es. Verdammt, ich dachte, ich könnte gut spielen. „Bekanntschaft? Alter, ich dachte, wir wären Kumpel. Wahrscheinlich sollten wir auch privat mal wieder was machen. Hast du Bock, dass wir morgen was unternehmen? Heute bin ich leider verabredet", Dylan kratzt sich an seinem kahlen Kopf und grinst mich dann verliebt an. Verwirrt drehe ich mich um und sehe Madison, die zu uns kommt und ihn lachend umarmt. Mir winkt sie zu und streift sich ihren Pony aus der Stirn: „Hi, Vincent. Wie cool, dass wir uns sehen. War ja länger nicht der Fall." Stimmt. Weil ich nicht mehr zu Therapie erscheine und es meide, Hailee abzuholen. „Ja, ich war ...", ich mache eine Handbewegung und mustere gerade Madison, als sie an mir vorbei sieht und winkt. Nicht schon wieder. „Atlas! Hi, oh mein Gott, wie schön, dich zu sehen", quiekt sie und flitzt los, um Atlas zu begrüßen. Moment. Verblüfft drehe ich mich um und sehe Atlas, der neben Jesper zu mir schlendert. „Hallo, Madison. Wie geht es dir?", erwidert Atlas förmlich und distanziert, woraufhin Jesper breit grinst. „He, Mann", sagt er dann zu mir; kurz wirkt er unsicher, was er tun soll. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hat er auf seinem Sofa geweint und ich habe mich getraut, ihn zu umarmen. Zwar habe ich beiden noch geschrieben und ihnen gratuliert, aber wir haben ein Treffen bisher nicht einrichten können. „He, Jes. Hey, Atlas", ich gehe zuerst zu Jesper, der mich anschaut und grinst, als ich ihn ungelenk umarme. Sofort schlingt er dankbar die Arme um mich und drückt mich einmal kurz und fest, dann klopft er mir auf die Schulter. Atlas beobachtet uns lächelnd und strahlt ebenfalls, als ich ihn zum ersten Mal umarme. Es fühlt sich bei beiden richtig an. Ungewohnt, aber richtig. „Ihr kennt euch?", fragt Madison dazwischen und kichert, als Dylan einfach den Arm um sie legt. „Ja, seit dem Kindergarten", gibt Jesper an, auch wenn ich amüsiert schaue: „Und sechzehn Jahren Pause." „Und über Hailee, oder? Sie meinte, ihr datet euch jetzt", plappert Madison los und lächelt in die Runde. Neben mir versteift Atlas sich und sieht flüchtig zu Jesper, der auf den Boden schaut. Und auch ich runzele die Stirn: „Wer?" „Na du und Hailee natürlich?", Madison lacht überfordert und deutet dann auf Atlas: „Oder geht es hier um dich und deinen besten Freund?" „Nein, natürlich nicht!", presst Atlas heraus und rückt von Jesper ab, der hastig den Kopf schüttelt: „Nein, wir sind Freunde und Kollegen." „Oh, schade. Ich hatte nach unserem Date den Eindruck, dass es deswegen kein zweites gegeben hätte", Madison zwinkert Atlas zu und kreischt, als Dylan sie packt: „Und ich dachte, ihr wärt nur essen gegangen?" „Genau wie wir, Dylan. Wir sind Freunde", brabbelt Madison weiter, aber ich blende sie aus. Sollen Dylan und sie alleine klären, was zwischen ihnen ist. „Fuck, wie geht es euch?", flüstere ich, als das Expaar außer Hörweite ist. „Es war schräg", murmelt Atlas und wirkt unsicher. Er zupft überfordert an seinem weißen Hemd und seiner beigefarbenen Shorts, die gebügelt wirkt. „Eigentlich wollten wir dich fragen, ob du mit uns etwas trinken gehen willst. Alkoholfrei natürlich. Es sollte um dich gehen und nicht um unsere Beziehung", Jesper spielt an seinen Haargummis und sieht zwar mir in die Augen, aber nicht Atlas, der noch immer verlegen wirkt. „Gerne. Auch wenn ich euer klärendes Gespräch nicht stören will", ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe zwischen meinen Freunden hin und her, die beide rumdrucksen. „Es tut mir leid", sagt Atlas tatsächlich sofort und fährt sich erschöpft über sein Gesicht, „ich hasse es, dass wir nicht mal mehr ausgehen können." „Ja, auf einmal fühlt es sich falsch und verboten an", stimmt Jesper ihm mit belegter Stimme zu und sieht sich prüfend um. „He, ihr habt ja mich als Anstandskerl dabei", ich grinse die beiden an und deute auf die Bars und Lokale, die in der Straße vor uns liegen, „wohin wollt ihr denn gehen?" „Such du etwas aus. Einfach etwas Simples, bei dem einen nicht die ganze High Society-Presse verfolgt", brummt Atlas und schiebt sich sofort seine Sonnenbrille aus den Haaren auf die Nase, damit man ihn nicht erkennt. „Okay, aber macht mich bitte nicht verantwortlich, wenn euch jemand erkennt. Und, wenn es scheiße ist. Ich kenne mich null aus", ich grinse die beiden zerknirscht an und marschiere los. Jesper läuft links von mir, Atlas rechts von mir. Wir reden eine Weile belanglos über das Theaterstück und darüber, dass Hailee daheim ist und sich um ihren Blog kümmert. Und doch ist es nicht ganz natürlich zwischen uns; so, als würden sie mir noch etwas verschweigen.

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