Kapitel zweiundzwanzig

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HAILEES SICHT


Gepostet. Innerhalb der ersten drei Minuten bekomme ich hunderte von Likes auf meinen neuen Post von der mexikanischen Burger-Bar, die im Stadtzentrum eröffnet hat – weil es dort jeden Burger in veganer und in Fleisch-Form gibt, habe ich mich dazu entschieden, einen Beitrag auf Instagram dazu zu veröffentlichen. Lächelnd klappe ich die gelbe Hülle meines Tablets zu und werfe mich stattdessen mit meinem Handy aufs Bett, um auf dem Bauch liegend die Kommentare zu lesen. Die meisten kommentieren ein paar begeisterte Emojis, bilden sich eine Meinung zur Speisekarte oder verlinken andere Lokale in Milwaukee, die ich testen soll. Einzig allein der oberste Kommentar irritiert mich:

Hola, es ist schade, dass du nicht mehr aus Mexicó postest. Gerade hier brauchen wir Stimmen gegen die konservativen Fleischesser. Deswegen haben wir dich, liebe Viva_la_comida, für die Convention nominiert! Junge Influencer*innen wie du können etwas ändern! Danke für deine Stimme, die du den Stimmlosen gibst

Neugierig klicke ich auf den Account der Convention, als meine Zimmertür aufgerissen wird: Atlas steht verschwitzt im Türrahmen und starrt mich schockiert an. „Oh mein Gott! Bist du verrückt geworden?! Ich dachte, ihr seid in der Bar!", schreie ich ihn an und richte mich auf. „Waren wir", er betritt einfach mein Zimmer und wirft sich auf meinen Schreibtischstuhl, der zu knarzen beginnt. Hinter ihm schiebt sich Jesper durch die Tür und setzt sich umständlich in meine Hängematte, während Vincent als Letzter reinkommt und sich vorsichtig zu mir aufs Bett gesellt, wo ich lächelnd seine Hand streife. „Okay, was geht hier ab?", ich puste mir eine Locke aus der Stirn und sehe die drei Männer forschend an, die noch mit ihren Sneakern und verschwitzen Shirts hier reingestürmt sind, als würde draußen die Welt untergehen. „Hast du die Fotos online nicht gesehen?", krächzt mein Bruder und wirft frustriert eine Lederjacke auf den Boden. Jesper grunzt wütend darüber und wippt in meiner Matte, woraufhin ich ihm warnende Blicke zuwerfe. „Nein? Wurde wieder irgendein Schwachsinn über euch veröffentlicht?", brumme ich und knirsche mit den Zähnen. Manchmal ist es schon schwierig, mich über die Presse aufzuregen, wenn es genau das ist, was ich ab Herbst studiere. Andererseits will ich politische Skandale aufdecken, will Tieren helfen und demokratische Werte vermitteln, nicht einfach nur Klatschblätter unterstützen. „Ja. Und jetzt kommen eure Eltern", Jesper lacht irre und wirkt durchaus betrunken. Verwirrt schaue ich zu Vincent neben mir, der schluckt: „Es ist wahr, eure Mutter hat vorhin angerufen. Atlas meint, eure Eltern haben sich für morgen Abend selbst zum Essen eingeladen." „Was? Hierher?", fiepe ich und kralle mich in meiner Bettdecke fest. Das hier war einzig allein unsere Wohnung. Unser Reich. Unsere Sicherheitszone. „Ja, wir sind sofort hergefahren. Immerhin durfte ich auf Vincents Motorrad mitfahren", klingt auch Jesper noch immer durch den Wind und kickt seine schwarzen Sneaker von den Füßen, um sich tiefer in meine Hängematte zu kuscheln. „Toll, Jes", stoße ich ebenfalls perplex hervor und starre an die Decke. An die weiße Decke. Ich merke erst, dass ich mir mit der Zunge über die Zähne fahre, als Vincent nach meiner Hand greift und sie fest umklammert, als hätte er Angst, dass ich abdrifte. Sein grüne Augen schimmern fürsorglich und eine Besorgnis flackert in seinem Blick auf, als er zu mir schaut. „Denkt ihr, ihr kommt klar?", er räuspert sich und sieht dabei aber noch immer mich an. „Keine Ahnung. Kannst du – entschuldigt, es ist deine Sache, Hails", stammelt Atlas und sieht mich fragend an. „¿Quieres que él esté aqui?", fragt er dann, als ich nicht reagiere und sofort verstohlen zu Vincent sehe. „Alter, sprecht Englisch!", meckert Jesper dazwischen und fällt fast aus der Hängematte, weil er so wild gestikuliert. Ich kichere und sehe dann Vincent an: „Willst du dabei sein?" „Hast du das gerade wegen Atlas gefragt?", grinst er mich frech an und streift mit seinem Daumen über meinen Handrücken. „Tatsächlich würde es mir etwas bedeuten, aber es ist vor allem eure Sache, ob ihr es vor unseren Eltern offiziell machen wollt", räumt mein Bruder ein und überschlägt geschäftlich seine Beine. „Wollt ihr denn?", ich lächele ihn aufmunternd an und ahne, was er sagen wird: nichts. Im Gegenteil, er zuckt nur mit den Schultern und sieht zu seinem besten Freund, der nachdenklich die Lippen spitzt und in die Luft starrt. „Und du? Willst du mich hier haben?", flüstert Vincent mir zu, als die anderen beiden nur schweigen. Ich nicke und rücke näher an ihn: „Will ich. Tut mir leid, dass ich nicht sofort gefragt habe. Das ganze Thema stresst mich und verunsichert mich, aber es liegt nicht an dir." „Ich weiß. Und ich bin da", raunt mein Freund und verschränkt lächelnd unsere Finger. Auch er scheint gedanklich woanders zu sein, aber gibt mir das Gefühl, hier zu sein. Und das ist gut. Denn trotz dieser ganzen Therapiesitzungen, Fortschritte und Positivität, die ich mir in den letzten Wochen hier in Milwaukee erkämpft habe, bin ich gedanklich nicht hier. Sondern drei verdammte Meter weiter im Bad und vor dem Spiegel, wenn ich an unsere Mutter denke.

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