VINCENTS SICHT
Ausnahmsweise bin ich nicht mit dem Motorrad gefahren und schon komme ich zu spät. „Das ist deine Schuld", schimpfe ich leise mit Sheera, die mich mit einem Stock im Maul angrinst. Sie läuft gemütlich neben mir über den Vorplatz vor dem Therapiezentrum entlang und spuckt mir den Ast vor meine Vans. Brummend kicke ich ihn weg und öffne meiner Hündin die Tür; hier im Flur ist es fast genauso heiß wie draußen. Doch Sheera, der alten Dame, scheint der Schatten gut zu tun und sie legt sich erst noch hin, bevor ich sie angeleint habe und mir mein Skateboard unter den Arm geklemmt habe – wenn ich ehrlich bin, war es meine eigene Schuld, denn ich war lange nicht mehr damit unterwegs, aber habe Hailee versprochen, dass wir skaten gehen. Kaum denke ich an sie, schnellt mein Puls wieder in die Höhe und mir wird viel zu heiß unter dem grauen T-Shirt. Wahrscheinlich kann ich froh sein, wenn ich keine Schweißflecken habe und die Leute da drinnen nur auf Sheera achten. Meine Hündin springt auf, als würde sie spüren, wie nervös ich werde, und quetscht sich zuerst durch die schwere Holztür, als ich sie öffne. Alle sind da, natürlich. Doktor Nelson steht in der Mitte, fächert sich mit der einen Hand am Saum des Kleides Luft zu und mit der anderen hält sie die Keksdose, die bald leer zu sein scheint. Noch viel interessanter ist aber, dass sie genau vor Hailee steht, die sich gerade lächelnd einen Keks schnappt. Würde mich Sheera nicht mit ihrem Schwanz anstupsen, würde ich wahrscheinlich immer noch dastehen und Hailee anstarren, die unter ihrem schwarzen geknoteten Hemd einen roten Bikini trägt, wenn mich nicht alles täuscht, dazu eine dunkle zerrissene Jeans mit Totenköpfen darauf und rote Flip-Flops, die den Blick auf ihr Sonnentattoo entblößen. An ihrer Stuhllehne hängt ein praller gelber Beutel, der mich lächeln lässt und viel mehr nach ihr schreit. „Vincent, da bist du ja", Doktor Nelson wird auf mich aufmerksam und lächelt mich an; und doch runzelt sie die Stirn und deutet auf den freien Stuhl neben Hailee. „Tut mir leid, ich – Sheera war heute sehr langsam", ich fahre mir durch die Haare und marschiere durch den Stuhlkreis zu Hailee, die mich anlächelt. Sofort seufzen alle entzückt auf und Brooklyn fragt leise, ob sie Sheera mal streicheln darf; ich zucke mit den Schultern und sehe zu meinem Golden Retriever, der sich auf Hailees nackte Füße legt und den Kopf auf den kalten Boden bettet. „Da hat wohl jemand eine Freundin gefunden", kommentiert Frau Doktor Nelson amüsiert und zwinkert uns zu, dann fragt sie Ivy etwas, was ich sofort ausblende. „Hi", wispert Hailee, als ich mich neben sie setze und noch mein Board unter dem Stuhl verstaue. Ihre Augen leuchten so wunderschön lebendig und während sie so wild blinzelt, fällt mir erst auf, dass sie ihre Augen dunkel umrandet hat und einen blutroten Lidschatten aufgelegt hat, der die gleiche Farbe ihrer Haare hat, vielleicht etwas dunkler. Zu meinem Erstaunen atme ich aus Verblüffung schwerer und nicht aus einem Trigger heraus. „He", ich grinse sie verkniffen an und verschränke die Arme vor der Brust. Wieso triggert es mich nicht? Stattdessen will ich nur näher zu ihr rutschen und sie fragen, wie ihr Mittag war, weil sie mir seit morgens nicht mehr auf meine Nachrichten geantwortet hat. Denn seit dem letzten Wochenende schreiben wir täglich mehrere Stunden am Tag; manchmal sind wir sogar gleichzeitig online, meistens dann, wenn Hailee einen neuen Post auf ihrem Food-Blog hochgeladen hat und ich sie dann abpasse – es ist armselig, ich weiß. Vor allem dafür, dass ich einundzwanzig Jahre lang kein Social-Media gebraucht habe und jetzt mehr Zeit auf meinem Instagram-Account verbringe als mit dem verdammten Skript, das ich auswendig lernen muss. Und anstelle des Theaters am Abend steht jetzt ein Filmabend mit Hailee; die ersten drei Teile von Ice Age haben wir bereits am Samstag, Sonntag und Mittwoch geschaut. „Wie oft kommst du noch her, Vincent?", spricht mich auf einmal Madison an. Scheiße, sie habe ich echt verdrängt. Sofort ist es still und Ivy hört mit ihrem Bericht auf; ich puste mir eine Strähne aus der Stirn und sehe Madison eiskalt an: „Weiß noch nicht, kommt drauf an, wie oft ich hier noch gebraucht werde. Oder im Theater." Madison lächelt nur und nickt wissend, aber nicht mitleidig. Also haben Dylan und sie nicht über mich gesprochen. Hoffe ich. „Du brauchst die Gruppe also gar nicht mehr?", fragt Brooklyn traurig dazwischen und umklammert ihre dünnen Handgelenke. „Nein, ich hoffe nicht. Ich meine, sicher, manchmal wache ich morgens auf und fühle mich nicht geheilt, aber ich schaffe es, abends mit einem besseren Gefühl einzuschlafen. Trigger gibt es immer noch, da kann ich euch nichts vormachen. Aber gerade in letzter Zeit kann ich gut mit ihnen umgehen. Zwar erwischen sie mich kalt, aber ich merke, dass ich stark geworden bin", höre ich mich sagen und fixiere die junge Brooklyn, die mich hoffnungsvoll ansieht. Besser gesagt will ich für jemanden stark sein. Damit sie mich nicht mitleidig ansieht, während des Films weiterhin nach meiner Hand greift oder sich an mich lehnt. Doch ich schlucke den Kloß in meinem Hals runter und versuche nicht darauf zu achten, wie sehr meine linke Seite heiß wird, nur, weil ich Hailees Präsenz neben mir spüre. Und ihre Blicke. „Bist du für dich selber stark oder für andere?", ertönt auf einmal Hailees warme und sanfte Stimme. Blinzelnd drehe ich mich zu ihr und schaffe es kaum, ihr in die Augen zu sehen: „Ich versuche es für mich zu sein, aber du hast recht, oft schiebe ich noch meine Eltern als Grund vor." Und jetzt dich. „Mir geht es auch so, ich will auch für meinen Bruder genesen. Und ich glaube, auch meinetwegen. Es nervt mich selbst, wenn ich nochmal zurück ins Bad renne, um in den Spiegel zu schauen, vor jedem Unwetter eine Zahnbürste einstecke, weil ich nicht weiß, wann ich zurückkomme, über jedes Essen nachdenke und manchmal nicht einmal ausgelassen lachen kann. Oder jemanden küssen kann, auch wenn mir der Gedanke längst nicht mehr so viel Angst macht", gesteht Hailee und lächelt mich an. Breit, sogar mit ihren weißen Zähnen. Ich wünschte, sie würde es sehen. „Denkst du, du könntest jemanden küssen, Vincent?", zwitschert Madison, als ich Hailee anstarre. Sofort löse ich mich aus der Starre und knete meine Hände in meinem Schoß: „Wird sich zeigen. Wie gesagt, ich will nicht mehr von der Vergangenheit beherrscht werden. Meine Zwänge habe ich abgelegt, hoffentlich auch die Erinnerungen." Verdammt, das war mehr, als ich preisgeben wollte. Aber Hailee hat mich eben schon kalt erwischt und Madisons dämliche Frage hat mich verunsichert, weil ich wusste, dass Hailee diese Antwort braucht. Doktor Nelson lächelt mich stolz an, als sich unsere Blicke kreuzen: „Das sind starke Worte für deine letzte Sitzung, Vincent. Habt ihr noch Fragen?"
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...