HAILEES SICHT
„Hola muchachos", ich springe lachend in Atlas' Zimmer, aus dem laute Musik kommt. Jesper hat scheinbar das Kommando übernommen, denn es läuft ein Song von Måneskin, der so laut ist, dass die beiden mich anfangs nicht hören. Mein Bruder kniet mit einem engen T-Shirt, das nach oben rutscht, am Boden und schraubt angestrengt ein Regal zusammen, während Jesper seine langen schwarzen Strähnen aus dem Dutt fallen und er mit der Hüfte wippt, während er ein Brett festhält und lauthals mitsingt. Kichernd greife ich in die Einkaufstüte, die ich unter dem Arm habe, und werfe Atlas mit einer Packung Reiswaffeln ab, die ich ihm mitgebracht habe. „He! Du hast den Song unterbrochen!", beschwert Jesper sich und stellt aber von sich aus die Musik leiser. Sofort dreht auch Atlas sich um und lächelt mich an: „Wie war die Therapie?" „Gut, ich war einkaufen und habe noch die Zutaten fürs Essen gekauft. Jes, wollen wir dann das Chili zusammen kochen?", weiche ich aus und winke mit dem schweren Papierbeutel, den ich an mich drücke. „Klar, aber wir können auch die Reispfanne machen, wenn du willst", er zuckt mit den Schultern und wirft Atlas den Schraubenzieher zu, um dann mit mir das Zimmer zu verlassen. „Ne, das passt heute irgendwie nicht", lehne ich ab und flitze in die Küche vor, um endlich den Einkauf abzustellen und verteile die Zwiebeln, Knoblauchknollen, frischen Bohnen und Schoten sowie die Maisdosen auf der großen Arbeitsfläche. „Wieso nicht? Wieso willst du deine Leibspeise nicht kochen?", bohrt Jesper natürlich nach und bindet sich seinen Dutt neu. „Weiß nicht, heute war einfach nicht der perfekte Tag", ich lächele ihn breit an und mache mir dann auch einen Dutt, für den ich mehrere Anläufe brauche. „Du weißt, dass du es einem von uns eh sagen musst", Jesper tippt mich mit einem Schneidebrett an und schnappt sich dann pfeifend die Zwiebeln, um sie zu schneiden. „Und ihr redet sowieso drüber, weil ihr über alles redet. Es fehlt nicht mehr viel und ihr geht zusammen duschen und aufs Klo", kichere ich, bis ich wieder ernst werde. Daran denke, was Vincent über das Duschen gesagt hat. Sein Duschen. Nein, stopp. Ich sollte nicht darüber nachdenken, dass er auch eine Störung hatte. Und dass – nein, das ist schäbig. „So ein Quatsch", Jesper lacht rau und schnieft dann, als er die Zwiebel aufschneidet. „Was?", ich schaue zerknirscht zu ihm, als ich mir den Knoblauch und eine Presse schnappe. Inzwischen kenne ich mich gut in unserer Küche aus, schließlich ist sie der einzige Ort, den nicht ich eingerichtet habe: Mein Bad habe ich gestern Abend dekoriert und mein Zimmer wollte ich heute in mein Reich verwandeln. „Du warst also in Gedanken. Bei einem Typen?", witzelt Jesper und wirft sich ein paar Stückchen in den Mund, woraufhin ich rot anlaufe. Mierda. „Oh mein Gott! Atlas! Hails hat –", schreit er los, ich rase zu ihm und halte ihm lachend den Mund zu, wobei mich sein Dreitagebart an der Hand kratzt. „Jes! Sei leise! Nein, so ist es nicht", zische ich ihm zu und lasse ihn los. Er wackelt mit den Augenbrauen und legt alles zur Seite. Ich beiße mir auf die Lippen und knete nervös meine Finger. „Nein, ich – es ist nicht wichtig", murmele ich und betrachte meine bunten Nägel, die viel zu gut zu dem bunten Treiben in meinem Brustkorb passen. „Was ist nicht wichtig?", natürlich ist Atlas trotzdem gekommen und wäscht sich am Spülbecken die Hände, die nach Holz und Späne stinken. „Ich wollte gerade ein ernstes Gespräch mit deiner kleinen Schwester über Typen führen. Ich bin Profi", meckert Jesper und verschränkt die Arme. „Für Typen?", necke ich ihn und schmunzele. „Nein! Für Frauen", Jesper räuspert sich und reicht Atlas auch ein Brett zum Schneiden. Mein Bruder runzelt nur die Stirn und nimmt dann schweigend seine Aufgabe an – er hasst es zu kochen. „Ach ja? Du und Frauen?", hake ich neugierig nach. Zwar habe ich mich oft in den Videochats von Atlas und Jesper dazugesetzt oder mich im Hintergrund in Atlas' Bett gekuschelt und eine Serie geschaut, als ich nicht allein sein wollte, aber habe nie aufgeschnappt, dass die beiden über so etwas geredet hätten. „Ja, ich hatte schon ein paar One-Night-Stands und Affären", Jesper versucht stolz zu klingen, aber irgendwie klingt es deprimierend. „Aber nie eine Freundin?", frage ich langsam nach und presse angestrengt den Knoblauch aus, wobei der leckere Geruch sich im ganzen Esszimmer ausbreitet. „Nein, hatte er nicht", antwortet Atlas stattdessen und zerhackt die Chilischoten. „Ja, hätte ich aber gerne gehabt. Es hat halt nicht gepasst, außerdem musst du dich nicht aufspielen, deine letzte Beziehung ist Jahre her", zischt Jesper Atlas an, der sofort aufhört zu hacken. Verwirrt sehe ich zwischen den beiden hin und her. „Ich rede nicht vor Hails über so etwas", presst mein Bruder raus und starrt an die Küchenleiste. „Hallo? Ich stehe hier. Und ich will mit dir über so etwas reden, Atlas. Du weißt auch, was mit Juan war", würge ich den Namen meines Exfreundes heraus. Noch immer hat er einen bitteren Beigeschmack, aber langsam schaffe ich es, danach nicht das Bedürfnis zu haben, mir den Mund auszuspülen. „Ja, das war etwas anderes, das war toxisch", schneidet mein Bruder mir förmlich das Wort ab und reicht mir genervt die fertigen roten Stückchen. „Na und? Ich weiß nichts über dein Liebesleben, Bruderherz. Ich weiß nur, dass du deine erste und einzige Freundin mit siebzehn oder achtzehn hattest. Das ist drei, bald vier Jahre her", bleibe ich diesmal dran. Als wir in Veracruz gelebt haben, hat er jedes Mal abgeblockt, weil wir in dem Haus unserer Großeltern waren und sie hätten etwas hören können. „Alter, das ist echt lange her. In der Zeit hattest du echt keinen Sex mehr?", fragt Jesper dazwischen, woraufhin mein Bruder nur rot wird. „Nein, das muss nicht sein. Ich arbeite viel, lange und hart. Ich habe Verpflichtungen und Ansprüche an mich selbst. Das Studium, die Politik und Reporter die ganze Zeit, dann noch unsere Eltern, die mir mit dem Unternehmen im Nacken sitzen und dann ging es Hails nicht gut ...", stammelt er und zupft an seinem Shirt herum. „Du musst nicht meinetwegen aufs Dating verzichten", widerspreche ich sofort, auch wenn ich nervös werde. Ich will keine Last für ihn sein. Niemals. „Das ist nicht nur deinetwegen, Hails. Ich brauche einfach keine Beziehung, jedenfalls nicht aktuell. Das damals war nett und ich will auch später heiraten und Kinder, aber ...", mein Bruder atmet tief durch und fährt sich durch die dunklen Haare, die ihm verschwitzt vom Aufbauen in die Stirn hängen. „Aber so lange? Wirklich?", ich schaue bedrückt und schaue hilflos zu Jesper, der in die Luft starrt. „Es ist ja nicht so, als gäbe es viele Frauen, die Verständnis für meine Situation hätten und gleichzeitig mit dem öffentlichen Leben vertraut sind. Und zufälligerweise auch liberal, links und demokratisch eingestellt sind, am besten noch vegan und auch mexikanisch", Atlas schnaubt und klopft sich die Hände an der Hose ab, „ich sollte die Möbel aufbauen." „He, ist es dir unangenehm? Bro, das muss doch nicht sein", meldet sich Jesper endlich wieder zu Wort und will ihm die Hand auf die Schulter legen, doch Atlas schüttelt ihn ab und marschiert aus der Küche, wobei er murmelt, dass er wieder den Schrank bearbeitet. „Das ist wohl kein guter Zeitpunkt, um ihm zu sagen, dass eine Madison aus der Therapie mich auf Atlas angesprochen hat", flüstere ich und weiß nicht, wieso ich es Jesper sage. Ich muss mit jemandem darüber reden, denn ich mag Madison: Sie ist cool, sie ist selbstbewusst und studiert bereits seit einem Jahr auch an der Uni Journalismus. Nur will ich nicht, dass sie mich mag, weil Atlas mein Bruder ist. Als ich genau das Jesper sage, umarmt er mich: „Sie mag dich bestimmt deinetwegen. Du bist ein super cooler Mensch, Hails. Und falls sie dich ausnutzen sollte, trete ich ihr in den Arsch." Gerade will ich etwas erwidern, da lässt Jesper mich los und funkelt mich an: „Gib mir ihre Daten, dann suche ich sie. Wir sollten sie abchecken, bevor du mehr mit ihr redest. Oder, noch schlimmer, du sie mit Atlas verkuppelst!" „Ich dachte, du findest, Atlas sollte mal wieder jemanden daten", ich runzele meine Stirn und wische Jesper ein paar Krümel von seinem Totenkopfshirt. „Ja, aber nicht – egal, ich hatte zu wenig Kaffee. Erzähl lieber von diesem Typen, der dich hat rot werden lassen", Jesper knufft mich in den Oberarm und greift nach einem Topf. „Ich weiß nicht", ich lache unbeholfen, auch wenn ich genau spüre, dass ich lüge. Ich weiß, dass da etwas ist. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ich mich schockverknallt habe. Oder schock-neugierig wurde. Vincent ist viel zu attraktiv. Viel zu mysteriös, viel zu düster und viel zu charismatisch, um nicht Herzrasen zu bekommen und ihn anstarren zu müssen. Und ich könnte schwören, dass ich diese unglaublichen dreckig-grünen Augen schon einmal irgendwo gesehen habe. Nicht so traurig und kalt wie heute, anders. Fröhlicher. Glücklicher.
Summend stelle ich meine rote Zahnbürste wieder in den Becher, den ich mir in Veracruz am Día de los Muertos gekauft habe und betrachte mich müde im Spiegel. „Hailee!", übertönt Atlas meine Musik. Seufzend schalte ich den Song von Little Mix ab und öffne die Badezimmertür, die zu meinem Zimmer führt. Mein Bruder steht bereits in meinem Zimmer und knetet seine Hände vor dem Bauch. Skeptisch schaue ich ihn an und dann zur Zimmertür, die er verschlossen hat. „Ja? Worüber willst du reden?", ich lächele ihn an und schalte im Bad das Licht aus; mein Handy stöpsele ich noch hastig an der Steckdose an, bevor ich mich auf mein Bett werfe und ein gelbes gestreiftes Kissen auf meine nackten Beine lege. Mein blutrotes Nachthemd reicht mit gerade so bis zur Mitte meiner Oberschenkel, weswegen mich Atlas beim Kauf damals schräg angeguckt hat. Auch jetzt schmunzelt er nur matt und setzt sich dann langsam auf die Bettkante; er trägt bereits auch eine Boxershorts und ein hellgraues T-Shirt. Nachdenklich schaut er sich mein Zimmer an und lächelt, als er den Kaktus mit dem Cowboyhut auf der Fensterbank entdeckt. Ein paar Girlanden habe ich auch schon aufgehängt, genau wie einen riesigen Traumfänger; auf dem Schreibtisch habe ich bisher nur meine Sammlung an Kerzen und Edelsteinen ausgebreitet. „Ich wollte mich für vorhin entschuldigen. Irgendwie war ich schroff und neben der Spur", brummt Atlas und fährt sich erschöpft über sein kantiges Gesicht. Nur der Blick durch seine braunen Augen ist so unfassbar weich und verletzlich sowie beruhigend zugleich. „Wieso? Atlas ... ich weiß, dass wir selten über so etwas reden, aber – ich liebe dich, immer. Bedingungslos. Und wenn es etwas gibt, über das du reden willst, dann kannst du das mit mir", wispere ich und rücke näher an ihn. Mein großer Bruder zuckt zusammen und schüttelt dann langsam den Kopf: „Was meinst du?" „Wenn ... wenn du nicht an Frauen interessiert bist, ist das okay –", setze ich an, da schüttelt Atlas bereits den Kopf: „Ich bin nicht schwul." „Okay. Und wenn du asexuell oder aromantisch bist oder auch im a-Spektrum wie ich, dann ist das völlig in Ordnung", verspreche ich ihm und rutsche an ihn heran, um meinen Kopf auf seine Schulter zu betten. Sofort legt er den Arm um mich und atmet tief durch: „Bist du dir überhaupt sicher, dass du demisexuell bist? Ich meine, dass du wirklich eine emotionale Bindung zu einem Mann brauchst, bis du mit ihm schlafen kannst? Und dass das nicht an deinem Zwang liegt? Wie geht es dir damit überhaupt?" „Atlas! Wir reden jetzt nicht über meine Zwangsstörung, die quasi der Vergangenheit angehört. Ich meine, ich denke manchmal noch drüber nach, aber ich kontrolliere sie. Mir geht es gut. Und ich weiß es nicht. Für mein erstes Mal wünsche ich mir einfach einen Typen, dem ich vertraue. Der mich nicht verurteilt, weil ich noch Jungfrau mit neunzehn bin. Der mich nicht unter Druck setzt und nicht wie Juan ist. Und einen, der am besten selbst auch nicht so viel Erfahrung hat", ich seufze und merke, wie mir Tränen in die Augen schießen. All meine Wünsche sind so unrealistisch. So jemanden zu treffen ist unmöglich. Und dann müsste ich demjenigen auch noch von meiner Störung erzählen und auch damit müsste er umgehen können. „Und ich muss ihn mögen", Atlas lacht leise, „im Ernst, Hails, du wirst denjenigen finden. Es gibt mit Sicherheit mehr junge Männer, als du denkst, die noch Jungfrauen sind oder wenig Erfahrung haben. Und vor allem wird es mindestens einen geben, der dich genauso intensiv, tief und leidenschaftlich liebt wie du ihn. Er wird dich schätzen und respektieren und in allem unterstützen." Jetzt weine ich wirklich und verberge mein Gesicht an Atlas, der mir durch die Haare streicht. „Du wirst auch eine finden, die dich liebt. So sehr, wie ich dich liebe", verspreche ich ihm und umarme ihn fest. Atlas lacht erstickt und lässt sich mit mir im Arm nach hinten aufs Bett fallen. Fragend sehe ich zu ihm hoch und stütze mich neben ihm auf meinem Kissen ab: „Was?" „Ich weiß nicht, ob mich nochmal jemand so tief liebt wie du. Oder Jes", flüstert Atlas und starrt an meine Zimmerdecke. „Man kann nicht anders. Du bist der beste Mensch der Welt, Bruderherz", ich lächele ihn müde an und greife nach seiner Hand. Er verschränkt unsere Finger und schüttelt den Kopf, aber lächelt verlegen. „Du kannst genauso wenig wie ich einsehen, dass du geliebt wirst", rutscht es mir heraus, doch mein Bruder sieht mich nur dunkel an und schluckt: „Scheint so, als müssten wir das zusammen lernen."
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...