HAILEES SICHT
Mein Herz klopft wie verrückt, als ich auf die Uhr schiele. Ich bin sieben Minuten früher als verabredet vor dem unscheinbaren Theater, dessen Adresse Vincent mir geschickt hat. Weil Jesper Atlas eh vom Gym abholen will, hat er mich hier abgesetzt – und ganz ehrlich, es ist mir lieber, dass es Jesper war, der zwar peinliche Witze gemacht hat, aber nicht vorher das ganze Theater inspizieren wollte. Stattdessen hat er scherzhaft gefragt, ob ich noch Kondome bräuchte – bei dem Gedanken lächele ich nur peinlich berührt und spiele an meinen Armbändern, ohne die ich mich nackt fühlen würde. Just in dem Moment wird die Tür aufgerissen und ich weiche automatisch zurück, um hinter die Hausecke zu treten. Zum Glück, denn vor meine Nase schiebt sich ein Buzzcut mit einem grauen engen T-Shirt, unter dem Tattoos zu erahnen sind. Dylan von der Party, der Ex von Madison. Dass sie mich nach der Party nicht heimgefahren hat, nehme ich ihr nicht übel; mich stört es eher, dass sie so mit Atlas und Dylan gleichzeitig flirtet, aber vielleicht habe ich auch eine zu perfekte monogame Märchenvorstellung. Auch wenn Vincent bisher einen Großteil dieser Vorstellung erfüllt. Sofort lächele ich und beiße mir auf die Lippen, um mich zu beruhigen. Dann traue ich mich, wieder ums Eck zu biegen und vorsichtig ins Innere des Gebäudes zu schauen: Vor mir steht ein geschlossenes Kassenhäuschen, das mit einem edlen roten Band abgesperrt ist. Gegenüber entdecke ich einen Tresen mit kleinen roten Retro-Schildchen, die an dem dunklen Holz befestigt sind und Auskunft über die Preise von Popcorn, Nachos und Cola geben. Es ist nicht lange still, dann höre ich hinter mir zwei Stimmen. Eine, bei der ich viel zu sehr lächeln muss und mich an die schwere Holztür pirsche, um meinen Kopf nach drinnen zu stecken. Vincent steht selbstbewusst auf der Bühne, ein zerknittertes Skript in der Hand, rauft sich die Haare und lässt sich dann theatralisch auf die Knie fallen. Vor ihm in der ersten Reihe sitzt ein Mann mit dunklen Dreadlocks, die ihm zu Berge stehen und fast Vincent verdecken. „So ist das Leben, mein Junge", spricht der Mann mit einer klaren Stimme scheinbar den Text und klingt dabei eher wie ein Erzähler. „Nein. So ist es nicht. So war es", Vincent schluchzt auf und beginnt zu zittern. Sein Beben wandelt sich in ein Schütteln, ein Knurren, dann ein Schreien. Es ist, als würde seine Seele seinen Körper verlassen wollen und ihn an sich ketten. Genau wie sein Spiel mich fesselt. Die Art, wie er spielt. Wie er die Szene lebt und einem Charakter Leben verleiht. Wie er diese Maske trägt, von der er mir auf dem Dach erzählt hat. Ich sehe sie. Sehe ihn. Mit Maske. Und ohne. Ich merke erst, dass ich weine, als jemand mir ein Taschentuch hinhält. Perplex blinzele ich und starre in ein rundliches Gesicht, das von wilden Locken umrahmt wird. Der Mann von eben steht mir jetzt gegenüber und hält mir ein weißes Taschentuch hin, das in dem spärlichen Licht der Scheinwerfer noch greller leuchtet. „Oh, danke", ich greife hilflos danach und tupfe mir möglichst würdevoll über die Augen, die ich heute extra mit meinem teuersten Eyeliner und leuchtend gelber Farbe umrahmt hatte, was jetzt wahrscheinlich wie ein verweintes Desaster aussieht. „Nichts zu danken. Ich danke dir, dass dir mein Stück so gut gefällt. Und das, obwohl du nur die letzte Szene gesehen hast", er zwinkert mir zu und dreht sich dann zur Bühne, auf der Vincent wie eine gebrochene Marmorfigur kniet und die Augen geschlossen hat. Als er sie öffnet, sehen wir uns direkt in die Augen. „Soll ich abschließen, Vincent? Du hast doch den Schlüssel, oder?", ruft der Mann ihm zu und greift in die Taschen seiner bunten Schlaghose, die aussieht, als wäre sie aus den Achtzigern. „Danke, Mister Gonzalez", Vincents Stimme klingt dünn und angestrengt, als er zum Abschied die Hand hebt und langsam zum Rand der Bühne rutscht. Kaum wendet sich der Regisseur, nehme ich an, dem Gehen zu, husche ich über das Parkett zur Bühne, die mir fast bist zur Brust reicht. „Hi", ich lächele Vincent nervös an und wische mir noch einmal über die Augen, die sich feucht anfühlen. „He, Hails", er schmunzelt erschöpft, auch wenn seine khakifarbenen Augen leidenschaftlich leuchten. „Das war wunderschön", murmele ich und greife nach seiner Hand, die auf dem Holz liegt. Vincent verschränkt unsere Finger miteinander und rutscht dann auf Knien näher an den Rand, um mir auch seine zweite Hand zu reichen. „Es ist komisch, dass du das gesehen hast. Es war nur eine Szene alleine, ich meine, eigentlich hätte Dylan noch sterbend neben mir gelegen", winkt er ab und nimmt mir erst meinen schweren Jutebeutel ab, dann zieht er mich an meinen Armen nach oben und umfasst sanft meine Taille, als ich mich nicht alleine nach oben auf die Bühne ziehen kann. „Du hast alleine schon so viel Eindruck gemacht. Du hast alles gegeben und so viel erzählt. Du hast nämlich verdammt viel zu erzählen, Vincent Sawyer", ich lächele ihn dankbar an, als er mich noch immer festhält und sich dann hinstellt, sodass er mich wieder überragt. „Du auch, Hailee Harper. Oder lieber nur Hails?", fragt er sanft und hebt seine Hände, um mit ihnen in der Luft zu verharren. Sein Atem geht schneller und sein Blick wird unsicherer, als er mein verweintes Gesicht scannt. „Hails klingt gut. Vor allem, wenn du es sagst", wage ich mich weiter nach vorne und mache ebenfalls einen winzigen Schritt auf ihn zu. Jetzt lässt Vincent endlich seine linke Hand in meine Locken gleiten und wischt mir mit seinem rechten Daumen eine Träne von der Wange. Mich würde es nicht wundern, wenn es das nächste Mal zischt, weil mir so kochend heiß ist. „Ich will dir etwas zeigen", Vincent dreht meinen Kopf sanft zur Seite, runter von der Bühne und hin zu den hundert, vielleicht zweihundert Plätzen. Bei der Vorstellung, dass jeder dieser Plätze gefüllt sein könnte und sie mich alle anstarren würden, wird mir ganz schwindelig. Wenn ich aber daran denke, dass sie alle Vincent sehen, lächele ich. „Beängstigend", flüstere ich trotzdem und lasse den Saal auf mich wirken. Die roten Sessel wirken alt und gemütlich, die Scheinwerfer von der Decke knarzen und doch fühle ich mich sicher. Die Vorhänge, Kordeln und dunklen Wände an der Seite wirken zwar düster und so, als hätten sie unfassbar viel gesehen, aber auch wie ein Schutzwall vor draußen. Vor der Realität, vor der Menschlichkeit. Hier drinnen wirbelt der Staub nur Geschichten, Fiktion und Träume auf. „Und wunderschön", ergänze ich von selbst und drehe mich langsam wieder zu Vincent, der mich gespannt beobachtet. „Wieso hast du Angst davor, angesehen zu werden? Du hast einen Blog mit mehreren hunderttausend Fans", raunt er und deutet auf die vielen leeren Reihen vor uns. „Da geht es nicht um mich. Um meine Botschaft. Um den Veganismus. Um Leben für die Tiere. Aber nicht um mich", ich schüttele wild den Kopf und greife nach Vincents Hand, die an meiner Wange ruht. Es fühlt sich intim an, ihn zu halten, während er dasselbe mit mir tut. „Hier geht es auch nicht um mich", wispert er heiser und sieht mir tief in die Augen. In die Seele. Ich spüre, dass er noch mehr sagen will, aber nicht kann. Dass da diese ganzen Erklärungen in ihm schlummern, ihn nachts wachgehalten haben und ihn bis in die Dusche verfolgt haben. Ich spüre seine kalten, dunklen, dumpfen Schmerz und sehe die Scherben in seinen dunklen Augen. „Ich weiß", meine Stimme bricht abermals und ich muss fast wieder weinen, aber Vincent löst sich aus unserem Moment und greift nach meinem Beutel. „Lass uns hoch gehen", er greift nach meiner Hand und drückt sie fest, zerquetscht sie fast, als er mich über die Bühne zieht. „Nach oben?", schniefe ich und berühre noch im Vorbeigehen den schweren Vorhang aus rotem Samt, bevor er mich ins Backstage führt. Lauter Requisiten liegen, stehen und hängen herum. Wände, Stühle, Betten, Lampen, Kleider, ... Ich schaffe es gar nicht, den ganzen Raum anzuschauen und aus dem Staunen nicht mehr herauszukommen, als Vincent mich zu einer winzigen schmalen Treppe zieht, die hinter einem Vorhang versteckt war. Neugierig folge ich ihm Schritt für Schritt, atme den staubigen Geruch ein, lausche dem Knarzen meiner Dr. Martens und seiner Vans auf den schmalen Stufen und blinzele, als ich mich an die Helligkeit hinter der Treppe gewöhnen muss: Wir sind auf dem Technikträger. „Fühlst du dich hier oben wohl?", Vincent dreht sich besorgt zu mir, als er merkt, dass ich staunend stehen geblieben bin. Von hier oben kann man das ganze Theater überblicken. Die Bühne, die Zuschauerreihen, den Backstagebereich, alles. Man sieht die Kabel, die Lichter, die Bänder, die Vorhänge, die Latten, die Bühne. Es ist, als würde man hinter die Maske des Theaters schauen und die Schönheit erst jetzt erkennen.
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...