Kapitel zwanzig

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VINCENTS SICHT


Etwas berührt mich. Sofort schrecke ich auf und reiße die Augen auf, um in Hailees müdes Gesicht zu blicken. Sie blinzelt ebenfalls schlaftrunken und fährt sich über ihr hübsches Gesicht, in das das Morgenlicht fällt. Ein paar Sonnenstrahlen fallen direkt in ihre braunen Augen, die jetzt heller als sonst leuchten. Und auf ihre Wangen, auf denen ich zum ersten Mal bei der Helligkeit ihre leichten Sommersprossen entdecke, die kaum sichtbar auf ihrer dunklen Haut versteckt liegen. „Du schaust mich so an. Sehe ich ungeschminkt so komisch aus? Obwohl ich eigentlich eh nur Eyeliner trage", überlegt Hailee und schlägt sich dann die Hand vor den Mund, woraufhin ich die Augenbrauen hebe. „Nein, das ist es nicht. Du siehst wunderschön aus", flüstere ich und könnte mir einen Tritt gegen das Schienbein verpassen, weil es so kitschig klingt. „Und du erst", erwidert Hailee nur und hat noch immer ihre Hand vor dem Mund. „Was ist los? Es beunruhigt mich, wenn wir zum ersten Mal nebeneinander einschlafen, was übrigens sehr niedlich war, wie du im Gespräch weggepennt bist, und du so angewidert schaust", ich versuche selbstbewusst zu klingen, auch wenn mich die Situation stresst. „Es liegt an mir. Ich putze mir morgens eigentlich immer sofort die Zähne, deswegen schätze ich, dass ich jetzt üblen Mundgeruch habe", nuschelt sie gegen ihre lackierten gelben Fingernägel, nach denen ich greife. Vorsichtig ziehe ich ihre Hand von ihrem Mund und beuge mich näher zu ihr. „Ich rieche absolut nichts. Und selbst wenn ...", deute ich an und sehe ihr tief in die Augen. Sie leuchten und funkeln aufgeregt, dann macht Hailee den ersten Schritt und richtet sich ebenfalls auf, sodass wir direkt voreinander verharren. „Dein Selbstbewusstsein und deine Heilung sind so verdammt ... cool", stoße ich hervor und schlucke, als Hailee kichert und ihre Stirn gegen meine lehnt. „Und deine auch. Sie sind sogar verdammt heiß", wispert sie und küsst mich schnell, bevor sie ihre Worte überdenken kann. Grinsend lehne ich mich gegen ihre vollen Lippen, die sogar immer noch nach Minze von gestern Nacht schmecken, dann greife ich in ihre wilden Locken und küsse sie intensiver. Auf meinem Bett. Ohne, dass einer von uns im Bad gewesen ist. Verdammt. Keuchend drängt Hailee sich mir entgegen und rückt unter der Decke näher an mich, wobei sich unsere nackten Beine ununterbrochen streifen. Immer wieder reibt sie ihren Unterschenkel an meinem und rutscht dann mit ihrem Oberkörper an mich heran, um sich neben meiner Schulter abzustützen. Vorsichtig lässt sie ihre Finger durch meine Haare gleiten und fährt dann über meinen Nacken und meine Schultern, die ich ihr entgegen drücke. Moment, was? Überrascht von mir selbst halte ich die Luft an und verharre kurz mit meiner Zunge auf Hailees Lippen, dann löst Hailee sich bereits aus dem Kuss und öffnet ihre Augen. „War es zu viel?", murmelt sie und wirkt beschämt, aber ich schüttele den Kopf und lege meine Hände bestimmt an ihre Hüfte, woraufhin sie lächelt, auch wenn sie es sich zu verkneifen versucht. „Nein. Es war viel und überraschend, aber ich bin nur von mir überrascht und nicht von dir", stelle ich es klar und hole tief Luft, „weil ich das hier zwischen uns mag. Weil ich dich sehr mag, Hails." „Ich mag dich auch sehr, Vinz", platzt es sofort aus Hailee heraus, woraufhin wir beide strahlen. „Das hört sich jetzt wie im Kindergarten an und ich weiß nicht, ob es das der richtige Zeitpunkt ist. Eigentlich wollte ich dich am Strand oder beim Film fragen. Und auch da wusste ich nicht, ob es zu früh ist. Ich kenne die Regeln nicht, absolut nicht. Und dann war gestern das bei euch daheim und jetzt ... jetzt sind wir in meinem Bett und waren nicht im Bad. Das sind viele Dinge, die uns eigentlich Angst machen. Und doch fühle ich mich stark, wenn ich mit dir zusammen bin. Fuck, jetzt habe ich es gesagt, dabei war der Kontext nicht ...", verpatze ich es, doch Hailee strahlt und nickt. „Ja. Nein. Also ja. Ich fühle mich mit dir auch stark. Und sicher. Und ich hoffe, dass ich dich ebenfalls nicht triggere, meistens zumindest. Denn ich ... ich wäre gerne mit dir zusammen", wispert sie und fährt zärtlich durch meine Haare. „Willst du ... willst du ... verdammt, ich sage es jetzt wie ich es hätte im Kindergarten sagen sollen. Willst du mit mir gehen, Hails?", ich beiße mir auf die Lippen und sehe sie nervös an. Hailee lacht ausgelassen und nickt wild: „Ja, will ich, Vinz. Das will ich, seit wir uns wiedergesehen haben. Und der Zeitpunkt ist nicht zu früh, er ist ... er passt zu uns. Auch genau hier. Auf diese Art und Weise." Atemlos sehe ich sie an, schaue auf ihre Lippen und merke, dass sie sie nicht mehr unsicher zusammenpresst, sondern stattdessen breit und wunderschön lächelt, ehe sie ihren Mund energisch auf meinen drückt und mich küsst, wie sie es bisher erst einmal getan hat: Bei unserem ersten Kuss. Leidenschaftlich, frei und lebendig, nicht mehr so vorsichtig. Und ich schaffe es endlich, den Kuss ansatzweise auf dieselbe Weise zu erwidern. Scheinbar stelle ich mich gar nicht schlecht an, denn Hailee seufzt in den Kuss und legt diesmal ihr Bein auf meinem ab. Erst sanft, aber als ich ihren Oberschenkel zögerlich umfasse, verlagert sie ihr ganzes Gewicht auf mein Bein und wandert mit ihren Händen über meine Seite und vorsichtig über meine Schulterblätter. Noch fühlt es sich ungewohnt an, Hailees nackte Haut zu berühren, doch auch richtig, weil sie mir ebenfalls vertraut. Behutsam streichele ich ihre Schenkel und spiele an dem Saum ihres Nachthemds, das nach oben rutscht. Meine Augen bleiben die ganze Zeit verschlossen, sowohl aus Leidenschaft als auch aus Respekt Hailee gegenüber. Dabei ist sie schlussendlich diejenige, die mit ihren Fingerspitzen unter mein T-Shirt wandert und sofort aufhört, als ich zusammenzucke. „Sorry", nuschelt sie in den Kuss und hält inne. „Du hast mich nur gekitzelt und das darfst du", raune ich gegen ihre feuchten Lippen und küsse sie erneut, diesmal energisch wie zur Bestätigung, sodass sie wieder ihre Hände unter mein Shirt schiebt und mich tatsächlich am Bauch und an der Seite kitzelt, sodass ich leise lache und mich gegen sie drücke, während ihre Zunge meine streift. „Ich komme leider nicht so gut ran, darf ich es dir ausziehen?", fragt Hailee nach einer Weile, in der ich mich nicht unter ihr Nachthemd getraut habe. Wir schlagen beide die Augen auf und sehen einander an; sie erregt, ich überrascht. Ihre forsche Art scheint uns beide zu überrumpeln, denn sie kichert verlegen und schielt dann beschämt hinter mich. Verwirrt drehe ich mich um, aber stelle eh fest, dass Sheera nachts aus dem Zimmer getapst sein muss. Wahrscheinlich hatte die alte Damen Hunger. „Gleich", erwidere ich und lehne mich kurz über Hailee, um die Tür zuzuschlagen. Sie kichert und berührt bereits meinen Bauch durch den dünnen Stoff, was mich schaudern lässt. Dann zupft sie an dem Stoff, sodass ich mir von ihr beim Ausziehen helfen lasse und mir selbst das Shirt vom Kopf reiße, um sie wieder ansehen zu können. Inzwischen knien wir beide kompliziert auf dem Bett und sehen einander mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen an. „Danke. Eigentlich wollte ich nur diese sexy Tattoos von meinem Freund anschauen", presst Hailee heraus und lächelt umwerfend, ehe sie zärtlich über die dunklen Linien auf meinem Brustkorb und meinen Armen fährt. „Freund?", ich grinse, auch wenn meine Stimme zittert. Noch immer ist es ungewohnt, aber verdammt, es ist auch erst seit zehn Minuten so. „Fester Freund", bestätigt Hailee verlegen und umkreist mit ihren Fingern das Mond-Symbol auf meinem Arm. Lächelnd greife ich nach ihrem Knöchel und streife ihn ohne hinzuschauen, während mein Blick in ihrem Gesicht ruht. „Und was gehört so zu einer Beziehung dazu?", flüstere ich und streife ihre Schultern, woraufhin Hailee eine Gänsehaut bekommt und noch immer gebannt meinen Oberkörper mustert. Auf einmal bin ich stolz, dass ich so viel Sport mache, auch wenn es totaler Schwachsinn ist. Ich weiß, dass es nicht auf Äußerlichkeiten ankommt. Denn ich hätte mich auch sofort in Hailee verliebt, wenn sie nicht so heiß aussehen würde, wie es ihr gar nicht bewusst ist. Einzig allein in ihre Seele. Die zufällig unfassbar hübsche braune Augen hat. „Zum Beispiel das", Hailee grinst mich frech an und küsst mich dann wieder. Diesmal bin ich noch mutiger und umschlinge ihren Rücken, sodass wir in die Kissen fallen. Sie liegt unter mir und schlingt intuitiv ihre Beine um meine Hüfte, sodass wir übereinander liegen. „Ist es okay, dass du unten bist?", hake ich sofort nach. „Ja, ich vertraue dir. Und gerade bist du der Overthinker", neckt Hailee mich sanft und zieht mich wieder an sich. Es hat nichts Bestimmendes, nur etwas Wildes und doch Zärtliches, wie sie über meinen nackten Rücken fährt und schwerer atmet, als ich mich neben ihrem Kopf abstütze und mein Gewicht versuche nicht auf sie zu verlagern. „Ich halte das aus", flüstert sie irgendwann in den Kuss und versucht kläglich, meinen Arm wegzuziehen, was uns beide zum Lachen bringt. „Deswegen kannst du nicht mal meinen Arm bewegen. Ich will dich nicht zerquetschen", gestehe ich und streiche ihr durch die Locken, doch Hailee schüttelt nur ihren Kopf und tänzelt mit ihren Fingern zu meiner Hüfte, ohne tiefer zu wandern. Das würde sie niemals tun, darauf muss ich mich verlassen. „Tust du nicht. Ich verspreche dir, dass ich sofort etwas sage, falls ich mich unwohl fühle", schwört sie und sieht mich dabei intensiv an. Ich glaube ihr. Dass sie nicht wie ich ist. Und ich nicht wie Juan bin. Jetzt lasse ich los. Lasse mich langsam auf sie sinken und halte trotzdem noch das meiste Gewicht, auch wenn mein Oberkörper jetzt den dünnen Stoff ihres Nachthemds berührt. Ich ihn förmlich an meinem Brustkorb spüre. Und die kleine Wölbung, die sich mir entgegen drückt. Und sie spürt verdammt nochmal den Druck meiner Hüfte, von dem ich nicht einmal wusste, dass Hailee ihn in mir auslösen kann. Nervös suche ich den Blickkontakt, doch Hailee lächelt nur und streicht mir durch die Haare. „Wie geht es dir damit?", wispert sie und schaut mich mit ihren großen Augen forschend an. „Ungewohnt. Aber okay. Nur ... nicht weiter, okay?", bringe ich meine Bedenken raus und schlucke. Doch Hailee nickt nur und grinst: „Sehe ich auch so. Wir haben alle Zeit der Welt, Vinz. Wir haben uns sechzehn Jahre nicht gesehen und wieder zusammengefunden. Wir haben beide viel durchgemacht, du natürlich mehr, und trotzdem haben wir zusammengefunden. Zwischen uns muss nichts weiter passieren und wenn, dann, wenn wir es beide wollen." „Du hast auch viel durchgemacht, Hails. Und ich verspreche dir, dass du nicht mehr alleine bist. Warst du nicht, du hast Atlas, Jesper und vielleicht Tori, schätze ich. Aber ich bin auch für dich da", versichere ich ihr und küsse sie sanft. Es sollte ein liebevoller Kuss sein, doch sie erwidert ihn heftig und schlingt die Arme um mich, bis ich mich irgendwann neben sie fallen lasse und vergesse, dass wir auf meinem Bett sind. Und ich schätze, heute Abend werde ich zum ersten Mal aufgrund anderer Erinnerungen nicht einschlafen können.

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