HAILEES SICHT
Ich weigere mich, während der Autofahrt mit Atlas und Jesper zu reden. Stattdessen höre ich nur Musik, oder zumindest habe ich mir Kopfhörer ins Ohr gesteckt und lehne den Kopf an die Scheibe des Wagens. Die Erschütterungen erinnern mich daran, dass das hier kein verdammter Albtraum ist. Und Atlas, der sich zu mir auf die Rückbank gesetzt hat und mich unentwegt anstarrt. Kaum fährt Jesper in unsere Tiefgarage und bringt den Wagen zum Stehen, öffnet mein Bruder seinen Mund: „Okay, du kannst jetzt mit uns reden. Jes fährt nicht mehr, er kann keinen Unfall mehr bauen." „Ha ha", ich sehe meinen großen Bruder nicht einmal an, als ich aus dem Wagen klettere und meine roten Kabelkopfhörer nur in meine Tasche stopfe. „Hails, rede mit uns, bitte. Vincent ist unser Freund", Jesper sprintet neben mich und schließt für mich die Tür auf. Missmutig verschränke ich nur die Arme und schüttele den Kopf. „Das wollt ihr danach nicht mehr", bringe ich matt heraus und denke an Vincents leeren Blick. „Hails, was auch immer er gesagt hat, er war nicht er selbst. Auf der Fahrt zu den Sawyers hast du uns alles über Jake berichtet", ergänzt Atlas seinen Freund und legt mir seine Hand auf die nackte Schulter. Die beiden Männer haben mich darin bestärkt, Tate den Schlüssel zu geben, als wir in Vincents Zimmer gewartet haben. Und Tate in alles einzuweihen – erst dachte ich, dass es Vincents Entscheidung wäre, aber meine Angst, er könnte durchdrehen und sie nicht einweihen, war zu groß. Und Sanna hat die ganze Zeit vor dem Badezimmer gelauert, damit Vincent keinen Rückfall bekommt. Den hatte er. Vielleicht hat er ihn noch selbst gestoppt, aber ich habe es in seinem gebrochenen Blick gesehen und nichts tun können. Weil er es nicht wollte. Weil er mich nicht wollte, verdammt. Und ich weiß nicht einmal, ob es wahr ist. Ein winzig kleiner hoffnungsvoller Teil in mir denkt, dass er das aus dem Moment heraus gesagt hat; aber seine Worte klangen so echt und seine Stimme war so ernst. Aber er ist ein Schauspieler. Und er ist kalt, verdammt. Das war er die ganze Zeit, er ist so dunkel, so farblos, so leblos und so verschlossen. „Das war auch das Letzte, was ich euch zu Vincent sagen kann. Er hat mit mir Schluss gemacht und mich aus seinem Leben geworfen. Ich habe so viel kaputtgemacht", schluchze ich los, kaum purzeln die Worte aus mir heraus. Sofort weine ich wieder und beginne zu zittern. Noch mit Mühe schaffe ich es, in den Fahrstuhl zu steigen und den Knopf zu drücken, dann schlingt Atlas sofort die Arme um mich und zieht mich an seinen Brustkorb, der so vertraut riecht. „Es tut mir leid, dass ich dich vor unseren Eltern nicht beschützt habe", schniefe ich und ruiniere ziemlich sicher das Hemd meines Bruders, doch Atlas streicht mir nur über den Rücken und hält mich auf der Fahrt nach oben. „Es ist okay, Hails. Ich muss das selbst schaffen. Du bist an nichts schuld", will er mich beruhigen, doch ich weine nur noch mehr und nuschele lauter Entschuldigungen. Ich spüre, auch ohne den Kopf zu heben, wie verzweifelt Atlas und Jesper sich anschauen. Kaum kommen wir oben an, sperrt Jesper uns die Tür auf und nimmt mir meine Tasche ab, auch wenn ich darinnen kaum etwas verstaut habe. „Ich bin schwach. Es tut mir leid", wiederhole ich nur meine Worte und reiße verzweifelt an meinen Boots, deren Schnürsenkel sich nicht öffnen lassen. Sofort kniet Jesper sich hin und knotet sie seelenruhig auf, während ich nur schniefe und strampele wie ein kleines Kind. „Hat Vincent das gesagt?", knurrt mein Bruder und tritt in mein Blickfeld. Wie immer schaut er so besorgt und gleichzeitig verärgert. „Sei nicht sauer auf ihn", verteidige ich Vincent trotz allem sofort. Mag sein, dass er mich niemals verteidigen würde, aber ich kann nicht damit aufhören. „Hailee. Was hat Vincent gesagt?!", Atlas' Stimme zittert vor Zorn und Panik, sodass ich zusammenzucke und mich an Jesper abstütze, der ebenfalls groß schaut. Dann bricht es aus mir heraus. Minutenlang schluchze und hickse ich, wische mir über die triefende Nase und über meine klatschnassen Wangen, die langsam schmerzen. Und doch fühlt sich nichts in meinem Gesicht so schrecklich an wie mein Herz, das vorhin zersprungen ist. Das, was meine Eltern mir all die Jahre angetan haben, tat weh. Wie kalt und ignorant meine Mutter ist. Wie wehrlos mein Vater ihr gegenüber ist. Wie lieblos er Atlas gegenüber ist. Wie hart Juan war. Wie er mich angefasst hat, wie er mit mir gesprochen hat. Aber der Schmerz mit Vincent ist ein neuer. Ein tiefer, reißender Schmerz. Weil ich mit ihm auch wirklich glücklich war. Bei all den anderen dachte ich, ich müsste es sein. Aber bei Vincent war ich es trotz all der anderen Erfahrungen.
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...