Kapitel fünfzehn

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VINCENTS SICHT


Sie kann mir nicht einmal in die Augen sehen. Ich widere sie an. Meine Geschichte widert sie an. Wie schwach ich bin. Nicht, wie ich war, aber wie ich es immer noch bin. Schluckend schiele ich zu Atlas und Jesper, die auf den Boden starren und ihre Hände verschränkt haben. Und niemand der drei sagt nur einen Ton. Ich selbst atme aber auch nicht mehr, wie ich feststelle und langsam nach Luft schnappe. „Vinz ...", Hailee spricht als Erste wieder. Diesmal sehe ich nicht auf und höre nur, wie sie aus der Hängematte klettert und barfuß über das Parkett zu mir kommt. Langsam. Zögernd. „Darf ich ... dich umarmen? Nur, wenn du willst. Es muss nicht sein, ich verstehe es ...", dringt ihre verweinte Stimme zu mir durch. Zitternd hebe ich den Blick und schaue in ihre verweinten braunen Augen, in denen viel zu viel Mitleid steht. „Ich will nicht, dass du es aus Mitleid tust", erwidere ich und schüttele den Kopf. Hailee schüttelt langsam ihren Lockenkopf und kniet sich vor mich hin. Erst will sie ihre Hände auf meine Knie legen, dann spielt sie wieder nur an ihren bunten Bändern und starrt vor sich hin. „Nein, ich suche nur nach den richtigen Worten. Mierda, ich sollte das können! Aber ich habe keine und das tut mir leid", murmelt sie und beißt sich auf die Lippen. Die Lippen, die ich gestern geküsst habe. Gequält sehe ich sie an, hilflos, was ich tun soll. Was ich will, dass sie tut. „Du musst nichts sagen", presse ich raus und will aufstehen, aber Hailee weicht nicht zurück und richtet sich auch nur langsam auf, um sich mir in den Weg zu stellen. „Nein, so fährst du nicht mit dem Motorrad! Und so gehst du auch nicht", entscheidet sie und greift nach meiner Hand. Kaum berührt sie sie, zuckt sie zurück und schlägt die Hände vor ihr Gesicht: „Oh Gott! Tut mir leid, ich wollte dich nicht anfassen!" Nein. Ich wusste, dass sie so empfinden würde, aber nicht, dass sie es sagen würde. „Nicht so! Ich ... ich wollte dich deinetwegen nicht berühren. Nicht meinetwegen. Ich würde dich nämlich sehr gerne umarmen", schiebt sie hinterher, als sie merkt, wie etwas in meinem Blick zerspringt. Und ich dachte, ich könnte gut spielen und meine Fassade aufrechterhalten. „Ich dich auch, Mann. Es tut mir leid, dass ich das vorher nicht gecheckt habe, dass es dir zu viel ist. Ich wollte dich nie triggern", Jesper löst sich aus seiner Starre und tritt vorsichtig neben mich. Jetzt hält er diesen verdammten Sicherheitsabstand, den ich sonst immer zu allen halte. „Mir tut es auch leid. Ich wollte dich nie ausschließen und dir das Gefühl geben, dass du nicht mit uns reden könntest. Das kannst du. Hast du es vergessen? Wir waren damals beste Freunde", Atlas lächelt mich matt an, auch wenn er geweint hat. Um mich? Um Hailee? „Und wären es gerne wieder. Nicht deswegen. Es ändert nichts. Also natürlich hat es dich verändert, aber es ändert nichts an uns als Freunden", stammelt Jesper und sieht mir auch in die Augen. Er hat ebenfalls geweint und wischt sich schnell den Schleim von der Nase und dem Mund, wobei die hellen Flecken an seinem dunklen Shirt kleben bleiben. „Sicher? Ich will nämlich nicht, dass ihr mich anders behandelt als vorher", ich räuspere mich, aber der Kloß in meinem Hals verschwindet nicht, das wird er nie. „Okay. Ich würde dir gerne noch etwas sagen, aber wenn du es nicht willst, ist das okay", Atlas' Stimme klingt so warm und besonnen, nicht so, als würde er mich verachten. „Bitte nicht", entscheide ich und weiß, dass meine Moms mich dafür schütteln würden. „Sollen wir gehen?", Atlas deutet auf Jesper und sich, wobei Hailee einen zustimmenden Laut von sich gibt. Zu ihr traue ich mich gar nicht zu sehen. „Ich könnte schon das Mittagessen machen, wenn ... wenn du hier essen willst. Ich würde mich freuen, Mann. Aber es ist natürlich auch okay, wenn du heim willst. Aber ich würde gerne ... vergiss es", Jesper fährt sich durch seinen unordentlichen Dutt und bindet ihn neu, damit er etwas zu tun hat. „Das klingt gut. Aber ich will mich nicht aufdrängen", erwidere ich knapp und knacke mit dem Kiefer. Hailee wird mich danach eh nicht mehr sehen wollen. „Tust du nicht. Bitte lass uns zusammen essen. Oder einen Film schauen. Etwas spielen. Reden. Schweigen. Aber bitte bleib. Du bist hergekommen, Vinz", wispert Hailee rechts neben mir und klingt doch so entfernt. „Okay", würge ich nur heraus und warte angespannt, bis Atlas als Erster das Zimmer verlässt und in den Flur stürmt. Jesper dreht sich noch einmal zu mir um und rennt gegen die Holztür, dann zieht er sie hastig hinter sich zu und beginnt leise mit Atlas zu reden. „Vinz", Hailee berührt mich noch einmal vorsichtig am Arm. Als ich nicht zusammenzucke, greift sie nach meiner Hand und zieht vorsichtig an mir. „Bitte lass mich etwas sagen. Lass uns reden", schluchzt sie und setzt sich dann hastig auf den Boden. Ihren Rücken lehnt sie an ihr Bett und ihren Kopf bettet sie auf ihre nackten Knie. Zweifelnd lasse ich mich neben sie auf den Boden sinken und ziehe ebenfalls meine Beine an, um sie wie ein kleines Kind zu umschlingen und nicht weiter zu weinen. „Es tut mir so, so leid, dass dir das passiert ist. Und ich ... ich bin dir sehr dankbar, dass du es uns erzählt hast. Dass du dich mir anvertraut hast und wenn ich darüber nachdenke, was du alles gesagt hast ... wie viele Hinweise du mir gegeben hast und ich war so dumm und ignorant und egoistisch, dass ich sie nicht verstanden habe! Ich habe nicht genug hingehört und ich war gestern so eine dumme Kuh. Ich war übergriffig und habe genau das getan, was ich niemals jemand anderem antun wollte. Ich ... es tut mir leid, dass ich dich geküsst habe. Dass ich auf dich geklettert bin und dass ich mich ... oh Gott, es tut mir so leid", schluchzt sie und hickst dabei auf, schnieft und bebt, als ich zu ihr sehe. „Dir tut es leid? Ich habe den Mist gebaut. Ich hätte es dir sagen müssen. Von Anfang an. Du hast jemand anderen als mich verdient. Und vor allem die Wahrheit. Du hast nie die Wahl gehabt, ob du mich küssen willst. So jemanden. So etwas. Worauf du dich einlässt. Ich war so egoistisch, Hails. Ich wollte, dass mein erster Kuss nicht auf Mitleid beruht und ich wollte ihn mit dir. Es war scheiße von mir, dich dafür auszunutzen, weil ich diese eine gute Erinnerung wollte", höre ich mich sagen. Die Worte klingen nicht einmal wie meine, nicht so, als würde ich das alles zugeben können. „Gute Erinnerung?", krächzt Hailee und sieht mich unsicher an. Ihren Kopf verbirgt sie zur Hälfte hinter ihren Händen und ihr Blick zittert so unfassbar hilflos. „Ja, verdammt. Es hat mich ... es hat mich überfordert, als du ... als du auf meinen Schoß gekommen bist, aber der Kuss war schön. Wunderschön. Auch wenn er nicht so echt war, wie ich es mir gewünscht hätte", gestehe ich und greife verzweifelt nach Hailees warmen Händen. Fahre ein letztes Mal über ihren abgeblätterten Nagellack und ihre gesammelten Bänder. Hailee greift jedoch nach meiner Hand und verschränkt sie mit ihren linken, um mit ihrer rechten nach meiner Wange zu greifen und meinen Kopf zu sich zu ziehen. „Er war echt, Vinz. Es war so echt. Für mich", murmelt sie und schaut mir tief in die Augen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass in ihrem Blick Zuneigung zu sehen ist. „Für mich auch", räume ich ein und lehne meine Stirn verzweifelt an ihre. „Darf ich ... nein, es ist dumm. Es passt nicht in den Moment, vergiss bitte, dass ich es gesagt habe", stammelt sie und will sich abwenden. Ich zögere. Verdammt. Als ihre Nase zu zittern beginnt und ihre Mundwinkel beben, greife ich in ihre Locken und drehe sie zu mir. Noch immer traue ich mich nicht, mich nach vorne zu lehnen, sondern nähere mich ihr nur ein paar Zentimeter. Hailee atmet schwer und rückt ebenfalls näher an mich heran, schluckt laut und umfasst vorsichtig mein Gesicht. So, als würde sie mich wirklich gerne berühren und als würde sie mich gerne ansehen. „Vinz, nichts, was du gesagt hast, schreckt mich an dir ab. Es ist viel zu verarbeiten und zu verstehen, aber nur, weil ich nichts falsch machen will", wispert sie gegen meinen Mund und sieht mir dabei tief in die Augen. „Ich widere dich nicht an?", ich kann es nicht lassen, diese verdammte Frage zu stellen. „Nein! Wieso ... widere ich dich an?", Hailee hält die Luft an. „Nein. Habe ich das gestern nicht deutlich gemacht?", zum ersten Mal heute lächele ich. Vorsichtig, matt und hilflos, aber ich lächele sie an. Hailee grinst ebenfalls ein wenig und zuckt mit den Schultern. Diesmal mache ich es endlich und lehne mich nach vorne, um ihre feuchten Lippen zu streifen. Vorsichtig. Langsam. Ich will ihr die Möglichkeit geben, es abzubrechen. Doch sie erwidert den Druck sanft gegen meinen Mund und lächelt gegen meine Lippen, als wir uns beide bewegen. Ein paar Mal pressen wir unsere Münder aufeinander, was immer noch ungewohnt für mich ist. Die Angst, etwas falsch zu machen, ist groß, aber Hailee lächelt nur durchgehend und zieht mich am Kinn näher zu sich und streift vorsichtig durch meine Haare. Diesmal traut sie sich nicht mehr und mir tut es so unfassbar leid, dass ich ihr diese Leidenschaft genommen habe. „Hails", ich unterbreche den Kuss, auch wenn ich mich dadurch ungewohnt beflügelt gefühlt habe. Die Leere, die ich jetzt verspüre, ist wieder wie gewohnt. „Ich will dir nicht diese Leidenschaft und das alles nehmen. Für mich ist das alles neu und ich habe das Gefühl, alles falsch zu machen und dich warten zu lassen. Dir nicht zu reichen", fange ich an und fahre mir nervös durch die Haare. „Moment, wovon redest du jetzt? Das sind gerade echt viele Themen. Aber ... falls du von ... was?", Hailee runzelt die Stirn und greift nach meiner Hand. Ich weiß nicht, ob es sie oder mich beruhigen soll. „Ich weiß nicht, wie es mit uns weitergeht. Ich dachte ehrlich gesagt nicht, dass wir eine Zukunft haben und ich kann es gerade immer noch nicht glauben, dass ich in deinem Zimmer sitze und du mit mir essen willst", ich schnaube und lehne mich an das Bett. Hailee lächelt stolz bei der Bewegung und rückt neben mich, um mich anzusehen. „Das dachte ich umgekehrt. Ich dachte, ich wäre dir zu kaputt oder zu wenig. Aber du bist mir nicht zu wenig. Und auch nicht zu viel Ballast, falls du das denkst. Vinz, ich wollte dich damals kennenlernen, als ich noch so winzig war. Ich wollte dich lächeln sehen und ich mochte es, wie stark du damals warst. Weil du so mutig warst und, weil du aber auch weinen konntest. Musstest. Aber du weißt, was ich meine. Ich mochte dich damals, jeden Teil von dir. Auch, als du mich weggestoßen hast. Und auch heute will ich jeden Teil von dir, Vinz. Jeden. Weil ich ... ich dich will. Ich will dich kennenlernen, dich verstehen, dich berühren, dich küssen und dich respektieren", Hailees Stimme bricht und sie rutscht näher an mich. Legt zögernd ihre Hände auf meine Schultern und sieht mich fragend an, „darf ich dich umarmen?" „Ja, darfst du", ich grinse und atme auf, als sie sich in meine Arme wirft. Dabei achtet sie darauf, dass wir nebeneinander sitzen und sie auf keinen Fall meine Beine oder meinen Schoß berührt. Ich weiß nicht, ob ich weinen oder lächeln soll. Oder einfach nur aufatmen.

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