Kapitel dreißig

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VINCENTS SICHT


Mein Sohn, heute ist der Todestag deiner Mutter. Ihr fünfter. Und auch meiner, weil der letzte Teil von mir mit ihr gestorben ist. Die anderen fünfundneunzig Prozent habe ich verloren, als – ein Klingel unterbricht mich beim Lesen. Seit Tagen tue ich nichts anderes mehr, als die Briefe meines Vaters zu lesen. Sheera neben mir hebt den Kopf und blinzelt mich müde an. Schmunzelnd wuschele ich ihr über den weichen Kopf, den sie auf die Sofakissen gebettet hat, dann greife ich nach meinem Handy und runzele die Stirn. Jesper. „Hi?", begrüße ich ihn und räuspere mich sofort. „Vinz, Gott sei Dank gehst du ran! Ich brauche dich. Ich weiß, es ist viel verlangt und unsere Freundschaft ist gerade etwas kompliziert, aber ...", ruft Jesper außer Atem. Besorgt richte ich mich auf und starre aus dem dunklen Wohnzimmerfenster. Es ist bereits nach zwanzig Uhr und die Sonne geht langsam unter. „Was ist los, Jes? Geht es dir gut?", ich springe auf und werfe achtlos die Briefe in eine der vielen Kisten. „Noch? Ich hoffe es. Fuck, ich bin wieder mit dem Fahrstuhl in unsere Tiefgarage gefahren und weiß nicht, was ich machen soll. Ich war gerade einkaufen und da sehe ich, dass unsere Haustür aufgebrochen wurde. Scheiße, Vinz, ich weiß nicht, ob da noch jemand in der Wohnung ist oder etwas gesucht hat!", flüstert Jesper und stöhnt verzweifelt auf. „Verdammt, wo sind Hailee und Atlas?", jetzt renne ich bereits in mein Zimmer, Sheera flitzt mir nach und bellt wild los. „Die sind bereits in Mexiko, oder zumindest sollten sie das bald sein. Die sind schon längst ins Flugzeug gestiegen. Ich schätze, die Einbrecher wussten das und dachten, dass ich auch unterwegs bin. Verdammt, ich hab Schiss", gesteht Jesper leise und klingt kein bisschen mehr so lässig wie immer. „Okay, okay, ich fahre gleich los. Ruf die Polizei und sperre dich im Auto ein. Am besten fährst du wieder aus der Tiefgarage raus und wartest eine Straße weiter", befehle ich Jesper und wühle in meinem Schrank. Für den Notfall packe ich mir noch einen Hoodie und ein paar Shirts ein; auf keinen Fall lasse ich Jesper alleine in der Wohnung pennen. Entweder er kommt her oder ich passe auf ihn auf. „Ich weiß nicht. Ich will die Polizei nicht sofort rufen. Scheiße, Vinz, in der Wohnung sind lauter Beweise wegen Atlas und mir. Fotos, Kondome, die Betten, alles! Und wenn die ermitteln oder wenn die Presse kommt ... Scheiße, ich kann das gerade nicht mal mit Atlas absprechen, was er denkt", wird Jesper immer panischer, wobei seine Stimme immer höher wird. „Okay, okay. Ich komme. Ich bin gleich bei dir, schicke mir deinen Standort. Wir machen das zusammen, Jes", verspreche ich und stürme bereits mit meinem Rucksack weiter ins Bad, wo ich noch mein Waschbecken leer räume und alles einfach nur in meinen Rucksack werfe. Jesper am anderen Ende der Leitung atmet nur angestrengt und startet dann den Motor seines Wagens. „Und Jes?", ich hole tief Luft und hetze bereits zu den Treppen. „Ja?", fragt er sofort panisch. „Danke, dass du mich angerufen hast. Ich komme immer, wenn etwas ist. Wir sind Freunde."


Kaum habe ich meine Kawasaki in die Parklücke vor dem Penthouse gequetscht, reiße ich mir den Helm vom Kopf und stürme in die Seitenstraße, wo Jesper aus seinem schwarzen Wagen steigt und mir entgegenkommt. Bevor ich drüber nachdenken kann, fallen wir uns in die Arme. „Tut mir leid", murmelt Jesper sofort und will sich von mir lösen, da drücke ich ihn noch fester und klopfe ihm auf den Rücken. „Nein, mir. Du willst wahrscheinlich mich nicht umarmen. Aber ich bin froh, dass es dir gutgeht", ich scanne sein Gesicht, als wir uns lösen. Er überragt mich um einen halben Kopf, was er gerade auch ausnutzt: Er sieht weg und knackt mit dem Kiefer. „Jes, du brauchst keine Angst zu haben. Wir lösen das", versichere ich ihm und schaffe es diesmal, in seine dunkelblauen panisch aufgerissenen Augen zu sehen. „Danke, Vinz. Aber was, wenn die Journalisten bereits alles gefunden haben? Dann ist Atlas bestimmt richtig sauer", murmelt er, woraufhin ich den Kopf schüttele: „Aber doch dann nicht auf dich! Er wird wissen, dass du nichts dafür konntest. Auch er nicht, weil er weggeflogen ist. Das sind einfach grenzenlose Wichser, die keinen Anstand haben. Komm, wir schauen jetzt, was überhaupt in eurer Wohnung los ist." Zielstrebig laufe ich los und bin heilfroh, dass Jesper mir folgt. Seine Boots knirschen auf dem trocknen Boden, während meine Vans eher ein schlurfendes Geräusch von sich geben. „Wieso hast du eigentlich einen Rucksack dabei?", fragt Jesper, als wir an der Haustür angekommen sind. Ein freudiges Grinsen schleicht sich in sein Gesicht, woraufhin ich auch lächele: „Ich lasse dich doch nicht alleine." „Gut. Es gibt nämlich noch eine andere Option", murmelt er und sperrt uns die Haustür unten auf, die unversehrt ist. Vielleicht haben auch die Nachbarn die Journalisten oder Einbrecher oder wen auch immer hereingelassen. Kaum betreten wir den Hausflur, schiebe ich mich vor Jesper und flitze leise die Treppe nach oben, wo die Wohnungstür offensteht. „Vinz, pass auf", wispert Jesper hinter mir und greift nach meiner Schulter, aber ich schüttele ihn ab und pirsche mich nach drinnen. Meine Hände halte ich schützend vor meinen Oberkörper und bin mit meinen Beinen bei jedem Schritt in einem sicheren Stand, sodass ich jederzeit mit einem gekonnten Karate-Hieb zuschlagen könnte ohne selbst zu fallen. Mit flachem Atem schiebe ich mich ins Wohnzimmer, wo lauter Papiere herum fliegen und auf dem Boden verteilt sind; in der Küche und im Essbereich sieht alles ordentlich und unberührt aus. „Ist sauber. Warte hier", weise ich Jesper leise an und werfe noch meinen Rucksack aufs Sofa, ehe ich weiter in den Flur gehe und mich in Jespers Zimmer wage: Unordentlich, aber nicht durchsucht. Über die Verbindungstür checke ich noch das Bad und Atlas' Zimmer, aber beides sieht sauber aus. Den größten Mut brauche ich, als ich in Hailees buntes Zimmer gehe und überall meine, sie und ihre Trauer spüren zu können. Am schwersten ist es, als ich ihr Badezimmer betrete und mich im Spiegelbild sehe. Scheiße, wie oft stand sie hier und musste sich vielleicht beherrschen, nicht durchzudrehen? Nicht zu sehr in den Spiegel zu sehen? Sich von ihrem eigenen Perfektionismus täuschen zu lassen? Nicht, dass ich diese Macht über sie hätte, zumindest hoffe ich das. Aber sie hätte sie über mich, verdammt. Schluckend löse ich mich vom Anblick und stürme wieder ins Wohnzimmer, wo Jesper bereits seinen Laptop hochfährt und auf dem Sofa sitzt. Er trägt noch immer seine Boots und die Einkaufstüte steht unausgeräumt neben dem kleinen Sofatisch. „Es ist alles in Ordnung. Vielleicht haben sie dich gehört, als du zum ersten Mal mit dem Fahrstuhl hochgekommen bist. Vielleicht haben sie nur Dokumente gesucht und keine Beweise für eure Beziehung", mutmaße ich und setze mich vorsichtig neben Jesper, der erleichtert nickt und auf der Tastatur tippt, um einen Stream aufzurufen. Erst ist der Bildschirm dunkel, dann leuchten Hailee und Atlas in einer Großaufnahme auf: Beide verdecken ihre Gesichter mit Sonnenbrillen und ihren Händen, als sie aus dem Flugzeug steigen und von den mexikanischen Paparazzi belagert werden. Hailee trägt ein gelbes kurzes Kleid, das ihre dünnen Oberschenkel betont – oh Gott, hat sie noch mehr abgenommen? „Vinz? Du starrst sie an", Jesper stößt mich an und übertönt damit die spanische Moderatorin, die inzwischen auf dem Bildschirm erscheint. Wahrscheinlich fasst sie die Ankunft der Harper-Geschwister zusammen, denn wenige Sekunden später wird in ein Studio geschaltet, in dem auf eine Bühne geschwenkt wird: Es sind zehn freie Sessel zu sehen, die im Halbkreis aufgestellt sind. Die Erste, die aufgerufen wird, ist Hailee. Sie marschiert zielstrebig und selbstsicher auf die Bühne und winkt grinsend in die Kamera. Es entgeht mir aber nicht, dass sie ihre Lippen dabei zusammenpresst und kurz an ihren bunten Armbändern spielt, die sie trägt. „Sie hätte gewollt, dass du sie begleitest, Mann", unterbricht Jesper meine Gedanken und schiebt den Laptop von seinem Schoß. Am liebsten würde ich dem Ding hinterher springen und jedes ihrer Worte in mich aufsaugen. „Ich bin der Falsche dafür", ich schlucke und fahre mir durch die Haare, „ich habe sie verletzt." „Das gehört dazu. Glaube ich, ich hatte ja auch noch nie eine Beziehung", frotzelt Jesper, sodass wir beide kurz matt grinsen. „Irritiert es dich manchmal, dass Atlas schon eine hatte? Klar, es war in der Jugend und mit einer Frau, aber ...", deute ich an, da seufzt Jesper bereits und greift in seine Haare, um seinen Dutt neu zu binden. „Anfangs ja. Aber langsam fange ich an, es selbst zu vergessen. Ich glaube, dass Atlas das besser vergessen hat als ich. Und es gibt so viele Dinge, die wir zusammen entdecken, dass es unwichtig ist, was vor mehreren Jahren vielleicht war oder nicht war. Wir wissen, dass wir uns lieben und dass wir zusammengehören. Und dass wir einander stärken, zumindest geht es mir so", Jesper lächelt verliebt und blinzelt dann. Ich grinse und nicke: „Ich bin sicher, er sieht das auch so." „Und Hailee bei dir auch. Bro, ich sage es dir ehrlich, dass sie echt verletzt war. Aber auch, dass sie dir verzeihen wird, wenn du dich entschuldigst", Jesper klopft mir auf die Schulter und sieht mich flehend an. „Ich will nicht, dass sie mir verzeiht. Ich hab ihr sogar vorgeworfen, dass sie so schwach und gutgläubig wäre. Dann kann ich das nicht erwarten", würge ich heraus und meide den Blickkontakt mit Jesper. Doch er rutscht nur zu mir und lässt sich so tief in die Kissen sinken, dass ich ihm ins Gesicht schauen muss: „Wir wissen alle, dass du wegen Jake so warst." „Ich hasse es, dass er diese Macht über mich hatte. Oder nicht er, sondern die Vergangenheit. Ich glaube nicht, dass er mich so aus dem Gleichgewicht bringen wollte", murmele ich und sehe Jesper unsicher an. Er nickt und legt den Kopf schief: „Also hast du mit deinen Moms die Briefe gelesen?" „Ja, hab ich. Es war nötig. Hailee hatte recht", flüstere ich hilflos und keuche erstaunt auf, als Jesper sich in meine Arme wirft und mich fest umarmt. „Ich bin froh, dass du zurück bist. Du weißt schon, emotional und als unser bester Freund", nuschelt er und klammert sich so sehr an meinem Hals fest, dass wir fast vom Sofa kippen. Einzig allein die blecherne Stimme aus dem Laptop lässt uns erstarren. Zwar spricht keiner von uns Spanisch, aber es ist ziemlich sicher gerade der Name Juan gefallen. Sofort lösen wir uns aus der Umarmung und Jesper angelt nach dem Laptop am Boden, sodass wir beide zusehen können, wie Hailees Exfreund lachend die Bühne betritt. Ich könnte kotzen. Alles an ihm ist schrecklich. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe oder wie ich ihn mir vorgestellt habe, aber definitiv nicht so. Er sieht wesentlich älter aus als wir, dabei finde ich mich schon fast zu alt für Hailee, und wie ein Bad Boy. Nicht auf dieselbe Art wie ich oder Jesper, nein, eher wie ein Gangster. Er hat lange offene Haare, einen ungepflegten Bart, einen fiesen Blick, ein peinliches Muskeltop und einen überheblichen Gang. Noch bevor er etwas sagen kann, scheint die Moderatorin ihm einen Platz zuzuweisen. Als sie auf den Sessel neben Hailee deutet, spannt sich alles in mir an. Hailee auf dem Bildschirm richtet sich auf und sitzt plötzlich kerzengerade da. Ihre lässig überschlagenen nackten Beinen fangen an zu zucken und sie stemmt die Fersen in ihren roten Boots in den Studioboden. Hoffentlich fällt es niemandem aufVor allem nicht diesem Juan. Als wäre es nicht genug, beugt er sich deutlich sichtbar zu Hailee und flüstert ihr etwas zu, woraufhin sie ihre Stirn runzelt, ihre Lippen zusammenpresst und ihre braunen Augen aufreißt. Die Kamera wird extra auf die beiden gehalten – scheinbar spielt das Team mit der Exbeziehung der beiden. „Alter, was für Wichser", denkt Jesper laut und schnaubt. „Was hat er ihr gesagt?", knurre ich und blicke niedergeschlagen Hailee an, die nicht zur Kamera sieht. „Weiß nicht, Mann. Du könntest es rausfinden", schlägt Jesper vor und klappt den Laptop endgültig zu. Er hat recht, ich sollte mir das nicht antun. Ich sollte dort bei Hailee sein und sie anschauen. Ihr Kraft und Sicherheit geben. Ich hätte sie nicht so angehen sollen, auch wenn ich richtig handeln wollte. Verdammt, ich wollte sie vor mir schützen und ihr klarmachen, dass ich ein Monster sein könnte, aber dabei habe ich wirklich null daran gedacht, wie ungeliebt sie sich jetzt fühlen muss. Wie viel schlimmer unser Streit das Treffen mit Juan macht. Und dass er womöglich noch eine Macht über sie hat, ob sie das will oder nicht. Durch Jake wurde mir klar, wie scheiße es ist, wenn man über den Dingen stehen will und so verdammt lange für seine Gesundheit gekämpft hat, um am Ende doch von Flashbacks eingeholt zu werden. „Du willst, dass wir hinfliegen, oder?", ich atme tief durch und suche Jespers Blick. Er nickt und leckt sich angestrengt über die Lippen: „Aber ich weiß nicht, wie Atlas das findet. Fuck, aber ich habe Angst, dass er Juan schlägt. Wenn er das tut ..." „Wäre es schlimmer als ein Outing. Damit könnte er seine Karriere komplett vergessen. Vor allem ist Juan ein PR-Profi. Scheiße", murmele ich. „Jes, es tut mir so unendlich leid. Ich wollte auch nicht, dass Atlas noch etwas von meinem Scheiß abbekommt und das ausbaden muss", flüstere ich und balle meine Hände zu Fäusten. „He, er ist sowieso so. Er würde alles für Hailee tun und wäre wahrscheinlich mitgeflogen, selbst wenn du ihr offizieller Begleiter gewesen wärst. Nur haben wir jetzt den Scheiß, dass wir nicht reinkommen. Selbst falls wir noch Hotelzimmer und Flugtickets kriegen, dürfen wir das Studio und das ganze Gelände der Convention nicht betreten", schnauft Jesper und zückt bereits sein Handy, um nach Flügen zu recherchieren. „Jes, warte ... ich ... ich habe nicht das Geld für einen Flug. Oder ein verdammtes Hotelzimmer. Ich müsste erst meine Moms anrufen und –", gestehe ich und schaue zerknirscht. „Ich lege es dir aus. Ich lade dich ein, aber das willst du sicher nicht. Vinz, Geld ist kein Problem. Vor allem nicht in einer Freundschaft", erwidert Jesper locker und lacht, als er mein Gesicht sieht. „Darüber diskutieren wir noch. Aber danke. Ich schwöre dir, dass ich dir alles zurückzahle, wenn wir zurück sind", verspreche ich ihm und atme tief durch. Ich bin noch nie geflogenWieso auch? Seit ich bei meinen Moms lebe, ist Sheera da. Und ich würde sie niemals zurücklassen; außerdem ist es als Regenbogenfamilie nicht gerade einfach, in der Welt-geschichte herumzureisen. „Kein Stress, Vinz. Und hey, das Gepäck hast du auch schon da. Und es gibt einen Flug in drei Stunden, das könnten wir schaffen", bietet Jesper an und springt auf. „Okay. Und ich kümmere mich darum, dass wir reinkommen", höre ich mich sagen. Erstaunt runzelt Jesper die Stirn: „Wie?" „Siehst du dann. Packe du mal schnell deine Tasche. Ich kümmere mich um die Einkäufe. Und rufe ein Taxi – es sei denn, wir fahren mit meinem Motorrad?", schlage ich vor, woraufhin Jesper grinst: „Das machen wir irgendwann nochmal. Du schuldest mir ein paar Fahrten." Ich schlucke und sehe meinen einzigen Freund an: „Mehr als das."  

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