Kapitel fünfundzwanzig

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HAILEES SICHT


Ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen, als wir drei aus dem Wagen steigen und zum Theater schlendern. Atlas rückt den Kragen seines weißen hochgekrempelten Hemds zurecht, während Jesper an seinem schwarzen zupft und schmachtende Blicke über mich hinweg zu seinem Freund wirft. „Ihr seid echt auffällig", kichere ich und hake mich kurzer Hand bei den beiden ein. Im Vergleich zu den beiden bin ich ein richtiger Farbklecks: wie immer trage ich meine roten Dr. Martens und ein gelbes Sommerkleid (extra als Glücksbringer für Vincent) – abgesehen von dem bunten Nagellack, den bunten Bändern und meinem Make-Up. „Und du bist auch auffällig, Hails", Atlas verdreht die Augen liebevoll über mich und nickt den Leuten zu, als sie uns anstarren. „Du denkst doch an deine Knutscherei mit Vincent hier, oder?", flüstert Jesper mir ins Ohr und lächelt die Leute möglichst charmant an. Bei ihm klappt das nicht ganz so natürlich wie bei meinem Bruder, der nach außen hin lässig mit der Aufmerksamkeit umgeht. „Hi, ihr drei", auf einmal zucken Atlas und Jesper neben mir zusammen. Sanna hat meinem Bruder die Hand auf die Schulter gelegt, während Tate Jesper erschreckt hat. „Hi, das war echt witzig", begrüße ich Vincents Moms und umarme die beiden stürmisch. „Na, wie geht es euch?", Tate stemmt die Hände in die Hüfte und grinst dann, als sie an meinem Handgelenk einen ihrer Glücksbringer entdeckt, die sie mir geschenkt hat. „Gut", schießt es aus Atlas heraus, dann seufzt er, „eigentlich ist es gerade etwas stressig. Die Gerüchte um uns brodeln immer lauter und wir tun nichts dagegen. Und wahrscheinlich hat Vincent das mit unseren Eltern erzählt ..." „Hat er", bestätigt Sanna ihn und lächelt mitfühlend: „Tut uns leid zu hören. Und auch, falls unsere Kommentare unangebracht waren." „Nein, sie haben ja gestimmt", Jesper lacht und fährt über seine Tattoos an den Unterarmen, „sie haben uns sogar irgendwie geholfen. Wenn schon unsere Eltern uns nicht unterstützen ..." „Das ist scheiße. Wir haben ein offenes Ohr, falls ihr das wollt. Egal, zu welcher Thematik. Vincents Freunde sind auch unsere", schmunzelt Tate und hakt sich bei Jesper unter. Die beiden geben ein witziges Duo mit ihren dunklen Outfits ab: Tate mit ihrer Lederjacke und dem schwarzen Rock, während Jesper sein Hemd hat und sichtlich seine eigene Lederjacke vermisst, aber nach den Fotos von Atlas konnte er sie wohl schlecht tragen. Atlas' helles Hemd passt zu Sannas Jeans, zu der sie eine helle verwaschene Jeansjacke trägt, mit deren Ärmel sie sich bei meinem Bruder einhakt, sodass wir zu fünft lachend nach drinnen gehen. Die meiste Zeit reden wir Frauen drauf los und staunen über die aufwendige Deko, die in dem Theater verteilt wurde: Im Vorraum hängen überall Masken von der Decke, das Popcorn wurde dunkel eingefärbt und selbst die Schalen für die Nachos sind schwarz mit einem weißen Schriftzug; alles ist farblich mit den Plakaten an den Wänden abgestimmt, die Vincent und Dylan nebeneinander zeigen. Es ist komisch, ein so heißes Bild von meinem Freund in zwanzigfacher Ausgabe an der Wand kleben zu sehen, vor allem, wenn ich mitbekomme, wie ein paar junge Frauen über ihn schwärmen und Selfies mit dem Poster machen. Andererseits sollte ich es von Atlas gewohnt sein – und doch ist es anders, weil es Vincent ist. Ob er das überhaupt gut findet? Wahrscheinlich nicht. „Das ist unser Sohn", ruft Tate auch laut und pfeift laut herum, bis Sanna ihr lachend den Mund zuhält und ergriffen lächelt. „Und dein fester Freund", säuselt Jesper und legt den Arm um mich, woraufhin ich nur lächele: „Und eurer Freund." „Unser guter Freund", verbessert mein Bruder mich mit einem warmen Grinsen und bringt damit fast Sanna und Tate zum Weinen, die sich ergriffen ansehen. „Es ist toll, dass Vincent solche Freunde wie euch gefunden hat", verkündet Sanna und marschiert dann zielstrebig zu dem Kontrolleur, um ihm unsere Karten zu geben. Natürlich sitzen wir in der ersten Reihe, auch wenn ich noch lieber vom Technikträger oben zusehen würde. Bei der Erinnerung muss ich tatsächlich grinsen und werfe verstohlene Blicke auf die Bühne, wo logischerweise der Vorhang noch hängt und keinen einzigen Blick auf die Darstellenden freigibt. „Schaut mal, ist das Atlas Harper?", ruft auf einmal jemand, als wir uns gerade auf die Plätze setzen und ich meinen Sitz nach unten klappe. Atlas neben mir zuckt zusammen und sieht sich suchend um, doch natürlich schauen alle nach vorne zu uns. „Und dieser Jesper Young ist auch dabei", verkündet wieder jemand über das Publikum hinweg und ein paar Leute kichern. „Kein Wunder, dass die eine schwules Theaterstück sehen", feixt jemand anders. Diesmal entdecke ich die Teenagerin, die boshaft kichert und Fotos von uns macht. „Und wieso siehst du es dir an?", will ich auf sie losgehen, da reißt Atlas mich am Arm wieder auf meinen Platz und drückt mich nach unten. „Hails, bitte", zischt er und fährt sich nur gestresst durch die Haare. Jesper neben ihm überschlägt die Beine und setzt sich schnell breitbeinig hin, als wieder ein paar Blitze von hinten über uns aufleuchten. „Atlas, diese Mädels sind schrecklich. Sie sorgen dafür, dass ihr euch unwohl fühlt. Jes hat seine Sitzposition geändert, um vermeintlich hetero zu wirken. Was für ein Scheiß!", flüstere ich zurück und balle meine Fäuste, wie Vincent es immer tut. Irgendwie bin ich stolz, dass ich mir etwas von ihm abgeguckt habe. Vor allem so etwas Selbstbewusstes und Beschützendes. „Ist alles okay?", Sanna beugt sich von meiner linken Seite zu mir und lässt dabei nicht Tates Hand los, die bereits auf die Bühne schaut und aufgeregt Popcorn isst. „Bei mir schon", raune ich ihr zu und will gerade ansetzen, noch etwas zu sagen, als Jesper aufstöhnt. Fragend drehe ich mich zu ihm, als ich sein Problem sehe: Madison schlendert lächelnd zu uns; in der Hand eine Cola und eine Tüte Popcorn, auf der Dylan abgebildet ist. „Hi, Hailee! Hallo, Atlas", zwitschert sie und bleibt vor uns stehen; hastig umarme ich sie zur Begrüßung und deute Jesper unauffällig an, dass wir die Plätze tauschen können. Dankbar lässt er sich auf Atlas' andere Seite fallen, damit ich mich neben Madison setze und mich zurücklehne, damit sie noch Atlas begrüßen kann. Mein Bruder wirkt überfordert, wie er mit ihr umgehen soll, doch Madison lacht nur und plaudert darauf los, als wären die beiden nie auf einem Date gewesen. Stattdessen schwärmt sie zwinkernd von Dylan und macht ein paar Anspielungen auf Atlas und Jesper, aber stellt keine unangebrachten Fragen, wie die, die auf Social Media immer lauter werden. „Also bist du jetzt mit Dylan zusammen?", frage ich sie irgendwann und lächele unverbindlich. „Nö", sie zuckt mit den Schultern und spielt an ihren kurzen Haaren, „mal sehen, wohin es mit uns geht. Keine Sorge, an deinem Bruder bin ich nicht mehr interessiert. Er ist echt heiß und lieb, aber beim Date hat er so viel Interesse an mir gezeigt wie eine Wand. Und das braucht keiner." „Das stimmt. Tut mir leid, dass ich dich nicht gewarnt habe", ich räuspere mich und weiche noch immer ihren Blicken aus – auf keinen Fall will ich Atlas oder Jesper versehentlich durch ein Grinsen outen. „Ach, dafür kann niemand etwas. Wahrscheinlich hänge ich mehr an Dylan als gedacht", winkt sie gut gelaunt ab und quiekt, als sich der Vorhang öffnet. Ausgerechnet Dylan und Vincent treten auf die Bühne und bringen den ganzen Saal sofort zum Verstummen. Noch bevor Vincent irgendetwas sagen kann, schmelze ich dahin und strahle ihn unterbrochen an. Doch er sieht nicht einmal ins Publikum, nicht einmal zu mir, sondern behält die ganze Zeit seine Maske auf, von der er gesprochen hat. Erst bin ich enttäuscht, aber je länger ich ihn ansehe und an seinen Lippen klebe, desto stolzer bin ich. Er lässt sich auf der Bühne fallen. Er spielt nicht mehr, er lebt diese Rolle aus. Er schreit, er weint und er liebt Dylan – zwar sind es irgendwelche vermeintlichen abgeschirmten Küsse, aber er bringt es fertig, sich Dylan zu nähern und knöpft ihm das Hemd auf. Ich könnte nicht stolzer sein.

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