Kapitel vierunddreißig

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HAILEES SICHT


„Hails", Vincent klingt ganz nah. Sofort blinzele ich und blicke in sein kantiges Gesicht, das über meins gebeugt ist. „Guten Morgen", ich lächele ihn an, wobei mein Herz sofort rast. Sobald ich auf seine Lippen schiele, denke ich an das, was heute Nacht passiert ist. An seine sanften Berührungen, unser leises Lachen und seinen Atem, als ich ihn ebenfalls anfassen durfte. Niemals hätte ich gedacht, dass er das zulässt. Dass ich das will. Aber ... „Guten Morgen. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber Atlas und Jesper versuchen durchgehend, uns anzurufen", unterbricht Vincent den schönen Moment. „Was?", sofort richte ich mich auf und stelle fest, dass mir die Decke vom Brustkorb gerutscht ist. Hastig greife ich nach dem dicken Stoff und bedecke damit meine nackten Brüste, woraufhin Vincent mich ansieht: „Hails. Es tut mir leid, ich wollte eigentlich anders neben dir aufwachen." „Ich auch neben dir. Aber ... wir haben ja noch ein paar Chancen", stammele ich. Wahrscheinlich laufe ich dabei rot an, auch wenn ich damit gar nicht meinte, dass wir auch die letzten Kleidungsstücke ausziehen könnten, sondern einfach, dass wir unendlich viele Male nebeneinander aufwachen können. „Die haben wir. Wer soll rangehen?", schmunzelt Vincent und greift nach seinem Handy. In seinem Display steht Jespers Name, in meinem Atlas'. „Ich, okay?", ich seufze und schnappe mir mein Handy vom Nachttisch, dann halte ich es zwischen uns und drücke auf den Lautsprecher. „Ist alles okay? Ihr ruft uns dauernd an. Ich hab euch auf den Lautsprecher gestellt", begrüße ich müde meinen Bruder, der hoffentlich noch immer mit Jesper in dem Zimmer über uns liegt. „Nein, es ist alles ... es ist echt beschissen", murmelt Atlas und atmet tief durch. Dann rauscht es, als würde Jesper ihm das Handy abnehmen oder über seine Kleidung streichen. „Wart ihr noch nicht auf Social Media?", fragt Jesper langsam. Verwirrt sehe ich zu Vincent, der sich durch die Haare fährt und sich sofort anspannt. Seine Brust wirkt hart wie ein Brett, seine Fäuste sind geballt und die Muskeln seiner tätowierten Oberarme zucken verdächtig. „Nein, worum geht es? Verdammt, hat Juan irgendetwas öffentlich gemacht? Dass Vincent ihn geschlagen hat? Oder meine Zwangsstörung? Sagt schon, was hat er in der Hand?", werde ich langsam ebenfalls nervös. Doch Atlas seufzt nur auf und scheint sich das Weinen zu verkneifen, was mir das Herz bricht: „Nein, nein. Mit euch ist alles in Ordnung. Ich weiß nicht mal ... wahrscheinlich sind die Übeltäter unsere Eltern. Ich weiß es nicht ..." „Verdammt, was ist los?", knurrt Vincent neben mir und rückt näher an mein Handy, als ob das helfen würde. „Wir wurden geoutet. Es gibt ein Video, wie wir zusammen aufs Hotelzimmer verschwinden. Wir wir uns im Flur kurz berühren. Und es wurden riesige Schlagzeilen daraus gemacht", nuschelt Jesper und stöhnt auf. Schockiert blicke ich in Vincents grüne Augen, die ebenfalls besorgt aussehen. „Es sind nur Gerüchte", sagt er dann sanft und greift nach meiner Hand, die zittert. „Nein, sie bringen sogar Interviews. Von Kommilitonen, von Atlas' Exfreundin oder einer meiner One-Night-Stands", fügt Jesper hilflos hinzu. Jetzt höre ich meinen Bruder deutlich aufschluchzen; es bricht mir das Herz. „Sie klopfen dauernd an die Zimmertür und wollen Fotos, ein Statement, irgendetwas", schnieft er dann erschöpft und gleichzeitig so verängstigt. So, wie ich meinen Bruder noch nie erlebt habe. Wahrscheinlich so, wie sonst eher ich auf ihn wirke. „Dann müsst ihr an den Paparazzi vorbei. Dann fliehen wir zusammen aus dem Hotel und müssen uns am Flughafen bedeckt halten. Und in Wisconsin verbarrikadiert ihr euch in eurer Wohnung, gerne auch bei mir daheim, bis wir eine Lösung gefunden haben. Bis ihr wisst, was ihr sagen wollt", bleibt Vincent neben mir ruhig und steht bereits auf. Atemlos beobachte ich, wie er nur mit seiner schwarzen Boxershorts bekleidet zu seinem Rucksack läuft und sich ein frisches graues T-Shirt schnappt. Sofort fühle ich mich nackter, wenn ich nur den gelben Slip von gestern Abend trage, der nicht einmal zu meinem roten Bralette gepasst hat. „Und wie sollen wir hier weg?", fragt Jesper heiser. „Über den Balkon kommt ihr in unser Zimmer. Vor unserer Tür ist doch niemand, oder, Hails?", fragt Vincent und sieht mich an. „Halt, halt, wie jetzt?", unterbricht Atlas meinen Freund, der seelenruhig bereits in seine Vans schlüpft und mir mein Bralette hinhält. Dankbar lächele ich ihn matt an und ziehe es mir über; als ich meine Locken aus den Trägern gezogen habe, hat Vincent mir bereits meine Sachen von gestern aufs Bett gelegt. Auch wenn es sehr süß ist, tappe ich trotzdem schnell zu meinem Koffer, um mir ein frisches Top zu schnappen; die Jeansshorts ziehe ich mir wieder an, auch wenn damit die gestrigen Erinnerungen verknüpft sind. Sofort lächele ich und begegne Vincents Blick, dann öffnet er hastig unsere Balkontür und geht nach draußen. „Er ist draußen", teile ich den anderen perplex mit und lege dann auf, um ebenfalls nach draußen zu flitzen. Die Fliesen unter meinen nackten Füßen sind heiß, auch wenn es erst frühmorgens ist. Doch hier draußen ist es schon hell; von dem dritten Stock aus hat man einen begrenzten Blick über die flachen Dächer von Veracruz. „Alter, das ist hoch!", zischt Jesper von oben. Vincent vor mir lehnt sich bereits mit dem Rücken ans Geländer und blickt nach oben zu den anderen beiden. „Das geht. Ich mache es euch vor", beschließt Vincent und steigt bereits aufs schmale Geländer aus Eisen. Mit seinem Händen hält er sich locker am oberen Balkon fest, der zu knarzen beginnt. Aus Reflex quieke ich auf, als er springt und sich nach oben zieht. Sofort stürze ich zum Geländer und sehe nach oben, wo Vincent bereits mit einem Bein über dem Geländer sitzt und mich angrinst. Äußerst stolz und lebendig, sodass ich nur den Kopf schüttele und mir auf die Lippen beiße. „Hails, kannst du das Gepäck nehmen? Sonst kümmere ich mich gleich darum", bietet er an, ich schüttele den Kopf: „Ich hab zwar keine Muskeln, aber ich werde wohl einen Koffer und eine Tasche halten können." „Na ja, du hast schon sehr dünne Ärmchen", witzelt Jesper, woraufhin ich ihm den Mittelfinger zeige und kichere: „Also geht es dir besser, wenn du Sprüche machen kannst." „Ja, außerdem darf ich das, ich bin auch unsportlich. Wahrscheinlich sterbe ich sowieso, wenn ich da jetzt runter muss", erwidert er und beugt sich zu mir runter. Entgegen meiner Erwartungen sieht Jesper wirklich beunruhigt und verweint aus. Sein Dutt hat sich fast schon wieder aufgelöst, falls er heute je einen hatte. „Hails, hier", Atlas reicht mir erst seine Tasche, die ich keuchend schnappe, dann Jespers Koffer, bei dem ich tatsächlich fast vom Geländer falle, als ich ihn halten soll. Während ich den Koffer ächzend über das Geländer wuchte und ins Zimmer bringe, höre ich, wie Vincent den beiden erklärt, wie sie klettern sollen. Dann erscheint als Erster wieder Vincent auf unserem Balkon und macht sich bereit, Atlas zu fangen, als mein Bruder sich vom Balkon hängen lässt. Seine Beine sind fast zu kurz, als er nach dem Geländer strampelt. „Ich lenke dich, okay?", übernimmt Vincent das Kommando und drückt Atlas' Beine sanft in die richtige Richtung, dann springt mein Bruder schon auf den Balkon und landet vor mir. Sowohl das Adrenalin als auch der Schock sind ihm ins Gesicht geschrieben. Seine treuen braunen Augen gucken traurig und hilflos, als ich zu ihm hoch sehe. „Es wird alles gut", probiere ich es mit seinen Worten und umarme ihn einfach fest. Sofort schlingt er ebenfalls die Arme um mich und bettet seinen Kopf in meine Haare, sodass wir beide lächeln. Ich lehne mich ebenfalls gegen sein beigefarbenes T-Shirt und achte darauf, nicht auf seine weißen Puma-Sneaker zu treten, als wir stolpern. „Ich kann das nicht!", ruft Jesper von oben. Sofort lösen wir uns voneinander und treten ans Geländer. Jesper umklammert oben das Metall und sitzt darauf, schwingt sich aber nicht drüber. „Jes, sei einfach wie diese Yedi-Ritter aus Star Wars", beschwört Atlas ihn und greift panisch nach meiner Hand. „So funktioniert das nicht", mault Jesper rum und schüttelt den Kopf. „Dann komme runter und erkläre mir das nochmal. Und ich verspreche dir, dass wir daheim alle Teile schauen", lockt Atlas ihn mit Jespers Lieblingsfilmen, die sogar ich zur Hälfte schon einmal gesehen habe. „Mit Chili, Sushi und Wein?", vergewissert Jesper sich, mein Bruder nickt: „Mit Rot- und Weißwein. Und Wasabi-Nüssen und Reiswaffeln. Alles, was du willst." „Okay", Jesper wirft sich über die Eisenstäbe und hängt ächzend zwischen beiden Balkonen. „Oh Gott! Das ist so hoch! Wie hast du das gemacht?!", schreit er herum, Atlas zuckt zusammen: „Psht! Sei leise!" „Jes, du musst nur auf das Metall steigen", Vincent greift nach Jesper, der aber wild um sich tritt und zappelt. „Ich kann das nicht! Ich gehe nicht ins Gym oder mache Kampfsport so wie ihr!", brüllt er hilflos. „Aber du schaust genug Filme!", zischt Atlas und wirkt verzweifelt. „Das bringt nichts! Ich rutsche!", schreit Jesper hilflos und sucht mit seinen Boots nach dem Geländer, doch rutscht immer wieder ab. Vincent greift dauernd dazwischen und versucht, Jespers Füße zu lenken, doch scheitert an den panischen Tritten unseres Freundes. „Fuck!", brüllt Jesper und dann geht alles viel zu schnell. Jesper kann sich nicht mehr halten und fällt; Atlas neben mir hechtet zum Geländer und Vincent beugt sich drüber, um Jesper im Fall zu schnappen. In der einen Millisekunde sieht es so aus, als würden sie beide fallen, in der anderen schlägt Vincent mit dem Hinterkopf auf den Balkon, Jesper liegt auf ihm und klammert sich an ihm fest. „¡Dios mío!", Atlas sinkt zu Boden und zieht Jesper nach oben. Kurz starre ich noch das Wirrwarr am Boden an, unfähig mich zu bewegen, dann knie ich mich schnell zu Jesper und Vincent, die stöhnen und sich aufrichten. „Jes, geht es dir gut?!", mein Bruder greift nach der Schulter seines Freundes, der noch immer auf Vincent liegt. Sofort rappelt Jesper sich auf und nickt noch ganz unter Storm, während Vincent sich keuchend aufrichtet. „Vinz, blutest du?", ich greife sofort nach seinem Hinterkopf, mit dem er lautstark auf den Beton gefallen ist. Zum Glück spüre ich nichts, nur Haare und eine wachsende Beule. „Nein, alles gut", murmelt er und blinzelt mich an. Dann grinst er schief und sieht zu Jesper, der noch immer nicht von ihm runtergeht. „Danke, Vinz, du hast mir das Leben gerettet", stammelt Jesper auch verlegen und schlägt sich dann die Hand vor den Mund: „Oh mein Gott und ich lag auch noch auf dir und sitze jetzt – Oh Gott, tut mir leid!" Sofort klettert er runter und hält sich an Atlas' T-Shirt fest. „Schon gut, Jes", Vincent grinst matt und lehnt dann seinen Kopf an meine Schulter. Besorgt sehe ich ihn an, doch er lächelt nur und wirkt etwas erschöpft.


VINCENTS SICHT


So wirklich haben wir uns noch nicht alle von dem Schock erholt – oder eher von den Schocks. Immerhin sitzen wir jetzt zu viert auf dem Boden des Hotelzimmers; Jesper sitzt zwischen Atlas' Beinen und hat seinen Kopf auf seine Brust gebettet, während Atlas ihn fest umarmt – noch immer wirkt Jesper etwas panisch wegen vorhin. Ich hingegen bin ruhig, vielleicht etwas zu ruhig, und habe nur den Arm um Hailee gelegt, die ihren Kopf auf meine Schulter bettet und mir ihre Locken in die Nase hält. Als sie mich wieder kitzeln, schmunzele ich sie an und fange kurz Hailees warmen Blick. „Als ob ihr die Schlagzeilen nicht mitbekommen habt", murmelt Jesper irgendwann und reißt uns aus unseren Gedanken. „Nein, wir ähm", stammelt Hailee und wird rot, woraufhin ich ebenfalls grinse und kurz ihre Hand streife. Die anderen beiden, die an der Wand lehnen, sehen zu uns: Jesper lacht dreckig, Atlas zieht nur seine Augenbrauen hoch und lächelt wissend. „Wir haben auch geschlafen", verteidigt Hailee uns sofort und kichert, ich nicke zustimmend und fahre mir durch die Haare. „Ja. Ihr wart aber auch wach", bemerke ich und lache, als die beiden rot werden. „Ich weiß echt nicht, wie unsere Eltern das tun konnten", brummt Atlas und wird ernster. „Moment, ihr denkt, sie waren das?", ich runzele die Stirn und merke, wie Hailee sich an meiner Schulter aufrichtet: „Ja, und selbst wenn nicht, haben sie sicher Interviews gegeben." „Und andere anonyme Quellen. Wie wäre es mit Madison?", schlägt Jesper vor, woraufhin Hailee schnaubt: „Nein, das würde sie doch nicht tun." „Nicht mal Dylan", stimme ich ihr nachdenklich zu, auch wenn ich bezweifele, dass es ihn interessieren würde, falls Madison ihm ihre Vermutungen erzählt hätte. „Scheiße, wir wissen es also nicht", seufzt Jesper, als er auf einmal aufschreit: „Fuck, Leute, was war der Start? Warum wurden Interviews gegeben? Wegen des Videos, oder?" Ich zucke mit den Schultern, aber Atlas nickt: „Ja?" „Dann hat jemand hier das Video geleakt. Und zwar niemand vom Hotel, schließlich wurde das nicht von den Überwachungskameras aufgenommen, sondern mit einem wackelnden Handy." „Jemand von der Convention", murmelt Atlas hilflos, woraufhin Hailee leise seufzt und zerknirscht schaut: „Wahrscheinlich Juan? Er hätte allen Grund dazu. Ich habe ihn öffentlich bloßgestellt und gedemütigt, wie er es wahrscheinlich sieht." „Und ich habe ihn geschlagen. Oh Gott, Leute, es tut mir leid, dass ich das getan habe. Ich hätte es abkriegen sollen, aber nicht ihr", höre ich mich heiser sagen. Innerlich könnte ich schreien – es ist so typisch für mich. Immer mache ich – „Vinz, schau mich an", Hailee greift behutsam nach meinem Kinn und dreht es zu sich. Angespannt sehe ich meine Freundin an, die den Kopf schüttelt: „Du bist nicht schuld. Wenn überhaupt ich, weil ich das öffentliche Statement gesetzt habe oder weil ich damals so dumm war, mich auf ihn einzulassen. Aber nicht du." „Du auch nicht", sagen Atlas und ich gleichzeitig, woraufhin wir beide matt lächeln. Hailee schmunzelt nur hilflos und spielt an ihren Armbändern. „Und mir tut es leid, dass ich den Zimmertausch vorgeschlagen habe. Das war dumm", Jesper räuspert sich, woraufhin wir anderen den Kopf schütteln. „Nein, es war perfekt. Es war eine tolle Nacht", nuschelt Hailee und bettet den Kopf auf ihre nackten angewinkelten Knie. „Und wir müssen das tun dürfen", brummt Atlas erschöpft und sieht hilflos an die Decke: „Keiner von uns ist schuld. Auch wenn ich damals hätte –" „Nein, auch du nicht", Jesper unterbricht ihn erst verbal, dann mit einem kurzen Kuss. Atlas lächelt nur und umarmt ihn dann noch fester. „Wir haben alle unser Bestes getan", behauptet Jesper und spielt an den Haargummis an seinem Handgelenk. „Und das werden wir auch weiterhin. Egal, was passiert, wir halten zusammen. Wenn ihr das wollt natürlich", biete ich an und bekomme von Hailee einen Schlag gegen den Oberarm: „Natürlich!" „Ja, bitte komm mit in unsere Wohnung, sobald wir daheim sind", fleht Atlas. Dann räuspert Jesper sich und erzählt, was eigentlich vor unserer Abreise passiert ist. Der Einbruch schockt die Geschwister noch einmal, doch sie sind ruhiger als bei dem Video. Vielleicht, weil wir gerade in Sicherheit in diesem Hotelzimmer sind und wissen, dass wir einander vertrauen können. Auch wenn es echt noch ungewohnt ist, dass sie mir alle drei vertrauen. Sogar mit ihrem Leben. 

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