Kapitel vierzehn

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HAILEES SICHT


Ich will nicht wieder zusammenbrechen. Ich will nicht, dass der Kuss mit Vincent Auswirkungen auf mich hat. Nicht wie Juan. Vincent ist nicht Juan. Und ich bin nicht die alte Hailee. Und dennoch habe ich Angst davor, als ich nach Hause komme, ins Bad zu gehen. Als Erstes werfe ich Vincents Hemd auf mein Bett und kicke dann meine Boots in die Ecke. Schäle mich aus dem gelben Top (wieso musste ich auch etwas Gelbes anziehen?!), wechsele vorsichtshalber auch das Bralette und meine kurze Jeans, sogar den roten Slip, der zeigt, dass es mir gefallen hat. Mir. Natürlich nur mir. Sofort steigen mir wieder Tränen in die Augen und ich schluchze leise auf, als ich mir aus meinem Schrank hastig einen neuen Slip und ein schwarzes Nachthemd hole, um dann ins Bad zu tappen. Der schwierigste Moment. Ich sehe nicht wirklich in den Spiegel, als ich anfange, mir das Gesicht zu waschen und dann nach der Zahnbürste greife. Mierda. Zitternd gebe ich Zahnpasta darauf und fange an, mir die Zähne zu putzen. Nach ein paar Sekunden hole ich mir mein Handy, um leise einen Song von Bon Jovi einzuschalten und die Uhrzeit im Blick zu behalten, damit ich nicht wieder durchdrehe. In den Spiegel sehe ich die ganze Zeit nicht einmal, bis ich wieder die Zahnpasta ins Becken spucke, mir den Mund ausspüle und mein Gesicht im Handtuch verberge, um lautlos zu schreien. Danach nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und tapse über den Flur ins Zimmer meines Bruders, der die Tür nur angelehnt hat. Hier drinnen riecht es natürlich frisch und kuschelig zugleich, so wie immer, und ein bisschen Mondlicht fällt durch den elektrischen Rollladen. Atlas liegt mit dem Rücken zum Zimmer gedreht da und atmet gleichmäßig, viel zu friedlich. Ich kann ihn nicht wecken. Nicht nerven. Ihm nicht seinen Schlaf und seine Ruhe klauen. „Hails?", nuschelt er schlaftrunken, als ich wieder einen Schritt rückwärts mache und gegen seinen Schreibtisch stoße. „Kann ich bei dir schlafen?", presse ich heraus und schaffe es, dabei nicht in Tränen auszubrechen. „Immer", murmelt mein Bruder, wobei die Sorge in seiner Stimme nicht zu überhören ist. Zu meinem Glück knipst er ausnahmsweise nicht sofort das Licht an, sondern lässt mir die Zeit, von selbst über den flauschigen Teppich zu ihm zu tapsen und unter seine Bettdecke zu kriechen. Erst, als ich meinen Kopf auf das Kissen neben ihn bette, schniefe ich wieder und rolle mich wie ein Baby zusammen. „Was ist passiert?", flüstert Atlas sanft und streicht mir durch die Haare, als ich meinen Kopf in sein Kissen drücke. „Wir haben uns geküsst", spreche ich es aus. Die Erinnerung sprengt wieder meine Mauern, alles, was ich bis eben verdrängt habe, und summt wie ein schriller Ton durch meinen Kopf. „Hat er ...?", Atlas richtet sich panisch auf und beugt sich über mich, aber ich schüttele den Kopf und halte mich an seiner warmen Bettdecke fest. „Nein. Eben nicht. Ich ... es war perfekt. Vincent war so ... er war so echt. Und warm. Und süß. Und liebevoll. Und ich dachte wirklich, er würde dasselbe empfinden. Aber ich war so schlecht und so viel und irgendwie zu wenig und keine Ahnung", schluchze ich los, woraufhin Atlas nur ratlos atmet und mich dann vorsichtig umarmt. Ich bette meinen Kopf auf seine Brustkorb, sodass er sich wieder hinlegen kann, und weine in sein hellblaues oder graues T-Shirt, man erkennt es in der Dunkelheit nicht, während er mir durch die Haare streicht und mich umarmt. Dann erzähle ich ihm alles. Oder ich rede irgendeinen Schwachsinn und lausche, ob er manchmal brummt oder knurrt. „Ich würde ihn gerne umbringen, weil er dich so verletzt hat. Aber das, was er gesagt hat, klingt so, als würde er dich heilen. Ich weiß es nicht, Hails, was ich machen soll. Was wünschst du dir von mir?", fragt Atlas nach einer Weile, in der wir nur geatmet haben und ich ihn platt liege. Ich schmunzele in die Dunkelheit und zucke dann hilflos mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung", wispere ich kraftlos und entspanne mich langsam unter seiner Decke. „Bereust du den Kuss?", hakt er nach. Es ist deutlich zu hören, dass es ihm missfällt, mit mir darüber zu sprechen. Wahrscheinlich will er so etwas nicht von seiner kleinen Schwester hören. „Nein, den Kuss nicht. In dem Moment hat es sich perfekt angefühlt. Und ich war so glücklich. Über das, was er gesagt hat. Und dass ich ihn sorgenfrei küssen konnte. Es war so einfach, Atlas. So einfach, wie ich es nie für möglich gehalten hätte", diesmal schniefe ich, glaube ich, vor Glück. „Aber dass du auf seinen Schoß geklettert bist? Hails, das war ein großer Schritt. Ein guter für dich. Du bist so viel mutiger und freier als du es damals warst. Du tust, was sich richtig für dich anfühlt, und ich könnte nicht stolzer auf dich sein. Du hast alles richtig gemacht. Du warst du und wenn Vincent das nicht reicht, dann hat er ein Problem. Mit sich und mit mir", beruhigt mein Bruder mich leise und drückt mir einen Kuss ins Haar, was mich müde lächeln lässt. Vermutlich liege ich schon seit einer halben Stunde in seinen Armen und fange an, mich mit heute Nacht abzufinden. „Machst du denn, was sich für dich richtig anfühlt? Wenn du mit Madison redest? Ich mag sie, aber ich will nicht, dass du sie datest", wechsele ich das Thema, woraufhin Atlas müde grunzt. „Jes will das auch nicht", nuschelt er dann genervt und dreht sich auf die Seite. Ich rolle mich neben ihm zusammen und greife nach seiner Hand. „Und was denkst du?", lasse ich nicht locker, woraufhin Atlas schnaubt und sich wieder zu mir dreht: „Seit wann willst du so sehr auf mich aufpassen? Also ähm bei dem Thema." „Weil ich das hätte früher machen sollen. Du verdienst es so sehr, so etwas auch zu erleben, Atlas. Und ich will nicht, dass es dir so wehtut, wie es mir gerade wehtut", wispere ich und suche im Dunkeln seinen Blick. Mein Bruder schließt nur müde die Augen und tätschelt meine Hand. „Mir geht es gut. Und keine Sorge, bei Madison empfinde ich nichts dergleichen, sie hat mich übrigens heute Abend auf Instagram angeschrieben und nach einem Date gefragt, aber ich habe abgesagt. Besser gesagt hat Jes das von meinem Handy aus gemacht", lenkt er mich ab, woraufhin wir beide leise kichern, „und Hails, ich hasse es, das sagen zu müssen, aber dir tut das mit Vincent so weh, weil du Angst hast, dass er es dir nicht erklärt und sich entschuldigt. Dass du ihn verlierst, bevor du ihn je wirklich hattest. Und das letzte Mal, als du wegen Juan so oft geweint hast, hattest du Angst, dass du ihn nicht loswirst. Beziehungsweise dass er wiederkommt." Mierda. Und genau deswegen bin ich zu meinem Bruder gekommen.

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