VINCENTS SICHT
Meine Laune schlägt sofort um, als ich Sheera sehe. Meine Hündin springt am Gartenzaun auf und ab, als sie mich vom Motorrad steigen sieht und bellt vorfreudig. Zu allen Nachbarn ist sie immer bissig und fletscht die Zähne, aber nicht bei mir. Das haben wir gemeinsam. „Vincent?", höre ich Mom sofort rufen und lächele erschöpft. „Bin daheim!", bestätige ich sie und springe lässig über das Gartentor, wobei ich knapp neben Sheera lande und ihr über ihren weichen Kopf wuschele. Sofort wirft sie sich an mich und schleckt mir über die Hände. „Na, meine alte Dame? Hast du mich vermisst?", flüstere ich ihr zu und laufe mit ihr in den Garten. Sie folgt mir, so war es schon immer. Sie ist mein Schatten. Seit vierzehn Jahren. „Sie hat dich schon gehört, das tut sie immer", begrüßt mich Mom Sanna, die gerade den Tisch eindeckt und lächelnd aufsieht. Mom Tate sitzt bereits da und fädelt noch Kraftsteine auf eine Kette, die sie einer ihrer Patientinnen aus der Heilpraxis schenken will. „Was ist los?", fragt Tate ohne aufzusehen. Seufzend lasse ich mich auf die Bank fallen, woraufhin Sheera prompt ihre nasse Schnauze auf mein Bein legt und nach Essen bettelt. „Alles", murmele ich und sehe meinen Moms nicht in die Augen. Ich spüre, dass beide mich besorgt mustern. Höre ihr lautes Schweigen und sehe, ohne hinzugucken, wie die beiden sich anschauen. „Ich hab sie heute getroffen. Atlas und Jesper", wispere ich kraftlos und lehne meinen Kopf an die kühle Hauswand. Schon gestern war ich daheim ein Wrack und bin durchgedreht, als ich Hailee getroffen habe. „Deine Freunde aus dem Kindergarten?", hakt Sanna nach und setzt sich vorsichtig neben mich. Jetzt drehe ich mich langsam zu ihr und schlucke: „Die einzigen, die ich je hatte." „Sag so etwas nicht, mein Großer", sie streicht mir lächelnd durch die Haare und legt den Arm um mich. „Es ist die Wahrheit, Mom! Ich hatte nie Freunde. Ich will keine Freunde, das ist einfacher", werde ich lauter und verstumme. Ich will meine Moms nicht anschreien. Weil ich dann nicht mehr mich höre, sondern jemand anderen. Dann bin ich jemand anders, wenn ich die Kontrolle verliere. Und dieser jemand will ich nie werden. „Und das heißen wir nicht gut. Vincent, jeder braucht Freunde. Und Sheera allein reicht nicht. Dass du die beiden Jungs getroffen hast, ist ein Zeichen. Zufälle gibt es nicht", mischt Tate sich ein und rutscht auf den Stuhl gegenüber; seufzend legt sie ihre Arbeit beiseite und greift nach meinen Händen, was ich über mich ergehen lasse. Und auch Sheera versucht wieder, mich abzulecken und zu besänftigen, aber in meinem Kopf ist nur noch Chaos. Noch schlimmer, auch in meinem Herzen. Selbst die Splitter meiner Seele beginnen, sich langsam wieder zusammenzusetzen. Nach sechzehnverdammten Jahren. „Natürlich war das kein Zufall. Es war doch klar, dass Atlas seine Schwester mal abholt", ich zucke mit den Schultern, auch wenn es mir einen Stich versetzt. Natürlich freue ich mich für die beiden Jungs, dass sie all die Jahre lang den Kontakt gehalten haben, aber ein kleiner Teil von mir ist neidisch, dass die beiden sich behalten haben und ich alleine rausgegangen bin. Aber so war es schon immer, ich bleibe immer alleine übrig. „Seine Schwester, mhm", Sanna kichert und sieht mich warm an. In ihre Augen tritt ein Funkeln, das ich noch nie bei ihr gesehen habe. „Unwichtig", knurre ich die beiden an und kraule lieber nur Sheeras Kopf, woraufhin sie sich auf meine Vans setzt und sich an mich lehnt. „Du bist gestern fast durchgedreht, du warst nicht mehr du selbst. Oder nicht mehr der, für den du jahrelang gekämpft hast. Mein Großer, gestern warst du auf einmal wieder sechs Jahre alt wie damals, als wir dich adoptiert haben. Du bist wieder aufs Dach geklettert, wurdest aggressiv und weinerlich zugleich und wolltest uns ausschließen. Diese Regression gefällt mir nicht", merkt Tate an und dringt zu mir durch. Blinzelnd schaue ich in die dunklen Augen meiner Mom, in denen Tränen glitzern. „Tut mir leid, ich wollte euch keine Sorgen bereiten. Aber so ist es nicht, ich meine, nicht nur. Natürlich kommen mit den dreien Erinnerungen an den Kindergarten hoch. Natürlich sind es verdammt schlechte, wenn ich daran denke, wie ich geweint habe und mich von ihnen abgekapselt habe. Trotzdem sind da auch gute, wenn ich daran denke, wie unbeschwert ich vor den ganzen Ereignissen war. Ich weiß noch, wie ich Atlas und Jesper am allerersten Tag im Kindergarten kennengelernt habe und wir gespielt haben. Wie ich die beiden zu uns nach Hause eingeladen hab und meine Mutter mit ihnen gebacken hat, wir Musik gehört haben und in das Baumhaus geklettert sind, das mein Vater gebaut hat. Und wie wir uns zu ihm aufs Sofa gesetzt haben, Fußball geschaut und Malzbier getrunken haben. Das sind gute Momente gewesen. Mit meinen leiblichen Eltern und mit meinen besten Freunden. Und auch wie Atlas uns bei sich daheim Hailee vorgestellt hat. Wie sie in den Kindergarten kam, als wir fast wieder draußen waren. Und wie ich auf sie aufpassen wollte, obwohl es mir selbst schlecht ging ...", schwelge ich in der Vergangenheit. Zum ersten Mal ist es tatsächlich ein Schwelgen. Kein Hass, keine Trauer, keine Traumata. „Warst du damals schon in sie verknallt? Du hast uns nie von dem Kindergarten erzählt. Aus gutem Grund natürlich, erst gestern so wirklich", wagt Sanna sich weiter und schenkt mir Pepsi-Cola in mein Glas ein. Gierig trinke ich sie und lächele meine Mom dankbar an, dann schaue ich grimmig: „Ich war nicht in sie verknallt. Sie war drei, ich war fünf. Sie war einfach ... Hails. Ich mochte sie, obwohl sie so gelb und fröhlich war. Oder vielleicht gerade deswegen." „Und jetzt?", zwitschert meine Mom weiter, ich lache rau auf und schüttele wild den Kopf: „Nichts. Ich halte mich von ihnen fern. Von ihnen allen drei." „Weil du nicht zurück in die Vergangenheit willst?", errät Tate meine Gedanken und schaut grübelnd. „Ja. Und weil ich Angst hätte, dass ich ihnen vertrauen könnte. Aber ich will nicht über damals reden", platzt es aus mir raus. Meine Moms schauen mich mitleidig an – genau das hasse ich. Genau deswegen will ich nicht mit Hailee, Atlas und Jesper reden, verdammte Scheiße. „Aber wenn du jemanden liebst, dann willst du, dass derjenige dich kennt. Und dass du ihm vertraust und er oder sie dir, mein Großer", wispert Sanna und wirft Tate einen liebevollen Blick zu. „Ich will aber niemals jemanden lieben. Weder freundschaftlich noch romantisch. Nur euch drei", ich schenke den beiden ein müdes Lächeln und streiche Sheera über den Kopf. „Das reicht nicht", brummt Tate und verschränkt ihre Arme vor der Brust. Ich lache feixend und deute auf die zwei: „Und ihr? Ihr habt auch nur euch." „Und dich, du bist das größte Geschenk", Tate streckt mir die Zunge heraus, woraufhin ich ihr den Mittelfinger zeige. „Ihr zwei wieder. So, dann hole ich jetzt endlich das Essen nach draußen? Rate mal, was es gibt, Vincent", Sanna reibt sich die Hände und lächelt stolz. „Mom, du hättest auch Reste aus dem Restaurant mitbringen können! Du musst für mich kein Mac'n'Cheese daheim kochen!", schimpfe ich mit ihr und weiche Tates bohrenden Blicken aus, als ich kurz gedanklich abschweife. Ich bin mir sicher, dass deren Fragerei noch lange nicht beendet ist.
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...