Kapitel dreiundvierzig

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VINCENTS SICHT


„Dann bis nächste Woche!", ruft Jesper, als wir Schulter an Schulter die Fahrschule verlassen. Kaum fällt die Glastür hinter uns ins Schloss, sieht er mich an: „Und, was sagst du? Ziehst du die Fahrstunden durch?" „Ja, auf jeden Fall. Der Fahrlehrer wirkt okay und ich will verdammt nochmal auch mit dem Auto fahren können", erwidere ich heiser und lächele. Es war mir zu peinlich, mit meinen Moms herzukommen, also sind Jesper und ich zusammen gegangen, zumal er jetzt seinen Motorradführerschein machen will. Ein paar Theoriestunden können wir zusammen belegen und sehen uns vielleicht mal, wenn wir zu den Fahrstunden erscheinen. „He, deine Kawasaki ist fucking cool, du hast mich echt motiviert", mein Kumpel stößt mich an, sodass wir lachend über den Gehsteig stolpern. „Danke, Mann", ich grinse Jesper an, der seinen Dutt neu bindet und flucht, als er fast gegen einen Laternenpfahl läuft. Dieser Teil der Stadt ist nicht so hell beleuchtet wie das Wohnviertel von Hailee, Atlas und Jesper, aber auch damit komme ich klar. Inzwischen mag ich das dunkle Nachtleben von Milwaukee, wenn ich mit den anderen unterwegs bin und nicht nur von Dach zu Dach springe wie ein Schatten. „Findest du meine Frisur gut?", fragt Jesper, als wir die dunklen Schaufenster betrachten, die neben uns liegen. „Ja? Wieso? Ist es wegen Atlas?", ich runzele die Stirn und vergrabe meine Hände in den Taschen. Jesper neben mir nickt und wirkt nervös, was gar nicht zu ihm passt. Neben Mom Tate ist er die selbstsicherste Person, die ich kenne; danach kommt wahrscheinlich Dylan. „Ja, ich – ich denke, er will mir bald einen Antrag machen. Und ich ihm", murmelt Jesper und sieht mich abwartend an. „Was? Echt?", ich grinse und klopfe ihm auf die Schulter. „Ja, ich meine, wir sind noch so jung. Aber es fühlt sich richtig an. Und ich will, dass wir uns gleichzeitig einen Antrag machen. Vor ein paar Tagen habe ich Hailee und Atlas heimlich in ihrem Zimmer reden hören, als sie dachten, dass ich in der Küche wäre und kochen würde ...", erzählt mein bester Freund und lacht glücklich. „Es ist nicht zu früh, nicht, wenn ihr das beide wollt. Es wäre doch beschissen, sich an irgendwelche Konventionen zu halten. Ihr liebt euch so sehr, Jes. Und das seit dem Kindergarten", ich schüttele fassungslos den Kopf und warte, ob Jesper wieder etwas loswerden will: „Ja, ich will einfach, dass alle wissen, dass dieser heiße, liebevolle und perfekte Politiker zu mir gehört. Und ich könnte der First Man werden, wenn man das so nennen kann." Diesmal lachen wir beide rau und sehen einander ergriffen an. „Danke, dass du es mir erzählst", werde ich ernst und merke, wie sich ein warmes Gefühl in meiner Brust ausbreitet. All die Jahre lang wollte ich keine Freunde, dabei habe ich so etwas verpasst. Vertrauen. Liebe. „Klar, Mann. Mir tut es leid, dass ich dich jetzt zu meinem Vertrauten gemacht habe und du ein Geheimnis vor Atlas haben musst, wo wir eigentlich zu dritt oder viert abhängen. Aber ich dachte, wenn Atlas sich Hails schnappt, kriege ich dich", witzelt Jesper, ich nicke und lache: „Ich bin also nur die Notlösung." „Absolut. Und du musst vor Hailee den Mund halten", frotzelt Jesper und wirkt entspannter. „Kein Problem", verspreche ich es ihm. Hailee hat mir schließlich auch noch nichts von Atlas' Plänen erzählt, was absolut in Ordnung ist – es betrifft nichts uns und wir werden noch früh genug darüber reden, wie es ihr damit geht, auch wenn sie sicherlich nicht fröhlicher sein könnte. „Sicher? Ihr sollt unsretwegen keine Geheimnisse haben", überlegt Jesper neben mir und läuft langsamer, als wir uns dem Pub nähern, in dem wir uns mit Atlas treffen wollen. „Alles cool, Jes. Zwischen Hails und mir passt alles", ich schmunzele und beiße mir auf die Lippen, als ich an unser letztes Date im Theater denke. Seitdem haben wir nur noch telefoniert, weil sie sich auf ihren ersten Unitag heute vorbereiten wollte. „Uhhh, das klingt vielversprechend", Jesper pfeift durch die Zähne und lenkt die Aufmerksamkeit von ein paar Besoffenen auf uns, die uns entgegenkommen. „Jes! Psht!", knurre ich ihn nur an und merke, wie ich aber grinse. „Wie fühlst du dich damit?", lässt Jesper nicht locker. Früher hätte mich so etwas genervt, heute bin ich froh, dass ich so einen guten Freund habe, der für mich da sein und mich verstehen will. „Gut. Wirklich gut. Ich bin manchmal noch immer überrascht, dass ich so etwas tun will und kann. Aber dann merke ich, dass es das Richtige ist, weil es mit Hailee ist. Und umgekehrt habe ich schon manchmal Zweifel, dass es zu viel oder zu wenig ist, aber – aber ich denke, das gehört dazu. Vor allem fühle ich mich in dem Moment sicher und sie sich bei mir auch, glaube ich", höre ich mich sagen und stocke. „Was ist los?", bemerkt Jesper meine Unsicherheit und bleibt stehen. „Ich habe das, was zwischen Hailee und mir lief, wirklich genossen. Aber ich denke, wir werden für den letzten Schritt wirklich noch lange brauchen. Also ich. Und ich will sie nicht aufhalten. Ich meine, sie ist neunzehn, verdammt. Sie wollte vor ihrem ersten Unitag so viel erleben und heute ist es soweit und –", gestehe ich Jesper und schlucke. Bei ihm fühle ich mich auch sicher, keinesfalls bewertet oder belächelt, weil meine Sexualität so kompliziert ist. „Vinz, Mann, sie liebt dich. Und Sex ist nichts alles, und das sage ich, obwohl Atlas und ich es echt oft treiben", Jesper grinst, sodass ich auch lächeln muss, „und ihr habt beide echt viel durchgemacht. Und falls sie wirklich ein Problem hätte, damit zu warten, würde sie es sagen. Du kennst Hailee. Außerdem weiß sie ja, dass sie nicht auf irgendwen wartet, sondern auf dich. Ganz ehrlich, wenn sie wollte, könnte sie diese erste Erfahrung mit irgendwem machen. Hätte sie mit diesem Arschloch Juan machen können. Aber sie wollte sie mit dem Richtigen. Mit dir." Dankbar grinse ich Jesper an. „Danke. Bereust du es, dass Atlas und du es nicht früher gecheckt habt?", wechsele ich dennoch das Thema. „Hm, manchmal. Aber andererseits ist es egal, weil es belanglos mit Frauen war. Sex wurde erst so richtig geil, als es mit Atlas war. Und dass wir beide noch nie etwas mit einem Mann hatten, hat auch geholfen", plaudert Jesper los und strahlt dann über das ganze Gesicht. Ich folge seinem Blick und entdecke Atlas, der gerade aus dem Pub kommt und zu uns stürmt. Mit seinem beigefarbenen Hemd und der grauen Jeans fällt er sofort auf und zieht Jesper in seinen Bann, als die beiden sich mit einer Umarmung und einem Kuss begrüßen. „Hi, Vinz", Atlas strahlt mich ebenfalls an und zieht mich in eine Umarmung, die er erwidere. Langsam gewöhne ich mich auch daran. „He, alles klar bei dir?", frage ich und deute auf den Pub, in dem Atlas alleine auf uns gewartet hat. „Ja, größtenteils. Da drinnen fotografieren ein paar Leute, aber es nervt, wenn wir uns ständig verstecken müssen", seufzt Atlas und läuft in unserer Mitte los. Jesper streift kurz seine Hand und grinst ihn verliebt an, ich schmunzele nur und checke die Umgebung. „Was habt ihr eigentlich so ernst geredet?", erkundigt Atlas sich und schiebt sich seine Sonnenbrille auf die Nase, als wir die Stufen der Bar erklimmen. Von drinnen hört man bereits eine leise Rockmusik und Gelächter. „Das Übliche, unser Sexleben und das deiner Schwester", raunt Jesper und lacht dreckig, als Atlas rot wird und seinen Freund ansieht: erst vorwurfsvoll, dann innig. „Sie ist immer noch meine kleine Schwester", er rümpft die Nase und stößt die Tür auf, sodass wir uns nach drinnen schieben. Zielstrebig führt er uns an den reservierten Tisch, der an der Wand steht; in der Nähe hängen nur ein paar Kakteen und Flaschen von der Decke – es ist offensichtlich, dass Hailee die Bar ausgesucht hat. Atlas rutscht auf den Stuhl, während Jesper sich auf die Eckbank gegenüber fallen lässt und ich mich auf den zweiten Stuhl setze – den Platz am Tischende auf der Bank lassen wir für Hailee frei. „Aber jetzt ernsthaft, Vinz, du kannst da auch mit mir drüber reden", Atlas beugt sich zu mir und sieht mich aufrichtig an. „Ich weiß. Ihr seid beide sehr gute Freunde für mich geworden. Wieder geworden", erwidere ich rau und sehe in Atlas' dunkelbraune und danach in Jespers dunkelblaue Augen. „Du bist auch unser bester Freund", Jesper schmunzelt und deutet mit einer Fingerpistole auf mich. „Nach uns selbst", lacht Atlas und sieht Jesper an, der nickt. „Und Hails", ergänze ich amüsiert und greife nach der Getränkekarte. „Ich weiß es gar nicht, ich würde mich nicht zwischen Vinz und Hails entscheiden wollen", denkt Jesper laut und stützt sich auf seinen Händen ab. Atlas neben mir lacht und lehnt sich im Stuhl zurück. „Ich mich auch nicht zwischen euch", brumme ich nur und betrachte das Paar am Tisch. „Du bist echt süß geworden. So warmherzig und nahbar", zieht Atlas mich lächelnd auf und weicht mir aus, als ich einen Schlag andeute. „Ne ne, ich muss schon noch meinen Ruf als Eigenbrötler und einsamer gebrochener Bad Boy wahren", erwidere ich kühl und zupfe an meinen Lederbänden, die ich mir neu gekauft habe. Inzwischen fühlen sie sich nicht mehr wie ein Schutz an, sondern passend. Als wäre das nicht nur eine Maske geworden, in die ich reingewachsen bin, sondern etwas, auf das ich unwissentlich hingearbeitet habe. Erst nur mit dem Ziel, die Vergangenheit zu verdrängen – und jetzt habe ich sie akzeptiert. Lebe damit. Setze mich Stück für Stück zusammen. Habe nicht mehr nur drei Familienmitglieder, die mir dabei helfen, sondern sechs.

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