HAILEES SICHT
Jake Moore. Jake Moore steht vor uns, anders kann es nicht sein. Zwar hatte ich nie eine Erinnerung an ihn, als Vincent von ihm erzählt hat, aber jetzt ploppt ein verschwommenes Bild auf, wie er Vincent nachmittags vom Kindergarten abholt, ihn Huckepack trägt und Vincent dabei ausgelassen lacht und uns winkt – als noch alles gut war. Als Avery Moore noch gelebt hat. Und gesund war natürlich. „Vincent, mein Junge", stößt er hervor und hebt beschwichtigend die Hände. „Er ist nicht Ihr Junge! Gehen Sie weg! Oder ich rufe die Polizei", rufe ich und sehe zu Vincent – das ist doch, was er will, oder? Er hat mich vor meinen Eltern verteidigt, also werde ich alles geben und versuchen, ihn vor Jake zu schützen. Aber wie? Der Typ ist fünfzehn Zentimeter größer als ich, breit gebaut und vernarbt – er wird im Gefängnis Schlimmeres erlebt haben als eine schwache Teenagerin, die ihn kratzen kann. „Ich tue euch nichts. Ich will nur reden. Bitte. Gebt mir zehn Minuten, dann kann ich für immer verschwinden", Jake lächelt mich verzweifelt an, was falsch aussieht: „Du bist Hailee Harper, nicht wahr?" „Das ist egal", ich versuche ihn selbstsicher anzusehen, aber zittere nur. Ich kann nur in diese khakifarbenen Augen starren, die so anders als Vincents aussehen. Und doch so gleich, was mich schockiert. Beide sind leer. „Vincent will nicht mit Ihnen reden. Oder?", ich schaue zu Vincent, auch wenn ich Jake nicht aus den Augen lassen will. Doch Vincent steht nur hinter mir und starrt den Mann vor uns an. „Bitte, mein Junge, ich bin seit gestern aus dem Gefängnis entlassen worden. Mir ist klar, dass du dir wünschst, ich wäre dort geblieben. Oder tot. Und ich schwöre dir, dass es mir auch lieber wäre. Ich habe so, so oft darüber nachgedacht, es für dich leichter zu machen und mich umzubringen. Ehrlich gesagt auch für mich. Dann wäre ich bei deiner Mutter und müsste nicht mit meinen Taten leben, aber vielleicht wäre das eine Absolution, die ich nicht verdient habe. Egal, was meine Strafe wäre, sie wäre nicht genug. Die Größte ist es, dich verloren zu haben, das weiß ich. Aber ... aber ... ich konnte mich nicht umbringen, ohne dir einmal ins Gesicht sagen zu können, dass es mir leid tut. Und zu sehen, dass es dir besser geht. Dass du ein gutes Leben hast", Tränen treten in Jakes Augen und er sinkt auf die Knie. Ich weiß nicht, ob ihn seine Gefühle zerfressen oder ob er uns damit eine Sicherheit geben will, indem er sich verwundbar macht. „Wie könnte ich?", erwidert Vincent dann heiser und schüttelt langsam den Kopf. „Ich wollte es nie zerstören, niemals. Und ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich es bereue, was ich dir damals angetan habe. Meinem Sohn", beharrt Jake und knetet seine Hände. Erst jetzt wird mir bewusst, dass er nur noch sechs Finger hat. Der Rest sind dunkle Stumpfe, als hätte man die Finger abgehackt und ihn nicht versorgt. Übelkeit steigt in mir auf und ich drehe mich notgedrungen von ihm weg, um mir die Hand vor den Mund zu halten. „Ich bin nicht mehr dein Sohn", bricht es aus Vincent hervor. In seiner Miene regt sich kein einziger Muskel. „Doch. Nicht auf dem Papier, aber du bist mein Sohn und das wirst du immer sein. Bis zu meinem letzten verdammten Atemzug und darüber hinaus. Aber ich weiß, dass ich mein Recht verwirkt habe, dein Vater zu sein. Aber ich liebe dich, Vincent, und ich werde nicht damit aufhören. Auf eine ... nicht auf die damalige Weise. Als ich dich ... als ich dich misshandelt habe. Als ich dich für meine Dämonen verletzt habe. Das war nicht ich. Das war ... das soll keine Entschuldigung sein, das kann es nicht. Aber bitte glaub mir, dass ich das nicht wollte. Dass ein Teil in mir war, der von sich selbst so schockiert, angewidert und beschämt war, aber dass dieser Teil aufgegeben hat. Dieser Teil ist jeden Tag ein Stück mit deiner Mutter gestorben. Ich hatte sie aufgegeben, ich hatte mich aufgegeben. Jede Tat war damals für mich durch den Alkohol begründet, was falsch war. So unendlich falsch und krank. Jede Tat war, um mich selbst zu hassen, um das Leben zu hassen, um dem Leben einen Grund zu geben, damit ich auch sterbe. Um einen Grund zu finden, wieso ich es verdient haben sollte, dass deine Mutter stirbt. Aber der Grund kam nie, ich wurde der Grund. Und ich ... ich ... ich hasse mich selbst so unendlich dafür, dass ich es nicht ertrage, zu leben. Aber wie könnte ich sterben, ohne ... ohne es dir gesagt zu haben? Ohne dir das hier zu geben", schluchzt Jake und greift mit seinen drei Fingern an der rechten Hand in die Jackentasche seiner karierten Jacke. Eine, die viel zu sehr an Vincents geliebte Hemden erinnert. Zum Vorschein kommt ein silberner Schlüssel. „Bitte", er hält ihn in die Luft, aber Vincent bewegt sich keinen Zentimeter. Hilflos sieht Jake mich an, aber ich bewege mich nicht und halte nur schützend meine Hand vor Vincents steifen Brustkorb. „Das ist der Schlüssel zu dem Postfach, das ich für dich eingerichtet habe. Ich habe jeden Tag seit meiner Festnahme einen Brief an dich geschrieben, Vincent. Mir ist klar, dass du keinen einzigen davon lesen willst. Aber ... aber ich will es versucht haben. Und dir sagen, dass ich jeden Tag an dich gedacht habe. Es jeden Tag bereut habe, was in deinem Zimmer geschehen ist. Was ich dir angetan habe. Nacht für Nacht. Es tut mir so unfassbar leid und das reicht nicht. Nichts wird aufwiegen können, was ich getan habe. Nichts, was irgendjemand probiert", presst er hervor und legt dann den Schlüssel vor meine Boots. Schluckend mustere ich das Metall und zittere, als ich meinen Fuß darüber stelle, damit Vincent nichts damit tun kann. „Was wurde versucht?", presst Vincent hervor und sieht mich nicht an. „Das, was zu erwarten war, wenn man einen Kinderschänder ins Gefängnis schickt. Die anderen Insassen haben mehrmals versucht, mich zu töten. Sie haben mich mit Messern attackiert, mich im Werkraum unter die Säge geschoben, mit Hammern meine Finger und Zehen abgetrennt, meinen Kopf in Rohre gepresst, sie haben – das willst du nicht hören. Sie haben mir das Gleiche angetan, was ich dir angetan habe. Mit Stöcken, mit Besen, mit Besteck, mit sich, mit allem. Sie haben mich gefoltert, gequält, töten wollen. Ich war bereit, das alles zu ertragen und durchzustehen, weil ich nur an dich gedacht habe, Vincent. Jede Strafe, die sie für mich hatten, war nicht so schlimm wie das, was ich meinem eigenen fünfjährigen Sohn angetan habe. Ich konnte nie deinen Schmerz empfinden, weder körperlich noch seelisch. Und meiner war nie genug", Jakes Stimme wird immer leiser und sein Schluchzen immer größer. Es geht durch Mark und Bein, es ist laut, es ist tief und es ist zerstörerisch. Und doch empfinde ich eine Nanosekunde Mitleid mit diesem Mann, was ich mir nicht verzeihen kann. Schuldig sehe ich zu Vincent, der noch immer erstarrt ist und die Arme hängen lässt. Er formt nicht einmal eine Faust. „Es tut mir leid, dass dir das geschehen ist. Das hat niemand verdient. Und das, was sie dir angetan haben, macht deine Taten nicht rückgängig", murmelt er dann und sieht zu Boden. „Was habe ich dir noch angetan? Wie schlimm war es?", flüstert Jake und krümmt sich vor Schmerz. „Trauma, Angststörungen, Zwangsstörungen, Trauer, Wut, Depressionen, Suizidgedanken, alles. Einfach alles, was passiert, wenn die eigene Mutter stirbt und der Vater dann verschwindet. Mit dem, was er getan hat. Ich war so verängstigt. Ich hatte eine unfassbare Angst vor meinem eigenen Vater! Und vor mir! Dass ich so werde wie du! Und trotzdem ...", Vincent bricht ab und fährt sich durch die Haare. Zeigt endlich eine Regung. Trotzdem hat er ihn vermisst. Das würde er nur nie zugeben, niemals. „Und trotzdem habe ich jetzt zwei Mütter, die mich lieben. So, wie sie es tun sollten. Nicht so wie du", nuschelt Vincent und macht einen kleinen Schritt auf seinen Vater zu. Sofort mache ich ebenfalls einen, um bei ihm zu sein. Im Notfall seine Hand zu nehmen oder mich dazwischen zu werfen. „Und bist hier im Theater. Ich ... ich habe die Plakate gestern gesehen, als ich herkam. In unserem Theater", murmelt Jake und hebt den Kopf, um seinen Sohn anzusehen. „Es ist meins. Nur meins. Du warst hier nie wieder", knurrt Vincent und ballt seine Faust, um sie wieder sinken zu lassen. „Ich werde auch nicht wiederkommen. Ich belästige dich nicht. Ich respektiere es, wenn du es nicht willst. Ich verspreche es", wispert Jake kraftlos und schließt die Augen, als Vincent ausholt. Aber er schlägt ihn nicht, er weicht nur vor sich selbst zurück und stolpert zur Tür: „Ich bin nicht wie du." „Das hoffe ich auch. Das weiß ich auch. Und darüber bin ich sehr froh", erwidert sein Vater leise und sieht ihm nach, als Vincent nach draußen stürmt. Mich stehen lässt. Mir gefriert das Blut erneut in den Adern. Ich bin alleine mit Jake Moore. Doch er kniet nur am Boden und sieht mich leer an. Sein ganzes Gesicht ist nass und seine fettigen dunkelbraunen Haare kleben ihm lang in der Stirn. Sein Bart ist schmutzig und grau. Seine Klamotten sind zerrissen und stinken. Erst jetzt sehe ich, dass sein Äußeres noch lange nicht so kaputt ist wie sein Inneres. „Bitte hilf mir. Nicht für mich, das habe ich nicht verdient. Wenn du meinen Sohn liebst, dann hilf ihm. Nimm diesen Schlüssel, falls er ihn jemals haben möchte. Selbst wenn er die Briefe nur eigenhändig verbrennen will. Aber er soll sehen, dass ich ihn geliebt habe. Wie ein Vater es tut. Nicht wie ein Monster. Ich meine, das war ich. Aber das eine hat nichts mit dem anderen zu tun", weint er und deutet auf meinen Schuh. Langsam beuge ich mich runter und hebe blitzschnell den Schlüssel auf, doch Jake tut nichts. Greift mich nicht an, bewegt sich nicht. Kaum werfe ich ihn in meine Handtasche, lächelt er kurz und müde: „Danke." „Das ist nicht für Sie. Wenn es nach mir gehen würde, hätte Vincent Sie nicht sehen müssen. Niemals. Ihm das anzutun .. die Blumen. Das hier war sein Abend. Sein großes Stück. Sein Safe Space. Und Sie verhalten sich genau wie vor sechzehn Jahren und zerstören das. Er wird Ihnen weder das eine noch das andere verzeihen", würge ich raus und eile an dem knienden Mann vorbei zur Bühne. Im Augenwinkel sehe ich, wie Jake zu dem Teppich krabbelt, wo das Armband liegt, das ich Vincent geschenkt habe. Ich weiß, dass er es nehmen wird und behalten wird. Das Einzige, was er noch von Vincent hat. Und das, was Vincent wohl niemals haben wollen wird, nachdem es heute Abend war. Und nachdem Jake es berührt hat. Oh Gott, er wird auch mich hassen, weil ich den Schlüssel genommen habe. Aber was hätte ich tun sollen? Wenn jemand anderes ihn gefunden hätte, könnte er die Briefe lesen. Und Vincent hätte niemals in seinem Leben die Möglichkeit dazu. Vielleicht habe jetzt nicht mal mehr ich die Möglichkeit dazu, ihm irgendwann den Schlüssel zu geben.
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shattered souls
Romansa„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...