Kapitel achtunddreißig

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HAILEES SICHT


Noch nie war ich so überpünktlich wie heute. Ich stehe bereits seit zehn Minuten vor dem Haus der Sawyers und traue mich nicht zu klingeln, weil ich mit Vincent ausgemacht habe, dass ich um fünfzehn Uhr da bin. Nicht vorher. Schluckend trommele ich auf dem Lenkrad meines roten Volvos herum und beiße mir auf die trockenen Lippen. Im Beutel auf dem Beifahrersitz blinkt es auf; hastig greife ich nach meinem Smartphone und sehe, dass Tate mir geschrieben hat: Wir sehen, dass du draußen stehst ;) Komm ruhig rein. Gestern habe ich mit Tate und Sanna die Nummern ausgetauscht, offiziell, damit wir uns wegen Vincent in Notfällen absprechen können, aber ich glaube auch, weil sie mich so sehr mögen. Sie haben sogar Atlas und Jesper ihre Nummern für den Notfall gegeben, woraufhin die beiden ganz gerührt waren. „Hails, wieso schreibst du mit meiner Mom und nicht mit mir?", ertönt Vincents raue Stimme neben mir. Quiekend fahre ich herum und blicke in die khakifarbenen Augen meines Freundes. Er hat sich zu mir gebeugt, nachdem er sich hinterhältig und lautlos angeschlichen hat. „Ich kam gar nicht zum Antworten", erwidere ich und warte, bis er sich neben mich setzt. Dafür, dass es heute noch warm ist und ich in Top und Shorts rumlaufe, hat er sich viel zu dick mit seiner Cargohose, dem schwarzen T-Shirt und dem offenen braunen Hemd eingepackt. Im Fußraum verstaut er schnell meinen Beutel und seinen Rucksack. „Was hast du dabei?", ich blinzele ihn an und schaue in die pralle Nachmittagssonne von Milwaukee. „Tja, das ist eine Überraschung", erwidert Vincent heiser und schaut auf seine geballten Fäuste. „Wie geht es dir?", lasse ich nicht locker, er zuckt mit den Schulter: „Es geht schon." „Und passt es wirklich für dich, dass ich fahre?", frage ich und streife vorsichtig über seine Hand. „Ja, ich meine – ich wäre gerne mit der Kawasaki gefahren, aber meine Moms haben recht, es ist zu gefährlich heute. Außerdem fahre ich wirklich gerne bei dir mit", Vincent schmunzelt zum ersten Mal heute und schnallt sich an. Also starte ich den Motor und fahre langsam aus der Seitenstraße. Wir reden nicht, aber das ist okay. Ich spüre, dass Vincent seinen Gedanken nachhängt und manchmal fast vergisst, mich zu lotsen. Je näher wir dem Zielort kommen, desto stiller wird er. Einmal lässt er mich sogar im Kreis um die Siedlung fahren und dann scharf abbiegen, sodass ich fast einen Busch mitnehme, weil es so knapp war, aber ich sage nichts, sondern parke nur in einer Bucht, auf die er deutet. „Welches Haus ist es?", breche ich das Schweigen, „ich erinnere mich dunkel an die Gegend hier, aber niemals würde ich das Haus wiederfinden." „Du warst ja auch noch so winzig", brummt Vincent und lächelt mich halbherzig an, ich runzele die Stirn: „Was ist los? Abgesehen vom Offensichtlichen." „Nichts, ich – ich bin paranoid. Ich hatte einmal das Gefühl, dass uns ein Auto gefolgt ist, deswegen auch der Kreis, aber – das ist Schwachsinn", Vincent steigt kopfschüttelnd aus und verstaut seinen Rucksack im Kofferraum. Ich hingegen reibe mir erst einmal beim Aussteigen über die Arme und sehe mich mit pochendem Herzen um. Vincent täuscht sich nie mit so etwas, er ist der Realist von uns beiden. Doch ich sehe weit und breit nichts. Kein fahrendes Auto, keine Menschen, nur ein ruhiges Viertel, bei dem die Hälfte der Häuser heruntergekommen aussieht. „Hails, mach dir keine Sorgen", Vincent tritt neben mich und greift sanft nach meinem Jutebeutel, um ihn im Kofferraum zu verstauen. „Doch. Und auch um dich", flüstere ich und sehe ihn besorgt an. Vincent grinst matt und greift nach meiner Hand: „Mir geht es soweit gut. Und wir essen später, wenn das für dich passt? Dann gehen wir ins Haus." „Warte, ins Haus?", rufe ich und schiebe mir hastig mein Handy in die hintere Hosentasche und stecke den Autoschlüssel in die vordere Tasche meiner Jeansshorts. Dann lasse ich mich von Vincent quer über den warmen Asphalt ziehen und schaue mich um. Die roten und grauen Dächer kommen mir immer bekannter vor, genauso wie die kleinen wilden Gärten mit den Büschen, Sträuchern und Blumen. Ganz besonders das verwilderte kleine Haus am andere der Straße, dessen Zaun eingebrochen und morsch ist. Hinter dem dunklen Holz ragen riesige Sonnenblumen empor und verdecken fast den Blick auf das alte Haus, dessen Fassade schmutzig und porös wirkt. Das Haus der Moores. „Wie geht es dir?", flüstere ich heiser und verstärke den Druck meiner Finger in Vincents Hand, die verschwitzt und dennoch kalt ist. „Es ist, als wäre sie hier", murmelt er und tritt an das Gartentor. Schweigend lasse ich seine Worte auf mich wirken und schließe die Augen. Tatsächlich ist hier eine Energie, die ich nicht einordnen kann. Ein Gefühl, eine fremde Emotion, aber vielleicht spüre ich auch einfach nur Vincent, der sichtlich tausend Emotionen auf einmal durchlebt. „Du wolltest reingehen?", erkundige ich mich sanft und sehe nach links zu meinem Freund, der bereits über das Gartentor steigt. Steigt. „Ähm", mache ich nur und sehe Vincent an. Er grinst, greift nach meiner Hüfte und sieht mich an. Ohne uns weiter zu verständigen, springe ich hoch und merke, wie er mich fängt und über das Tor hebt, sodass ich mit meinen roten Boots auf seinen schwarzen Vans lande und stolpere, doch er fängt mich mühelos. „Es ist nie wieder jemand hier eingezogen, ich habe so oft gegoogelt. Niemand wollte in einem Haus leben, in dem mehrere Tage lang eine Leiche lag", vernehme ich ihn leise und schaudere. Der Boden unter meinen Füßen ist hart und staubig, die Erde bröckelt, als wir über sie steigen und uns zwischen den Sonnenblumen hindurchschieben. Sie streifen meine nackten Arme und Beine, als würden sie uns aufhalten wollen. Schluckend drehe ich mich zurück zum Tor um, aber es hat sich nicht verändert. Aber Vincents Stimmung ändert sich, er wird immer zielstrebiger und zieht mich zur Haustür. Sie steht offen. „Vinz ...", flüstere ich und kralle mich an ihm fest. „Hails, ich muss da rein. Bitte. Ich war hier nie wieder drinnen und heute ...", er sieht mich hilflos an. Traurig. Gebrochen. „Heute fühlst du dich bereit", erwidere ich leise und will nach seinem Gesicht greifen, doch er dreht sich weg und starrt ins dunkle Innere. Dann sieht er mich an und zurück zum Weg. „Hails, du kannst auch im Auto warten, ich komme klar. Und sollte es einstürzen, will ich, dass du in Sicherheit bist. Verdammt, ich weiß nicht, was uns da drinnen erwartet", gesteht er und fährt sich mit seiner freien Hand durch die Haare. Atemlos starre ich ihn an und schüttele dann energisch meinen Kopf: „Niemals lasse ich dich da alleine reingehen. Du weißt nicht, was dich erwartet. Welche Gefühle. Welche Erinnerungen. Und ... wer oder was da jetzt drinnen ist." „Aber du hast Angst und willst nicht rein", ergänzt Vincent und sieht mich eindringlich an. Und wütend, dass er mich überhaupt erst gefragt hat. „Ja. Aber meine Angst um dich ist größer", höre ich mich sagen. Vincent sieht mich überrascht an. Überrascht, dass ich so mutig bin. Und noch überraschter, dass ich ihn so sehr liebe. Ich spüre regelrecht, wie verzweifelt er heute ist. Wie fassungslos. Wie traurig. Und wie wenig er verstehen kann, dass jemand ihn liebt. Bevor ich noch etwas sagen kann, drückt er die Holztür auf. Es knarzt laut und unheimlich, als sie aufschwingt; uns schlägt ein beißender Geruch von Staub, Holz und Verwesung entgegen – vielleicht bilde ich es mir ein, vielleicht liegen hier ein paar Ratten. Angewidert blinzele ich und halte mir die Hand vor den Mund, als Vincent mich an der linken Hand nach drinnen zieht. Die Dielen knarzen und knacken, als wir ins Innere gehen und den Flur durchqueren. Vincent geht immer einen halben Schritt voraus, testet die Bretter unter uns, ehe ich ihm folge und mich an ihn drücke. Für mich und für ihn. Denn hier drinnen ist es, als wären die Moores nicht weg gewesen. Selbst ich spüre die Schwere der Erinnerungen, die hier hängt. Sehe förmlich die Trauer und die Dunkelheit an den Wänden, die schemenhaft zu erkennen sind. Einzig allein ein paar Sonnenstrahlen fallen durch die Haustür hinter uns. „Früher habe ich es hier geliebt. Ganz früher", murmelt Vincent auf einmal und deutet auf einen Türpfosten. Ich kneife die Augen zusammen, bis ich es sehe: Da sind kleine schwarze Striche, mit denen Avery und Jake Vincents Größe gemessen und verewigt haben. Daneben stehen in geschwungener, perfekter Schrift die Daten. Das letzte ist über sechzehn Jahre her, einige Monate vor Averys Tod. „Du warst so klein", entrutscht es mir, als ich die höchste Markierung ansehe. Weiß, was danach passiert ist. Gequält schließe ich die Augen, weil ich den Anblick nicht ertrage. „Es tut mir leid", murmelt Vincent, ich blinzele und starre in seine tobenden Augen. „Was?", hauche ich und greife diesmal bestimmt nach seinem bebenden Kinn. „Dass du das sehen musst", murmelt er, wobei er kaum seine Lippen bewegt. „Entschuldige dich nie wieder dafür. Mir tut es leid, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Dass ich nicht mit dem Schmerz umgehen kann, den du hast", unterbreche ich ihn hart und merke, dass ich weine. Aus Vincents dunklen Augen löst sich ebenfalls eine einzelne Träne, die seine Wange nach unten läuft. „Ich dachte, es würde einfacher werden. Ein Teil von mir hat gehofft, dass ich mich auch an die guten Momente erinnere. Dass ich sehe, wie Mommy ... wie Avery ... wie sie die Treppe nach unten gesprungen ist, wie sie im Wohnzimmer getanzt hat und wie sich in Jakes Arme geworfen hat. Wie sie uns Schritte beibringen wollte, wie sie uns ausgelacht hat und wie sie sich ans Fenster gelehnt hat, um in den Garten zu schauen. Wie sie geweint hat, wenn Jake ihr eine Sonnenblume gebracht hat, dabei hatten wir immer welche im Garten. Aber sie meinte, dass es nur echte Blumen wären, wenn er sie pflücken würde. Oder ich. Aber nie sie selbst", murmelt Vincent und wischt sich mit seinem Hemdärmel über das Gesicht. Ich sehe ihn nur an und halte seine Hand fest. „Wie war sie noch so?", wispere ich und schlucke. „Früher war sie so lebendig. So lebensfroh und furchtlos und trotzdem so ruhig und schüchtern. Aber sie wusste, was sie wollte. Meinen Vater. Und Freiheit. Habe ich dir erzählt, dass sie eigentlich aus einer reichen Familie aus Kalifornien stammte? Aber sie wollte unbedingt frei sein, nicht ins Unternehmen einsteigen und stattdessen tanzen. Kreativ sein. Leben. Also ist sie mit nichts weiter als einem Koffer von daheim weggelaufen, hat sich in einen Zug gesetzt und ist in Milwaukee gestrandet, wo sie Jake im Theater kennengelernt hat. Die beiden waren sofort verliebt, aber haben sich ewig nicht getraut, etwas zu sagen. Sie waren damals beide so ... schüchtern. Und unsicher. Sagten sie jedenfalls immer", erzählt Vincent mit belegter Stimme. Ich höre ihm zu und starre ihn an. „Was?", er lächelt matt und streicht über meine Hand: „Bist du überrascht, dass ich auch aus einer Unternehmer-Familie stamme? Zumindest biologisch." „Das ist überraschend", stimme ich ihm zu und sehe ihn an: „Empfindest du das denn so?" „Nein. Für mich gab es immer nur schwer arbeitende Eltern, die immer pleite waren. Erst als Tänzerin und Techniker, dann als Köchin und Heilpraktikerin, obwohl die beiden sich echt etwas aufgebaut haben", antwortet Vincent und schluchzt. „Damals hätte ich niemals gedacht, das zu sagen. Dass ich vier Eltern habe. Hatte. Und dann fühle ich mich wie ein Verräter, weil es doch nur meine Mommy – weil ich Avery vergesse. Weil ich mich kaum noch an ihr Gesicht erinnere, kaum noch an sie als Mutter, eher an Momente. Oder an ihr kaltes, totes Gesicht, mit dem sie dort ...", Vincent bricht ab und wendet sich von mir ab. Es zerreißt mein Herz, sogar meine Seele droht zu zersplittern, als ich ihn so schluchzen höre. Wie er sich selbst umarmt und windet, fast wie ein kleiner Junge. Und erst dann begreife ich, dass er es gerade wieder ist. Dass ein kleiner Teil von ihm jetzt erst begreift und zulässt, was passiert ist. „Ich bin hier, wenn du willst", flüstere ich weinend und trete an Vincent heran. Berühre vorsichtig seine Schulter und rechne damit, dass er nach vorne springt oder mich schubst. Doch er sinkt auf die Knie und lässt sich in meinen Armen zu Boden gleiten, sodass ich mich ebenfalls hinknie und die Arme von hinten um seinen schweren, bebenden Körper schlinge. Mein Gesicht in seinem Hemd verberge und verzweifelte, sabbernde Küsse auf sein Hemd hauche und durch seine Haare fahre, während er sich an mich presst und sein Gesicht verbirgt. Er weint, er schluchzt und er schreit lautlos, während ich ihn halte und spüre. „Sie muss mich hassen", schluchzt er hilflos und weint, ich schüttele den Kopf und umklammere ihn. „Nein, sie hat dich geliebt", murmele ich und weiß, dass es stimmt. „Aber ich habe sie verlassen. Ich war nicht mal da, als sie gestorben ist. Ich habe mich im Bad eingeschlossen und war unter der Dusche, als mein Vater geschrien hat. Da wusste ich es. Und ich habe so etwas wie Erleichterung gespürt. Weil ich dachte ... weil ich dachte, dass er vielleicht auch stirbt oder dass er schwach wird und vergisst, in der Nacht zu mir zu kommen oder dass es jetzt vorbei ist", weint Vincent und schreit auf. Und ich halte ihn fest und weine so leise wie möglich. „Sie ... sie wird es dir sicher vergeben haben. Aber du musst es dir selbst vergeben. Du warst ein Kind. Ein hilfloser, kleiner Junge, der ...", ich stocke. Wir wissen beide, was ich sagen will. Was hier in diesem Haus liegt. „Aber ...", Vincent beruhigt sich langsam und liegt in meinem Armen, ich drücke mich an ihn und beuge mich zu ihm, sodass wir uns in die Augen schauen. „Du warst ein Kind", wiederhole ich und streiche ihm über die nasse Wange. „Ich hätte ...", er schluckt und stockt. „Du hättest kein besserer Sohn sein können. Du hast nichts tun können. Vinz, das was passiert ist, konnte niemand ändern. Niemand konnte ihren Tod aufhalten. Du nicht und nicht einmal ...", ich schlucke, Vincent nickt: „Nicht einmal Jake." „Höchstens Rose und Carlos, wenn sie euch die Medikamente gegeben hätten", murmele ich und kann ihm nicht in die Augen sehen. „Nein, Hails, mach dir keine Vorwürfe", Vincent greift sofort nach meiner Hand und richtet sich auf. Verweint, mit Tränen auf den Lippen und Schleim auf den Wangen sehen wir einander an. „Wenn du mir vergeben kannst, wenn du mir sagen kannst, dass ich ein Kind war, wieso dann nicht dir?", höre ich mich flüstern. Vincent sieht mich an. Wirklich an. Er lässt mich frei in seine zerbrochene Seele blicken. „Wenn ich das tue ... dann ...", er schluckt. „Dann wärst du frei. Du musst auch die Vergangenheit freigeben. Du musst Avery freigeben. Und das weißt du, deswegen wolltest du herkommen", erinnere ich ihn sanft und streiche ihm durch das dunkle Haare. Er nickt langsam und wischt sich noch einmal über das Gesicht, dann richtet er sich zitternd auf. Dann wankt er zur Tür und stößt sie auf. Dahinter huschen ein paar Ratten in die Ecken, was mich fast schreien lässt. Hier im Raum steht nur noch ein Sofa. Das Sofa. Ich drehe mich weg und halte mir den Bauch, als Vincent langsam in das Zimmer geht. Jeder seiner Schritte hallt laut durch das Haus. Durch das Erdgeschoss. Durch das Wohnzimmer. „Immer wenn ich an sie denke, sehe ich sie hier liegen. Das ist das Erste, woran ich denke", gesteht er und greift nach dem dunklen zerfressenen Stoff, der staubt. „Und dass sie ... dass ihr Tod und ihr Krebs vielleicht daran Schuld waren, dass Jake ... aber das waren sie nicht", wispert er und kniet sich neben das alte Sofa. „Es tut mir leid, Mommy, dass ich dich dafür gehasst habe", flüstert er. Ich weiß nicht, ob ich es hören sollte. Aber ich weiß, dass sie es hört. Dass Avery Moore irgendwo spürt, dass Vincent sie loslässt. „Es tut mir alles so leid", flüstert er erneut, dann kommt er zu mir und zieht die Tür hinter sich zu. In die Küche und den Rest des Erdgeschosses will er nicht, er steuert gleich die morsche Treppe an und steigt nach oben. Schluckend folge ich ihm und passe auf, dass ich nichts anfasse.

Hier oben tanzen Staubkörner in der Luft. Sie tanzen, als würden sie tatsächlich Ballett tanzen und sich drehen, als würden sie leben. Vincent vor mir bleibt ebenfalls stehen und betrachtet eine Weile mit schwerem Atem das Geschehen, dann marschiert er geradeaus und verschwindet in das Zimmer ganz links. Sein Zimmer. Ich erinnere mich nicht, aber ich spüre es. Mit zitternden Beinen folge ich ihm und kralle mich an meinen Armbändern fest. Dann betrete ich ebenfalls sein Kinderzimmer, in dem Vincent kniet. Er sitzt unter dem Dachfenster, unter dem sein Bett gestanden haben muss. „Trotz der Sonne sieht man den Mond", murmelt er und dreht sich nicht zu mir. Schaudernd bleibe ich im Türrahmen stehen und wage es kaum, mich umzusehen und mich auf den Raum einzulassen. Es ist, als würde ich seine Schreie und sein Weinen hören, aber vielleicht vermischt sich das auch mit dem heutigen. Oder mit meinem Schrei, als sich eine Hand um meine Schulter schließt. Kreischend fahre ich herum und blicke in kalte, blaue Augen. Ein fremder Mann starrt mich hasserfüllt an. „Loslassen!", Vincent knurrt und richtet sich zu seiner vollen Größe auf, als er sieht, was los ist. Die Tränen in seinem Gesicht sehen wie Klingen aus, mit denen er den Mann sofort aufschlitzen will. „Nein. Wenn du näher kommst, Junge, dann drücke ab", knurrt der Mann. Mein Herz rast. Erst jetzt spüre ich, was er da an meinen Hals drückt. Eine kalte, geladene Waffe. „Nein, ich warne Sie. Ich werde Sie töten", knurrt Vincent und lässt mich nicht aus den Augen. Ich weiß, dass er es tun würde und ich würde mir selbst nie verzeihen, wenn er das tun müsste. Ich hätte ihn hören müssen, nicht Vincent. Ich. Ich hätte aufpassen müssen. „Das kannst du nicht, Junge. Vorher erschieße ich euch beide", der blonde Mann neben mir lacht irre auf und schubst mich in den Raum. Die Waffe nimmt er nicht eine Sekunde von mir. „Passt auf, ich will euch nicht töten. Aber ich muss, ich habe keine andere Wahl. Ich brauche das Geld, ich brauche die Medizin", er keucht und sieht mich so kalt an. Ich schlucke und bewege mich keinen Millimeter. „Wie viel Geld wollen Sie?", Vincent hebt bereits die Hände und nähert sich uns langsam. „Zurück! Junge! Ich will dich nicht töten!", der Mann reißt die Waffe von meinem Hals, fuchtelt wild damit herum und drückt mich an sich. „Geht es hier um Harper's Health?", keuche ich, als er den Arm um meinen Hals legt. Ich rieche seinen stickigen Schweiß, spüre seine Angst und höre seinen wilden Puls. Als ich den Namen in den Mund nehme, drückt der Mann fester zu. „Hör zu, Kleine, du bist nicht blöd. Du weißt, wie das läuft. Du gehorchst, rufst jetzt brav deine Mommy an und gibst mir das Telefon. Sie bringt dir hunderttausend Dollar, die Medizin und euch passiert nichts", fordert er keuchend und zittert selbst. „Das kann ich nicht", ich schlucke und schreie auf, als er mich würgt. „Loslassen!", Vincent schreit und sinkt auf die Knie, als der Mann die Waffe hart an meinen Kopf schlägt. „Bleibe am Boden! Ich brauche nur das Geld!", schreit er unkontrolliert und hält mich an meinen Haaren fest. „Ich kann Ihnen nicht helfen", röchele ich und schluchze. „Du hast keine Wahl, Mädchen!", bellt er mich an, „ich habe auch keine. Mein Sohn braucht die Medizin und die Operation, er stirbt sonst! Das ist meine Chance, Mädchen, und deine." „Hören Sie, wir verstehen das", Vincent hebt noch immer die Hände und sieht mich hilflos an. Und so verdammt wütend. Und zerbrochen. Schon wieder ist er hilflos in diesem Zimmer. Schon wieder kauert er am Boden. „Nein! Halt die Schnauze! Ich bin euch nicht von der schicken Wohnung gefolgt, damit ich meinen Sohn nicht retten kann!", schreit der Mann und schießt. Daneben, aber er schießt ziellos auf Vincent. Er zuckt und will sich nach vorne stürzen, aber sieht mich an. Er würde sterben, damit ich lebe. „Bitte, ich flehe Sie an. Nehmen Sie mich und nicht sie. Wir beide sind wertlos, ich schwöre es Ihnen. Ihre Mutter würde nicht einen Dollar zahlen. Sie können uns töten und es ändert nichts. Bitte. Rose Harper ist ein egoistisches, geiziges Miststück. Sie wird Ihnen nichts geben. Sie hat mir nichts gegeben. Meinem Vater nicht. Nicht, als meine Mutter im Sterben lag. Nicht, als sie gestorben ist. Ich weiß, was Sie empfinden", Vincents Stimme zittert, aber bricht nicht. Der Mann neben mir hingegen beginnt zu zittern und schüttelt den Kopf. „Lüge nicht, Junge, du kannst dich so nicht retten", der Mann richtet erneut die Waffe auf Vincent. „Nein!", schreie ich ihn an und schluchze. „Bitte, es ist Wahrheit. Meine Mutter wird Ihnen nichts geben. Weder als Lösegeldforderung, noch als Dankeschön, wenn Sie uns erschießen. Es wird ihr in jedem Fall egal sein", beschwöre ich schniefend den irren Vater, der immer heftiger atmet. „Nein! Ich brauche das Geld! Mein Sohn hat Leukämie! Er braucht das! Er verlässt sich auf mich! Und wenn ich ... wenn ich das Geld nicht bekomme, wenn ich mit leeren Händen zurückkehre, dann bin ich kein guter Vater. Oh Gott, und wenn ich in den Knast gehe, auch nicht. Scheiße, ich brauche das Geld", der Mann schubst mich von sich und läuft wild im Kreis. In dem Moment, in dem ich falle, sehe ich, wie Vincent aufspringt und nach der Waffe des Mannes greifen will. Sehe, wie der Mann die Augen aufreißt und herumfährt, wie er die Waffe auf Vincent richtet. Sehe, wie er abdrückt. Drehe mich weg und schreie, doch höre ein heftiges Pochen und Krachen. Drehe mich zitternd um und sehe Vincent, der am Boden liegt. Und über ihm ... Jake? Jake Moore?  

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