VINCENTS SICHT
Schade. Schon wieder eine überlebte Fahrt. Ich bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt, dass ich die Fahrten mit meinem Motorrad oder die Sprünge von Dach zu Dach überlebe. Ich denke nicht, dass ich tatsächlich sterben will, dafür liebe ich Sheera und meine Moms zu sehr, um ihnen diesen Schmerz anzutun. Früher hat mein Schmerz überwogen. Ausnahmsweise empfinde ich keine Gleichgültigkeit, als ich meine Kawasaki auf dem Parkplatz abstelle und meinen Helm abziehe. Meine Haare sind ein wenig verschwitzt und mein kariertes Hemd hat es bei der Fahrt verweht, sodass ich es richte und an meinem schwarzen Shirt darunter zupfe, als ich einen Schatten am Ende des Platzes registriere. Ich bemerke Menschen immer lange, bevor ich sie tatsächlich sehe. Spüre ihre Anwesenheit und bekomme bei manchen eine Gänsehaut – bei ihr auch. Hailee lehnt wieder an der mit Efeu überzogenen Hauswand und lässt den Wind unter ihr rotes Sommerkleid fliegen, das nicht ganz so dunkel wie ihre wilden Locken ist. Sofort habe ich wieder einen Flashback. Ich sehe wieder das kleine dreijährige Mädchen vor mir, das sich neben mich setzt und mir einen Löwenzahn hinhält, als ich weine und die Fäuste geballt habe. Sie versteht nicht, warum ich weine. Warum ich zerbreche. Und doch lächelt sie und greift mit ihrer kleinen Hand nach meiner größeren, woraufhin ich sie panisch wegschubse. „Hi", klingt ihre Stimme so viel reifer als in meiner verblassten Erinnerung. Wärmer, fröhlicher und sicherer. Blinzelnd fahre ich mir durch die Haare und verschränke die Arme vor dem Brustkorb. „He", ich nicke ihr zu und warte ab. Sie zupft an den vielen bunten Bändern, die sie an ihrem Handgelenk trägt; diesmal hat sie schwarzen Nagellack aufgetragen, der zu ihren schwarzen Boots passt, die eine rote Naht haben. Warum auch immer lächele ich bei dem Anblick der Schuhe. „Wo ist Sheera denn?", Hailee lächelt mich an und mustert neugierig meine Maschine, an der ich den Helm befestige. „Daheim, ist praktischer so", ich räuspere mich und balle meine Hände wieder zu Fäusten wie damals. „Oh ... schade, sie ist mir sehr sympathisch", flötet Hailee und macht noch einen Schritt auf mich zu. Schluckend weiche ich zurück. Ihre warmen Worte und ihre bunte Aura lösen etwas in mir aus, das mich fühlen lässt. Und das geht nicht. Das will ich nicht. Das kann ich nicht zulassen. „Ja, sie ist die nettere von uns", knurre ich Hailee sofort an und beiße meine Zähne zusammen, als sie aufhört so fröhlich zu strahlen. Unsicherheit überschattet ihre hübschen Konturen und ihre braunen Augen hören auf zu leuchten. „Sorry, ich – ich gehe rein", stößt sie hervor und stolpert rückwärts. Ihr Kleid fliegt ihr um die dünnen Oberschenkel und ihr gelber Beutel, der mir erst jetzt auffällt, rutscht ihr von der Schulter. Scheppernd rollt eine Trinkflasche aus der Tasche, ebenso wie Nagellack, Taschentücher, Ringe und ihr Handy am Boden landen. Hastig kniet sie sich hin, wobei sie mir jedoch einen prüfenden Blick zuwirft. Einen, den ich kenne. Einen, der überprüft, wie viel Abstand zwischen uns ist. Einen, der auf den Boden fixiert ist und um keinen Preis auf Hüfthöhe sein kann. „Hails –", höre ich mich besorgt sagen, da reißt sie panisch ihren Kopf hoch und presst ihre Sachen an sich. „Was hast du da gesagt?", wispert sie und kann nicht verbergen, dass ihre Finger zittern, als sie die Flasche in den Beutel stecken will. „Entschuldige", ist das Einzige, was ich rausbringe. Ich sollte es ihr erklären. Ich müsste es. Doch ich kann es nicht. Nicht, wenn es bedeutet, dass sie sich auch erinnert. Wenn sie wieder weiß, dass wir uns im Kindergarten kannten. Dass ich sie schon einmal an mich herangelassen habe. Dass ich damals geweint habe. Dass ich geblutet habe. Dass sie mich nicht mehr anfassen durfte von einem Tag auf den anderen. Dass ich seit sechzehn Jahren ein Wrack bin. Dass sie mich davor kannte. Und seitdem. „Störe ich?", jemand legt mir die Hand auf die Schulter. Wütend schlage ich die Person weg, zucke automatisch zusammen und gehe in Angriffshaltung. „He, raste nicht aus", Madison hebt beschwichtigend die Hände und schüttelt fassungslos den Kopf – sie kennt meine Geschichte nicht; als sie in die Therapiegruppe kam, hatte ich meine letzten regelmäßigen Stunden. „Ich raste nicht aus", herrsche ich sie an und schiebe mich an ihr vorbei. Hailee beobachtet mich mit ihren riesigen Augen und schluckt, als ich an ihr vorbeirase. Ein kleiner Teil in mir will bleiben, sich entschuldigen und sie aufklären. Aber der vernünftige Teil überwiegt. Er hat mich die letzten Jahre am Leben gehalten, das wird er auch jetzt. Dass Hailee hier ist, ändert nichts daran. Wütend nehme ich Anlauf, greife nach dem Vordach und ziehe mich mit Leichtigkeit nach oben. Erst, als ich ein paar Meter gerannt bin und an der Kante des Dachs ankomme, atme ich aus und schließe die Augen.
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...