HAILEES SICHT
„¡Adiós!", rufe ich laut, als ich bereits an der Haustür bin. Sofort stürmt Atlas aus seinem Zimmer und verschränkt die Arme vor seinem nackten Oberkörper. Scheinbar hat er gerade mal wieder Sport gemacht, weil er noch kein passendes Gym hier gefunden hat, in dem er nicht ständig fotografiert wird. „Was wird das?", fragt er und fährt sich durch seine schweißnassen Haare, woraufhin ich ebenfalls die Arme verschränke und unauffällig meine Locken über das Top fallen lasse, das ich angezogen habe. „Ich gehe mit Madison auf diese Party. Da sind viele Studierende und ich will Leute kennenlernen, bevor mein erstes Semester beginnt", ich lächele meinen Bruder an, auch wenn ich weiß, dass er nichts davon hält. „Hails, ich verstehe, dass du den Kontakt suchst, aber die Therapiegruppe ist doch auch nett. Und wenn du erst einmal alle aus deinem Studiengang kennst und einschätzen kannst, gibt es bestimmt coole Partys ...", argumentiert mein Bruder wie erwartet blöd herum und atmet tief aus. „Ja, aber solange warte ich nicht! Atlas, ich bin nur einmal neunzehn Jahre alt! Und ich brauche diese Freiheit, diese Partys und diese Stimmung. Keine Sorge, ich passe auf mich auf! Ich trinke nicht zu viel und werde nicht kiffen, versprochen", ich hebe feierlich meine Finger, deren Nägel ich rot lackiert habe, darauf habe ich gelbe Symbole gemalt, was mich viel Zeit gekostet hat. „Hails, du weißt, wie deine letzte Party lief! Und das, obwohl deine beste Freundin bei dir war! Wie soll das jetzt mit einer Fremden aussehen?!", Atlas' Stimme wird lauter, aber er schreit nicht, das würde er nie. Dennoch zucke ich zusammen und weiche nach hinten zur Haustür: „Du traust mir überhaupt nichts zu! Ich war da wirklich am Ende und Tori trifft keine Schuld! Ihr ging es da auch nicht gut und sie hatte ihr Drama mit zwei Typen, die beide auf sie standen und –" „Und was? Hails, ich sage nicht, dass Tori keine gute Freundin ist, denn das ist sie. Und mir wäre es lieber, wenn du einfach mit ihr auf eine Party gehst, wenn sie uns hier in Milwaukee besucht. Oder du fliegst mal nach New York, da ist sie doch gerade, oder? Aber du gehst nicht mit einer Wildfremden auf eine abgefuckte Collegeparty oder was auch immer das ist", bleibt Atlas besonnen und kommt auf mich zu. Ich recke trotzig das Kinn und schaue ihn verzweifelt an: „Ja, sie ist in New York. Zufälligerweise ist sie auch gerade damit beschäftigt, Musik zu machen und ihre Depressionen zu bekämpfen. Das sind zwei Dinge, bei denen ich sie nicht dauernd stören kann. Wir schreiben uns täglich, aber ich werde sie nicht mit solchen Nichtigkeiten nerven. Wie Partys. Außerdem will ich eben nicht, dass sich meine letzte Party wiederholt. Aber stell dir vor: Juan ist nicht hier. Und seitdem hatte ich verdammt viele Therapiestunden, habe meine Störung nahezu überwunden und bin älter. Überlegter." „Überlegter? Du? Hails, du bist der emotionalste, sensibelste und impulsivste Mensch, den ich kenne. Da will ich, dass du nicht alleine bist", murmelt Atlas und hält mich sanft an den nackten Schultern fest: „Bitte, Hails." „Nein, ich muss das machen. Ich kann nicht wie du den ganzen Tag meine perfekte Zukunft ausbauen, mein erwachsenes Leben im Griff haben und die Abende mit meinem besten Freund verbringen! Oder ruhig Klavier spielen oder Sport machen. Atlas, ich brauche Leute, Partys, Vibes, Emotionen, Erlebnisse und Drama. Ich will da hin. Und ehrlich gesagt brauche ich auch neue Leute, nicht nur die aus der Therapie. Die mich im Übrigen alle gestern schräg angesehen haben, als Vincent nicht aufgetaucht ist", ich schlucke und versuche, die Erinnerung zu unterdrücken. Es hat sich unfassbar demütigend angefühlt, dass alle letzte Woche gesehen haben, wie wir geredet haben und wie ich meine Geschichte erzählt habe – und dass er dann nicht mehr kam. Andererseits ist er ja schon frei von diesen Sitzungen und offiziell gesund, auch wenn ich nicht weiß, ob ich das glauben soll. „Was diskutiert ihr hier so laut?", Jesper kommt auf seinem Zimmer gestapft, sein Dutt ist aufgegangen und seine langen schwarzen Haare hängen über den Kopfhörern, die auf seinen Schultern ruhen. „Hails will auf diese blöde Party. Hey, kannst du sie nicht begleiten?", schlägt Atlas vor und wischt sich unsichtbare Krümel von seinen nackten Armen. Sofort sieht Jesper weg und fährt sich durch die Haare: „Ne, ich zocke. Und ich finde, Hails sollte das machen. Partys sind cool, Mann." „Ernsthaft? Dort könnten Drogen genommen werden und lauter verrückte übergriffige Studenten lauern da auch noch", regt mein Bruder sich auf, woraufhin Jesper ihm auf den Hintern haut: „Spießer." Jetzt errötet mein Bruder tatsächlich und schüttelt den Kopf. „Danke, Jes. Und ich verspreche, dass ich mich benehme. Madison fährt mich dann wieder heim und ich schreibe euch zwischendurch", zwitschere ich und nutze die Sekunde, in der die beiden abgelenkt sind, um nach draußen zu schlüpfen und die Treppen nach unten zu springen. Kaum reiße ich die Haustür auf, prescht ein weißer Maserati vor und hält vor unserer Einfahrt. Madison zwinkert mir zu, als ich die Tür öffne und mich auf den freien Platz neben ihr fallen lasse. „Hi, du siehst ja scharf aus", begrüßt sie mich und fährt gut gelaunt weiter. Ich schnalle mich seufzend an und wühle in meiner Handtasche, um zu kontrollieren, ob ich tatsächlich mein Handy eingesteckt habe. „Oh, danke. Dein Outfit gefällt mir auch", ich lächele sie an und deute auf das Jeanstop, das sie zu einer Shorts kombiniert hat, soweit ich das im Sitzen sehen kann. Ich habe es selbst etwas alternativer und bunter gestaltet: Ich trage ein rotes Top, das auch ein Bralette mit Spitze sein könnte, um die Hüfte habe ich mir ein gelbes Hemd geknotet, dazu eine zerrissene bemalte Jeansshorts und meine geliebten roten Dr. Martens; nicht zu vergessen meine Ringe und Armbänder, durch die ich gleich viel mehr anhabe. „Danke! Denkst du, dein Bruder fände es sexy?", Madison pustet sich eine blonde Strähne aus der Stirn, als sie auf den Highway fährt. Ich lache und öffne das Fenster einen Spalt, damit meine Haare herumgewirbelt werden: „Du hast es echt auf Atlas abgesehen, oder?" „Ja, er ist einfach unfassbar heiß. Und süß. Und er wirkt so warmherzig, beschützerisch und respektvoll. Der perfekte Freund. Jesper neben ihm wirkt eher düster und charismatisch, weil er so eigen aussieht. Aber er hat definitiv auch etwas, findest du nicht?", plappert Madison fröhlich los, was mich entspannt. Ich liebe es, Zeit mit Atlas und Jesper zu verbringen, aber genauso sehr fehlen mir diese leichten Kichermomente, die mich nicht dauernd daran erinnern, wie abgefuckt unsere Eltern sind oder wie sehr man auf mich aufpassen muss. „Jes?", hake ich nach und runzele die Stirn. „Ja, läuft da etwas zwischen euch? Ich meine, der beste Freund des großen Bruders ist doch immer irgendwie heiß, oder nicht?", Madison grinst verschwörerisch und schiebt sich ihre Sonnenbrille ins Haar. Ich lache auf und schüttele den Kopf: „Nein, Jes ist wie ein Bruder für mich." „Dann also Vincent? Oh Gott, du bist doch hetero, oder? Tut mir leid, wenn ich das missverstanden habe!", lässt Madison nicht locker, woraufhin ich mir auf die Lippen beiße. Hier ist er, der Moment, in dem ich eine Entscheidung treffen muss. Madison ist nett und sie könnte eine Freundin werden, aber sie ist ebenfalls vertraut mit den politischen Kreisen und sehr erpicht darauf, mit mir befreundet zu sein. Und sie kennt bereits meine Krankengeschichte, verdammt. „Ja, ich stehe nur auf Typen", bestätige ich sie langsam, hoffentlich nicht zu auffällig. Meine Demisexualität geht sie nichts an, falls sie überhaupt zutrifft. So sicher bin ich mir da noch nicht. „Also habe ich mir das mit Vincent nicht eingebildet?", bohrt sie begeistert nach, woraufhin ich ein Lächeln nicht unterdrücken kann, genauso wenig wie einen Stich in meinem Magen. „Ich finde ihn schon heiß, er ist doch so mysteriös und kühl. Und diese Tattoos sehen echt verboten heiß aus", lasse ich mich auf das Unverfänglichste ein und deute auf die Musikbox: „He, soll ich uns Musik anmachen? Was hörst du gerne?" „Gerne! Such du aus! Und dann erzähl mal", lacht Madison und biegt bei der nächsten Ausfahrt ab. Wir fahren etwas weiter nach draußen, aber sind noch immer in Milwaukee. Neugierig sehe ich mir die Läden und Museen an, die sich um uns herum tummeln, dann konzentriere ich mich wieder auf meine Playlist und schalte ein paar Lieder von Olivia Rodrigo ein, bis Madison doch fragt, ob wir noch Taylor Swift hören können. Immerhin ist sie so sehr mit dem Gesang beschäftigt, dass ich nichts sagen muss. Nichts Privates. Nichts Intimes. Wie mein aufgeregtes Kreischen am letzten Samstag, als Vincent meinem Blog auf Instagram gefolgt ist – zumindest stimmen der Nickname und sein Profilbild. Er hat jedes meiner Fotos geliket, aber nichts kommentiert. Jesper hat mich dazu überredet, ihm mit meinem privaten Account zu folgen, doch noch hat Vincent meine Followeranfrage nicht akzeptiert und auch keinen weiteren Schritt gemacht. Und ist nicht zur Therapie erschienen, weder gestern noch heute.
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...