Kapitel vierzig

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HAILEES SICHT


Vincent hat noch immer kein Wort gesagt. Nicht, seit wir bei ihm daheim sind. Nicht, seit wir zu sechst – oder siebt – auf dem Boden im Wohnzimmer sitzen. Nicht, seit Tate eine Decke um Vincent gelegt hat und Sanna ihm eine Suppe gekocht hat, die er kopfschüttelnd abgelehnt hat. Er starrt nur vor sich hin und krault Sheeras Kopf, die winselt und ihn abschleckt; sie verzweifelt daran, wie niedergeschmettert ihr Lieblingsmensch ist. „¿Quieres hablar sobre todo?", flüstert Atlas mir leise zu, ich lehne mich nur an ihn. Noch immer sehe ich die kalten blauen Augen des blonden fremden Mannes vor mir. Höre den Schuss. Höre den Sturz. Sehe Jakes kalte grüne Augen vor mir. Vincent. Wie er im Wohnzimmer um Avery trauert. Wie er ein paar Minuten später über Jake gebeugt sitzt und leidet. In diesem verdammten Zimmer. Sim, podemos falar. Sería importante para comprendeer", ergänzt Tate mit ihrem brasilianischen Portugiesisch; gerade fühle ich mich nicht dazu in der Lage, ihr zu antworten. Ich verstehe sie nur mit Mühe, aber es reicht. Vor allem ist es wichtig, dass wir nicht vor Vincent alles aussprechen. Doch gerade das scheint ihn wachzurütteln, denn er räuspert sich und nimmt sich die Decke von den Schultern. Jesper neben ihm hebt den Kopf, während Sanna sofort aufatmet und Vincent ansieht. „Können wir ... können wir uns um die Beerdigung kümmern? Bitte", Vincents Stimme klingt rau und heiser. Ermüdet und zerbrochen vom und am Schreien. „Was?", Tate schaut verwirrt, während Sanna überfordert nickt: „Du willst ... du willst, dass wir Jake beerdigen?" „Es ist viel verlangt, ich weiß. Ich kann das von meinem Ersparten zahlen. Aber ich will, dass er neben Avery beerdigt wird. Es ist nicht für mich, es ist für die beiden. Es ist ... ich bin der Letzte der Moores. Mit mir endet die Linie. Mit mir endet alles. Und ...", Vincent stockt, als wir ihn alle ansehen. Ängstlich. „Schatz, es endet nichts. Bitte, tue jetzt nichts – lass uns Doktor Nelson anrufen", stammelt Sanna und greift panisch nach Vincents Hand. Er schüttelt den Kopf und sieht uns alle erschrocken an: „Nein, ich will nicht – ich tue nichts. Mit mir enden nur die Moores. Ich bin ein Sawyer. Das war alles, was ich sagen wollte." Sanna schluchzt auf und umarmt ihn sofort, Tate springt ebenfalls rüber und schlingt die Arme um die beiden, sodass ich den Blick abwenden muss, damit ich nicht weine. Es ist scheiße. Es ist schrecklich, dass ich weine. Oder eher nicht, dass ich weine, sondern warum jetzt die Tränen fließen. Hastig springe ich auf und stürme aus dem Wohnzimmer, die Treppe nach oben und dann ins Badezimmer. Hinter die einzige Tür, die man verschließen kann. Keuchend lehne ich mich gegen das kühle Holz und spiele an meinen Armbändern, die sich so feucht – ich kreische auf und stolpere zurück. Noch immer klebt das Blut an ihnen. Rotbraunes, dickes Blut. „Hails?", ertönt eine vertraue Stimme von der anderen Seite. Entgegen meiner Erwartungen ist es nicht Atlas, der mir sicher auch nachgelaufen ist, sondern Vincent. Mir schnürt es die Luft ab. „Hails, darf ich reinkommen? Oder Atlas?", fragt er und gibt mir den Rest. Oh Gott, jetzt bin ich die, die Hilfe braucht, dabei war das heute Vincents Albtraum. Langsam öffne ich die Tür und blicke in beide Gesichter. Mein Bruder sieht besorgt aus und sieht mich liebevoll an, ich nicke ihm zu, aber greife nach Vincents Hand. Wir wissen alle drei, dass Atlas der wichtigste Mensch in meinem Leben ist, aber auch, dass Vincent der ist, den ich jetzt brauche. Oder er mich. Schweigend tritt er ein und schließt hinter uns die Tür; entfernt höre ich, wie mein Bruder nach Jesper ruft und dann mit Tate und Sanna redet. „Rede mit mir", flüstert Vincent und greift nach meiner Hand. Verzweifelt lasse ich mich auf die weißen Fliesen im Bett fallen und ziehe Vincent mit runter, der sich an die Tür lehnt. Er trägt noch immer das schmutzige T-Shirt und seine blutige Cargo-Hose. „Es ist schrecklich. Es sollte um dich gehen", wispere ich und bette meinen Kopf auf mein Knie, das schmerzt. Immerhin hat sich eine dünne Schicht mit Schorf über die Wunde gezogen. „Für dich war es auch schlimm, Hails. Du hast mich so gesehen. Und du hast auch ... du hast gesehen, wie jemand gestorben ist. Du musstest ihn anfassen und das tut mir schrecklich leid", beginnt Vincent und umfasst meine Handgelenke. Ich sehe ihn an und atme tief durch: „Das ... ich ... ich kann nicht mal tote Tiere sehen, geschweige denn – geschweige denn Leichen, aber ... aber ... dass es dein Vater war ..." „Ich weiß, es tut mir leid", murmelt Vincent, ich schüttele den Kopf. „Dafür kannst du nichts. Und du musstest die Blumen holen. Ich hatte auch keine Angst, als ich mit ihm alleine war, sondern nur, dass du es nicht rechtzeitig schaffst. Und weißt du, was mir noch eine verdammte Angst gemacht hat? Dass ihr euch so ähnlich seht. Es war ...", ich stocke. Verdammt, ich kann ihm nicht sagen, dass er Jake so ähnlich sieht. Doch Vincent nickt, als würde er es verstehen: „War, als würdest du mich sterben sehen. Oder in die Zukunft blicken." „Ja. Aber nicht, dass du so wirst wie er, das wirst du nicht, Vinz. Niemals. Nur äußerlich, nicht innerlich", beschwöre ich ihn und richte mich auf. Vincent sieht mich hilflos an und lehnt seine Stirn gegen meine: „Ich hoffe es. Ich will nicht, dass sich die Geschichte wiederholt. Davor hab ich Angst. Seit sechzehn Jahren." „Ich weiß. Deswegen stößt du alle von dir. Aber ich gehe nicht weg, mich wirst du nicht los, niemals, Vinz. Und du wirst auch dich selbst niemals verlieren", verspreche ich ihm. Ich weiß es einfach. „Warum bist du dann so ängstlich?", erwidert er und sieht mich forschend an. Unbehaglich rutsche ich auf den kalten Fliesen hin und her und schaue nach oben in den Spiegel, in dem wir nicht zu sehen sind. Abgesehen von den Umrissen des dunklen Bades und den Sternen, die inzwischen am Himmel stehen, ist nichts zu erkennen. „Weil ich Angst vor meinen Gedanken habe", gestehe ich und meide den Blick meines Freundes. „Was ist los?", hakt er nach und rutscht an mich heran. Ich winde mich unter seinen Blicken. „Du wirst mich hassen", warne ich ihn leise und merke, wie mir wieder Tränen in die Augen schießen. „Ein beschissener, dunkler Teil von mir war ... eifersüchtig. Neidisch. Ich weiß es nicht. Auf deine Moms. Weil du ein Sawyer sein kannst. Weil du das einfach sagen konntest, dabei weiß ich, was für ein Weg das war. Wie deine Kindheit war. Was passieren musste, damit du adoptiert werden konntest", schniefe ich beschämt und rechne damit, dass Vincent aufsteht. Aber er legt den Arm um mich und zieht mich an seinen Brustkorb. „Nein, ich verstehe es. Hails, ich habe da etwas über Rose gesagt ... natürlich hat es dich getriggert. Dass sie nicht gekommen wäre. Dass sie dich hätte sterben lassen", murmelt Vincent und streicht mir durchs Haar. So, wie er sagt, klingt es hart. Aber dennoch ... akzeptabel. Oder zumindest so, als könnte ich irgendwann damit leben. Vielleicht, weil es keine neue Erkenntnis ist. „Und meine Moms lieben dich beide so sehr. Du bist für sie wie eine Tochter. Nicht nur wie eine Schwiegertochter, sondern wie eine Tochter", flüstert Vincent und schlingt seine starken Arme fester um mich. „Das war nicht alles", gestehe ich und genieße seine Wärme, die sich vielleicht gleich in Kälte verwandelt. „Ich ... als ... als Jake sich entschuldigt hat ... verdammt, ich weiß, dass er schlimmere Dinge getan hat, Dinge, die man niemals entschuldigen kann -", versuche ich alles zu retten, aber zu spät. Die Worte haben meinen Mund verlassen. Ich zerspringe innerlich.

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