Kapitel neunzehn

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VINCENTS SICHT


Hailee sagt während der ganzen Autofahrt lang kein Wort und ich dränge sie nicht. Das Einzige, was sie von sich gibt, sind Fragen, wo genau sie nochmal abbiegen muss und ich lotse sie dann von mir aus bis nach Hause. Sheera auf der Rückbank hechelt angestrengt hinter uns und hätte deutlich lieber auf Hailees Bett geschlafen und sich von dem langen Tag am See erholt – sie ist nun einmal ein altes Mädchen, worüber ich nicht auch noch nachdenken will. Kaum parkt Hailee ihren Volvo Coupé vor unserer Garage, schnalle ich mich ab und greife vorsichtig nach ihrer Hand, mit der sie den Schlüssel aus dem Zündschloss zieht und ihre vielen bunten Anhänger dabei klimpern. „Wie geht es dir mit allem?", probiere ich es sanft, zu ihr durchzudringen. „Keine Ahnung. Ich mache mir ununterbrochen um Atlas und Jesper Sorgen. Und ich frage mich, ob ich es hätte noch mehr merken sollen", sie seufzt und lehnt ihren Kopf an die Stütze, dann klettert sie wortlos aus dem Wagen und entzieht sich meiner Hand. Sofort springe ich ebenfalls auf und schnappe mir sowohl noch meinen Rucksack als auch ihre Reisetasche, die wir zusammen gepackt haben, während aus dem Wohnzimmer kein einziges Geräusch kam. „Hails? Ich wollte dich nicht stressen wegen der Übernachtung. Ich wollte dir einfach nur eine Fluchtmöglichkeit und den Jungs ihren Freiraum geben, das war nichts, was ich geplant hatte", versuche ich es erneut, als Hailee bereits durch unser Gartentor läuft und endlich lächelt, als Sheera sie einholt und sich an ihre Beine schmiegt. „Nein, es war ein toller Vorschlag. Ich liebe ihn in der Theorie", Hailee dreht sich zu mir um und lächelt steif, „es ist nur das erste Mal, dass ich ... seitdem woanders übernachte." „Ich hatte noch nie einen Übernachtungsgast", erwidere ich ebenfalls rau und atme tief durch, „und es war auch noch niemand jemals in meinem Zimmer. Also in diesem, damals mit meinen leiblichen Eltern wart ihr auch meine einzigen Freunde." „Ich habe auch immer nur bei Tori übernachtet oder sie bei uns, wenn wir uns im Winter mal in New York und Milwaukee besucht haben", Hailee schmunzelt und scheint noch kurz an ihre Freundin zu denken, dann tritt sie beiseite, damit ich die Haustür aufschließe und sie nach drinnen führe. Noch immer bewegt Hailee sich nicht so sicher hier im Haus, wie ich es mir wünschen würde. Im Gegensatz zu Sheera, die sofort laut bellt, und damit meine Moms anlockt, die lachend aus dem Keller kommen, wo Sanna Tate wahrscheinlich wieder beim Basteln des Edelsteinschmucks zugesehen hat. „Oh, hallo Hailee", stößt Sanna hervor und umarmt sie sofort, Tate streicht mir peinlich durch die Haare und begrüßt dann auch Hailee neben mir, die sie strahlend umarmt. „Hi, tut mir leid, ich will keine Umstände machen", äußert sie sofort und wippt nervös mit den Beinen, doch ich ergänze sie sofort: „Hailee übernachtet hier, wenn das okay ist. Sie ... Atlas und Jesper brauchen gerade die Wohnung." „Klar!", quietscht Sanna und strahlt mich stolz an, während Tate sich misstrauisch an die Wand lehnt: „So, so. Hast du den Entschluss vorher gefasst oder kam es dir nur gelegen, dass die Jungs – wozu überhaupt?" „Mom!", ich sehe sie vorwurfsvoll an, doch meine Mom grinst nur wissend und versiegelt mimisch ihre Lippen. „Schon gut, ich frage nichts. Natürlich kannst du hier schlafen, Hailee. Du bist hier immer willkommen. Fühl dich wie zu Hause", sie zwinkert ihr zu und sorgt dafür, dass Hailee neben mir sich sichtlich entspannt und nur langsam an der Tasche zieht, die ich noch locker halte. „Habt ihr denn schon gegessen? Wenn nicht, kann ich kochen. Oh, und wie war es am Strand? Hattet ihr einen schönen Tag? Oh je, entschuldigt, ich bin so aufgeregt! Vincent hat endlich Übernachtungsbesuch und – oh je, brauchst du noch frische Bettwäsche? Großer, du weißt, wo die Handtücher für unsere Gästesind ...", dreht Sanna durch und gibt erst Ruhe, als Tate sie lachend von hinten umarmt und ins Haar küsst. „Ich brauche nichts, danke", bleibt Hailee bescheiden und sieht mich groß an, wozu ich auch nur mit den Schultern zucke. „Ich weiß, wo alles ist. Ich wohne seit fünfzehn Jahren hier", ich grinse meine Moms frech an und kicke dann meine Vans in die Ecke. „Wir gehen gleich hoch, oder? Dann kannst du entscheiden, was du alles brauchst", biete ich Hailee an, die dankbar nickt und entschuldigend meine Moms anlächelt, die uns noch hinterher rufen, nachdem Hailee ihre Boots ebenfalls abgestellt hat und mir die Treppe nach oben folgt. „Tut mir leid, dass ich so wenig mit deinen Moms geredet habe, ich bin nur echt mit dem Kopf woanders", platzt es sofort aus ihr heraus, als wir oben ankommen. „Ich weiß. Und sie wissen das auch", beruhige ich sie und laufe mit rasendem Puls zu meinem Zimmer. Die Tür ist noch verschlossen und ich bin verdammt froh, dass ich gestern Abend noch mein Zimmer aufgeräumt habe und nur noch die Manuskripte fürs Theater sowie ein paar Notizen aus dem Studium herumfliegen. „Okay. Bist du bereit?", lenke ich sie ab und deute auf die verschlossene Tür. Hailee nickt und sieht mich auffordernd an. „Was?", ich lächele nervös und deute ebenfalls auf die Tür. „Mach du das, ich habe heute schon genug Türen aufgerissen", murmelt sie und zupft wie immer an ihren Armbändern. „Es war nicht deine Schuld, Hails", ich sehe sie an und nehme ihr vorsichtig ihre Tasche ab. Ich wünschte, ich könnte auch ihren ganzen seelischen Ballast nehmen und mittragen. „Aber meinetwegen ist Atlas weggelaufen und hat Jes alleingelassen", murmelt sie und meidet meinen besorgten Blick. „Ja, das war scheiße, aber es ist deren Sache. Und du musstest dich entscheiden und ich weiß zwar nicht, wie es ist, Geschwister zu haben, aber ich weiß, wie nah Atlas und du euch steht. Und Jes weiß das auch, er wird es akzeptieren, dass du Atlas genommen hast. Aber Atlas hätte es nicht vertragen, hättest du ihn nicht gewählt, ganz gleich, wie sehr er es Jesper gegönnt hätte. Außerdem war es auch ganz gut, von Nicht-Harper zu Nicht-Harper zu reden", ich lächele sie an und berühre kurz Hailees Oberarm, der aufgeregt glüht. „Was hat er dir gesagt?", nuschelt sie und schaut besorgt. „Dass er Atlas liebt und ihm nichts versauen will", verrate ich und lächele, als Hailee strahlt: „Mein Bruder hat gefühlt Dasselbe über Jesper gesagt. Dabei tun die beiden einander so gut." „Ja, das tun sie. Und sie haben dich, die sie bei den nächsten Schritten unterstützen wird, egal, was kommt", flüstere ich heiser und schlucke. Hailee runzelt die Stirn und verschränkt ihre Arme vor ihrem Oberkörper: „Ja, aber dich doch auch. Du bist wieder ihr Freund, Vinz. Und heute warst du es auch." Gegen meinen Willen schießen mir verdammte blöde Tränen in die Augen, sodass ich nur wütend nach der Klinke greife und sie hastig runterdrücke, damit wir nicht mehr darüber reden müssen. Es ist okay, zu weinen. Mir fällt es nur schwer, einzusehen, dass ich doch andere Menschen brauche und mag. Andere als meine Moms. „Wie cool", Hailee folgt mir in mein Zimmer, in dem es viel zu abgestanden riecht, doch Hailee schaut sich nur lächelnd um und verschließt vorsichtig die Tür hinter uns. Mein Herz klopft peinlich wild, als sie sich die Pinnwand mit ein paar Fotos anschaut, auf denen ich jünger bin, dabei kennt sie mich sogar seit dem Kindergarten. Genauso neugierig streicht sie über die Skateboards, die auf den metallenen Stäben an der Wand liegen, gegenüber von Sheeras riesigem braunen Korb mit einer Spielzeug-Ente, ihrem Kau-Seil und ihrem Wassernapf, den ich noch auffüllen muss. „Hast du in jedem der Stücke mitgespielt?", Hailee klappt niedlichen ihren Mund auf, als sie zu meinem Schreibtisch schaut, über dem lauter Eintrittskarten hängen. „Ja, seit ich acht Jahre alt bin. Damals halt im Kindertheater, aber da habe ich meistens den Bösewicht gespielt, weil ich nicht auf Knopfdruck lachen oder weinen konnte", erzähle ich heiser und verschränke automatisch die Arme vor der Brust. Hailee kichert und sieht sich noch neugierig mein Bücherregal und meine Filmsammlung an, dann kommt sie zu mir und lächelt breit. „Danke, dass ich dein Zimmer sehen darf. Und hier schlafen darf", wispert sie und legt zögerlich ihre Hände in meinen Nacken und stellt sich auf die Zehenspitzen. Schmunzelnd lege ich meine Hände ruhig auf ihre Hüfte, wieder darauf bedacht, nur ihre Jeans und nicht ihren Bauch zu berühren, dann beuge ich mich zu ihr. Bevor ich sie küssen kann, presst Hailee ihren Mund auf meinen. Der Minzgeschmack breitet sich sofort auf meiner Zunge aus, als sie sanft mit ihrer gegen meine Lippen stößt und in den Kuss lächelt, als ich sie gewähren lasse und durch ihre Locken fahre. Fordernd drängt sie sich gegen mich, auch wenn sich unsere Hüften nicht berühren. Ihr Brustkorb liegt auf einmal auf meinem und sie atmet angestrengter gegen meine Lippen, bis ich merke, dass sie auf den Zehenspitzen steht. Grinsend löse ich mich von ihr und sehe ihr nur tief in die Augen: „Sag doch etwas." „Ach, würdest du mich dann etwa hochheben?", grinst Hailee mich an und wird kurz danach rot, als ich die Augenbrauen hochziehe. „Würdest du das wollen?", erwidere ich nur süffisant und weiß nicht, auf welche Antwort ich hoffe. „Ich will jetzt Ablenkung", verkündet Hailee nur und reckt ihr Kinn, dann lachen wir beide leise. „Mein Kuss hat dir nicht gereicht?", witzele ich, auch wenn es ungewohnt ist. Vor allem in meinem Zimmer, verdammt. „Da hab ich wieder zu viel über anderes nachgedacht", nuschelt Hailee und nimmt dann hastig die Hände von meinem Nacken, um sie sich in die Seite zu stützen: „Wollen wir vielleicht Ice Age 5 schauen?" „Klar", ich grinse nur nichtssagend und öffne dann die Tür, als Zeichen, dass wir dafür ins Wohnzimmer gehen. Mir entgeht nicht, dass Hailee noch einen unsicheren Blick auf mein Bett wirft, ehe sie mir folgt.

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