Kapitel zweiunddreißig

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VINCENTS SICHT


Ich habe wieder Scheiße gebaut. Zwar habe ich Hailee gerettet, aber ich war gewalttätig. „Vinz", Hailee greift nach meiner Schulter und stolpert, als ich stehen bleibe. Unsicher drehe ich mich zu ihr und blicke in ihr verweintes Gesicht. „Du hast eben alles richtig gemacht", flüstert sie und hebt ihre Hand, um meine Wange zu streichen. Dann blinzelt sie, als würde sie sich an etwas erinnern. Daran, wie scheiße ich zu ihr war, wahrscheinlich. „Ich hätte das nicht tun sollen. Ich habe ihn geschlagen, Hails. Ich habe ihn getreten. Und ich habe dich bevormundet und war sexistisch, indem ich –", fluche ich, da macht Hailee einen großen Schritt auf mich zu und sieht mir tief in die Augen. Sofort verstumme ich und sehe sie hilflos an. Hailee, deren dunkler Eyeliner und deren bunter Lidschatten verschmiert ist. Hailee, deren braune Augen gerade lebendig funkeln, obwohl sie eben noch geweint hat. Hailee, deren dunkle Wangen wegen der Tränen glänzen. Hailee, deren Finger kurz vor meinem Gesicht zittern. „Wieso bist du hergekommen? Wieso hast du mich gesucht, Vinz?", wispert sie und sieht mich groß an. „Ich wollte mich entschuldigen. Das, was ich in meinem Zimmer zu dir gesagt habe, war beschissen. Ich war ein Monster zu dir. Und genau das war ich, weil ich dachte, dass ich es bin. Und dass ich dich vor mir schützen müsste, weil ich so gefährlich bin. Weil ich genauso gewalttätig wie Jake werden könnte. Wie ich dich geschubst habe. Ich hatte Angst vor mir selbst und wollte, dass du sie nur einmal hast und dann in Sicherheit bist. Und dann habe ich seine Briefe gelesen und gedacht, ich könnte mich akzeptieren. Meine Gene. Und das alles. Und dann war das eben, ich bin ausgetickt und ich war wieder –", rede ich so hektisch und schnell, wie Hailee es eigentlich immer tut. Und jetzt ist sie diejenige, die ganz ruhig ist und auf einmal nur ihre Arme um mich schlingt. Vorsichtig bettet sie ihren Kopf gegen meinen Brustkorb und streicht mir über den Rücken, bis ich sie ebenfalls fest umarme und umklammere, als könnten wir wieder auseinandergerissen werden. So, als könnte ich die letzten zehn Minuten aus ihr raus drücken, wenn ich sie nur lange genug halte. „Vinz, du bist kein Monster. Schon alleine die Tatsache, dass du keins sein willst, sagt alles. Du bist keins", Hailee löst sich von mir und stellt sich dann auf die Zehenspitzen, um mir besser in die Augen sehen zu können. Noch immer umschlinge ich ihre Hüfte und ihren Rücken, weil ich Angst habe, sie gleich zu verlieren. „Vielleicht hattest du auch recht, dass ich manchmal zu naiv und gutgläubig bin oder zu oft verzeihe. Ich verzeihe meinen Eltern zu oft und ich habe Juan unterschätzt. Aber ... aber bei einer Person nicht. Bei dir, Vinz. Du hast so verdammt viele Chancen verdient", flüstert Hailee sanft und legt diesmal wirklich ihre Hand auf meine Wange. Ihre Wärme zu spüren lässt mich lächeln. Sie grinst ebenfalls erschöpft, aber erleichtert. „Vinz, ich weiß, wie viel Überwindung es dich gekostet hat, die Briefe zu lesen. Oder hierherzukommen. Oder Juan zu schlagen. Ihn berühren zu müssen. Mit mir zu reden. Das alles. Und das ist nur ein Bruchteil deiner Stärke, die du in dir trägst. Vinz, du bist so verdammt mutig und stark. Und so verdammt gut, so gut du das auch unter deiner düsteren und gebrochenen Fassade verstecken willst. Aber es ist da drinnen. Das, was du versteckst, ist Licht. Vielleicht kein Sonnenlicht, aber Mondlicht. Vinz, so viel. Es ist so strahlend, dass du es gar nicht sehen kannst, aber ich sehe es", schluchzt Hailee und sieht mir tief in die Augen, „ich sehe es. Und ich vertraue diesem Licht in dir. Weil ich dich ... weil ich dich liebe." Schockiert sehe ich sie an. Und weine. Die Tränen kommen unkontrolliert und plötzlich, sie sind wie Schläge gegen meine Mauern. „Hails, ich ...", ich schlucke und lasse sie los, um mir mit dem Hemdärmel über die Augen zu wischen und dann in meine Cargohose zu greifen. „Ich wollte dir eigentlich das hier geben", murmele ich und halte ihr eine zerknautschte gelbe Box hin. Verwirrt nimmt sie sie und öffnet sie vorsichtig. Dann kichert sie und hickst gleichzeitig, was zu süß klingt. Andächtig nimmt sie den unförmigen Glückskeks in die Hand und sieht mich fragend an. „Jes und ich haben die schnell gebacken, eigentlich geht das nicht in zwei Stunden, aber ... oh, ich bin übrigens mit Jesper hier. Aber darum geht es jetzt nicht. Mache ihn auf", murmele ich und beobachte, wie sanft Hailee den Keks bricht und den Zettel herauszieht, den ich ihr geschrieben habe. „Ich liebe dich", sage ich, als sie ihn liest. Sie schmunzelt und schüttelt ungläubig den Kopf. „Du hast mir die Worte eben einfach vorweggenommen, dabei hätte ich es zuerst sagen müssen. Ich habe dir so viel angetan", gestehe ich leise und senke den Blick. „Ja, so viel Gutes. Ohne dich hätte ich das mit Juan nicht eben nicht geschafft. Ich meine, wer weiß, was er getan hätte. Aber ohne dich hätte ich auch nicht nein sagen können. Zu ihm nicht. Zu meinen Eltern damals am Tisch nicht. Du hast mir so viel gegeben, Vinz. So viel. Durch dich fühle ich mich mutiger. Mehr wie ich selbst, nicht wie diese unterdrückte Version, die all die anderen bei mir erschaffen wollten. Du hast mich befreit, auch wenn dir das vielleicht nicht klar ist. Du denkst die ganze Zeit, dass ich dich aus deiner Dunkelheit hole, aber die Wahrheit ist, dass du mich aus meiner holst", dringen Hailees Worte zu mir durch, sodass ich sie verweint ansehe. Sie schluchzt ebenfalls und zieht schniefend ihre Stupsnase hoch, als ich sanft nach ihr greife. Als sie meine Hände auf ihrer Hüfte spürt, strahlt sie mich an. „Fühlst du dich nach eben überhaupt bereit?", frage ich heiser, als sie sich meinem Gesicht nähert. Jetzt schaut sie empört, aber feurig: „Ja! Vinz, ich bin es so verdammt leid, dass wir uns an die Vergangenheit gebunden fühlen. Es ist vergangen. Und sie kann uns nicht mehr verletzen. Wir können nur weitermachen. Und gesünder werden. Miteinander." Bevor ich noch etwas einwenden kann, küsst Hailee mich zärtlich, aber energisch. Kaum schmecke ich sie endlich wieder, was ich niemals für möglich gehalten hätte, schlinge ich meine Arme erneut um sie und drücke sie an mich. Hitzig erwidere ich den Kuss und halte Hailee fest; an ihren Haaren, an ihrem Rücken, an ihrer Hüfte. Presse sie an mich und spüre, wie sehr sie sich an mich drückt und mit ihrer freien Hand durch meine Haare und in meinen Nacken fährt, während sie mit der anderen den Keks festhält und in den Kuss lächelt. „Alter, nehmt euch ein Zimmer!", unterbricht uns jemand. Widerwillig lasse ich Hailee los und drehe den Kopf zur Seite, wo Jesper an der Wand lehnt. Neben ihm steht Atlas und lächelt breit. „Jes!", Hailee lässt mich los und flitzt zu Jesper, woraufhin er sie umarmt und herumwirbelt. „He, Vinz", Atlas kommt zu mir und bleibt vor mir stehen. Unsicher blinzele ich ihn an. „He. Du kannst mir eine reinschlagen", biete ich an, da schüttelt er nur den Kopf und zieht mich in eine brüderliche Umarmung. Überrascht keuche ich auf, aber erwidere den Druck seiner Arme. „Was war eben los? Wieso hast du Blut auf dem Hemd?", flüstert Atlas, als wir uns nicht lösen. „Es ist Juans. Er hat Hailee angegriffen", erwidere ich leise und klopfe Atlas beruhigend auf den Rücken: „Ich habe das geklärt. Du brauchst nichts zu tun. Höchstens ihn anzuzeigen." „Verdammt. Und was ist mit dir?", fragt Atlas, als wir uns loslassen. „Was soll schon sein? Mir wird es nicht so schaden, wie es deiner Karriere schaden würde. Oder wie es Hailee geschadet hätte. Ich bin bereit, die Konsequenzen zu tragen", ich schlucke und sehe Atlas ernst an. Er nickt und fährt sich gestresst durch die Haare: „Das wird nicht passieren. Wir werden gegen ihn aussagen. Und wenn ich lügen muss, dass ich danebenstand und gesehen habe, wie er dich angegriffen hat." „He, was redet ihr da?", Jesper kommt zu uns, den Arm um Hailee gelegt und den Blick besorgt auf seinen festen Freund gerichtet. „Nichts, was wir hier besprechen sollten. Hailee, du solltest bald da rausgehen und Tori begrüßen", erwidert Atlas gefasst und löst damit ein Kreischen bei Hailee aus: „Tori ist da?!" „Vinz hat sie gefragt", erklärt Jesper und grinst mich an. Ich nicke und schiebe Hailee sanft los: „Dein Bruder hat recht. Gehe zu deiner besten Freundin und rocke diese verdammte Convention. Wir kümmern uns um das Problem im Gang." Hailee nickt atemlos, auch wenn sie ihren Mund öffnet, um etwas zu sagen. Dann flitzt sie doch nur los und verstaut dabei ihren Keks in der Dose, die sie umklammert. Lächelnd sehe ich ihr nach und warte, bis sie durch die Tür gerannt ist, dann werde ich ernst. „Na los, wo ist der Bastard? Wir können ihn rausschaffen, bevor das Kamerateam wieder drinnen ist. Es wird auffallen, wenn ich nicht da bin, leider. Aber Tori wird die Leute gut unterhalten können", Atlas klatscht in die Hände und sieht sich um. „Atlas, nein. Geh raus. Ich mache das", protestiert Jesper neben mir und umfasst Atlas' Schultern. „Ich helfe euch. Es geht um Hails. Und ich hätte das damals schon tun müssen, als Juan sich an ihr vergriffen hat", verkündet ihr Bruder eisern, doch auch ich schüttele den Kopf: „Hättest du nicht. Er ist es nicht wert. Und Hailee hätte das Gefühl gehabt, dir geschadet zu haben, wenn du deswegen deine Karriere hättest beenden müssen." „Stopp, wir verlieren Zeit", Jesper wedelt zwischen uns hin und her und sieht mich an: „Vinz. Los jetzt, bringe uns hin." Diesmal rennen wir wirklich alle drei los in den dunklen Gang, in dem Juan liegt. Oder lag, verdammt. Als ich stehen bleibe, rennt Atlas gegen mich. Jesper keucht nur hinter uns und stemmt die Hände in seine Seiten: „Gott, ich bin zu unsportlich. Also wo ist der – eha, sind das Zähne?" „Ja", ich räuspere mich und fahre mir angespannt durch die Haare. Am Boden sind nur noch das Blut, die Zähne und die zerbrochenen Flaschen, aber keine Spur von Juan. Er wird ja nicht zu dem Kamerateam gegangen sein, oder?

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