Kapitel sechsunddreißig

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VINCENTS SICHT


Diesmal machen wir es besser. Hailee liegt seit vierzig Minuten auf meinem nackten Brustkorb und malt imaginäre Tattoos auf meine Arme. Ich fahre grinsend durch ihre wilden roten Locken, die ihre zarten Schultern bedecken. „Ich höre, dass du lächelst", murmelt Hailee und hebt ihren Kopf, um mir in die Augen zu sehen. Kurz gleitet mein Blick auf ihre roten vollen Lippen und dann zu ihrem nackten Oberkörper – noch immer ist es ungewohnt, aber gut. „Ja. Ich bin glücklich. Soweit wir es unter den Umständen sein können", ich räuspere mich und denke an Atlas und Jesper, die vermutlich gerade das Statement-Video aufnehmen. „Ich auch. Und ich habe auch ein schlechtes Gewissen", seufzt Hailee und verbirgt ihr Gesicht in ihren Händen; dann kichert sie. „Was ist?", ich greife nach ihre lackierten Fingern und streife ihre bunten Armbänder, die sie nicht einmal jetzt abgenommen hat. „Es war nicht meine Absicht ... du weißt schon", Hailee wird rot und schaut auf ihre Finger, dann auf meine Hüfte. Ich lache ebenfalls verlegen und greife nach ihrer Hand, um sie mit meiner zu verschränken. „Geht es dir damit gut?", hake ich nach und starre auf ihre Finger, die gerade versehentlich ihre Lippen berührt haben. „Ja, es ist okay. Also ähm das eben, das andere war super. Wie fandest du es?", sie schaut verlegen und ihre Wangen färben sich noch dunkler als bereits eh schon. „Sehr gut, Hails. Es war nur ... es ist für mich noch sehr neu", gestehe ich leise und sehe lieber an die Decke. „Für mich war das auch neu. Vor allem, dich so nah an mich heranzulassen. Aber was meinst du?", Hailee greift nach meinem Kinn, damit ich sie wieder ansehe. Unsicher lecke ich mir über die Lippen: „Na ja, ich habe mich lange Zeit überhaupt gar nicht angefasst. Und dann konnte ich ewig nicht kommen. Aber jetzt mit dir ..." Hailee lächelt mich an. Nicht einmal mitleidig, sondern stolz und glücklich. „Danke, dass du mich das hast machen lassen. Und dass du mir vertraut hast und auch jetzt vertraust. Ich verspreche dir, das niemals zu brechen. Und ich hoffe auch sehr, dich niemals zu verletzen", wispert Hailee und blinzelt ein paar Tränen weg. „He, du darfst auch weinen, Hails", ich grinse und ziehe sie in eine Umarmung, bei der sie kichert und schnieft: „Ja, aber ich bin doch gerade erst ... du weißt schon ... gekommen." Als sie so flüstert, lache ich rau auf und drücke ihr einen Kuss ins wilde Haar: „Na und?" „Nichts na und", brummt meine Freundin und schmiegt sich an mich. „Doch. Und Hails, ich will dich auch niemals wieder verletzen oder von mir wegstoßen. Es tut mir wirklich leid", höre ich mich heiser sagen und halte die Luft an. Eigentlich wollte ich das Thema nicht wieder aufwärmen, aber gleichzeitig will ich, dass Hailee sich bei mir sicher fühlt. „Ich weiß. Du warst komplett aufgewühlt. Das ist okay. Ein Teil von mir weiß ja auch, dass du mich liebst. Aber der andere Teil in mir, der overthinkt das und kann nicht fassen, dass da so ein heißer, cooler und starker Typ ist, der mich mag", erwidert Hailee leise und keucht auf, als ich mich energisch zu ihr beuge und sie küsse. „Hails. Ich liebe dich. Seit wir Kinder sind. Seit dem Kindergarten, Hails. Und ich weiß verdammt nochmal nicht, wie ich dir das zeigen kann. Dass ich dich liebe. Und dass du so verdammt liebenswert bist", wispere ich gegen ihren Mund, der sich zu einem Lächeln verzieht. „Das hier wäre ein guter Anfang", kichert Hailee und wirkt noch immer etwas überrascht von ihrer forschen Seite, doch ich grinse nur und küsse sie.

„Hails! Vinz!", ruft Jesper keine zwei Minuten später. Seufzend löst Hailee sich aus dem Kuss und rollt sich unter mir weg, um nach ihrem Bralette und ihrem Top zu suchen. Ich richte mich ebenfalls auf und schnappe mir mein T-Shirt und meine Cargohose, die Hailee in ihre Hängematte geworfen hat. „Was denkst du, wie es den beiden geht?", ruft Hailee mir über die Schulter zu, während sie in ihr Bad flitzt und sich noch die Hände wäscht. „Hoffentlich besser als wir denken. Denkst du, sie sind sauer, dass wir ... dass wir rumgemacht haben?", frage ich und versuche meine Haare zu glätten. „Bitte nicht!", Hailee lächelt mich kurz an, dann schlüpft sie bereits in ihre Jeansshorts und rennt aus dem Zimmer. Kurz überlege ich, ob ich nicht noch Zeit habe, meine Boxershorts zu wechseln, doch wahrscheinlich bringen die anderem drei mich dann um. Seufzend wasche ich mir auch nur noch die Hände mit Hailees Mango-Seife und verlasse dann ihr Zimmer, um in den Flur zu laufen, wo ich die anderen bereits reden höre. Jesper lehnt gerade im Türrahmen des Wohnzimmers und spielt an seinen Armbändern; als er mich sieht, grinst er. „Danke, dass ihr da seid. Atlas dreht gerade durch", begrüßt er mich und grinst noch immer so dreckig. Genervt verpasse ich ihm einen Schlag auf den Arm und linse zum Sofa, wo Atlas sitzt und mit den Beinen zappelt und wippt, als gäbe es kein Halten mehr. Hailee neben ihm greift nach seiner Hand und redet leise auf ihn; ich schnappe sogar ein paar spanische Brocken auf. „Wir haben das Video aufgenommen. Es ist nur schwer, es hochzuladen", murmelt Jesper neben mir und sieht bedrückt aus. „Sollen wir es vorher anschauen? Falls das hilft", schlage ich vor, Jesper nickt dankbar und zieht mich ins Wohnzimmer. Schweigend quetschen wir uns ebenfalls aufs Sofa, wo Jesper sich Atlas' Tablet schnappt und dann auf Start klickt. Sofort verstummen die Geschwister neben uns und sehen sich ebenfalls den dreiminütigen Clip an, in dem erst nur Atlas zu sehen ist, später setzt sich Jesper daneben. „Und?", fragt Atlas sofort nervös, Hailee nickt: „Es ist super. Und so viel müsstet ihr euch doch gar nicht rechtfertigen." „Sehe ich auch so, ihr seid viel zu nett und gut für diese Welt. Es ist eure Sache, ganz allein eure private Sache. Und dass ihr so viel offenlegen müsst, ist schrecklich", stimme ich Hailee zu und starre auf den schwarzen Bildschirm. „Gott, ich kann das mit der politischen Karriere vergessen. Die Leute werden mich hassen! Die US-Amerikaner hassen mich fast alle, jetzt nicht mal nur die Republikaner, sondern fast alle. Und selbst die meisten mexikanischen Wähler und Wählerinnen werden sich distanzieren, weil sie zu konservativ sind und sie lieber abgeschoben oder ausgenutzt werden als sich von einem Schwulen vertreten zu lassen", Atlas verstummt und wischt sich über die braunen Augen, in denen Tränen schimmern. Seit wir uns wiedergesehen haben, habe ich ihn nie so niedergeschmettert gesehen, nicht einmal nach dem Streit mit Rose und Carlos beim letzten Mal. „Du wirst das schaffen, Atlas. Die Welt verändert sich", ich schlucke und fahre mir durch die Haare. „Genau. Du liebst doch dieses Zitat, dass man etwas verändern muss, wenn man Veränderungen will", Jesper greift über mich hinweg nach Atlas' Hand, sodass wir alle schmunzeln müssen. „Danke. Aber es trifft nicht nur mich. Hails, dich werden alle bei der Therapie befragen. Und in der Uni wirst du noch öfter angeglotzt werden. Und Jes, deine Karriere wird vielleicht auch enden. Und Vinz, du wolltest auch unsichtbar sein", merkt Atlas an. „Ich wollte nur im Theater spielen, weil ich nicht vor die Kamera will, das stimmt. Ich will nicht berühmt sein, ich will keine Fragen gestellt bekommen und keine Nachforschungen ertragen. Vor allem wollte ich das nicht. Aber ... ich habe das bereits aufgegeben, als ich zu Hails nach Mexiko geflogen bin. Ich bin der Freund einer Bloggerin, da kann ich auch der Schwager des künftigen Präsidenten sein", murmele ich und merke, dass meine Stimme rauer als sonst ist. Atlas sieht mich ebenfalls zweifelnd an. „Ich trage das mit. Ich bin dein Freund. Immer", ich sehe ihn aufrichtig an und schaue dann zu Jesper, der lächelt: „Mir ist das alles egal, was über jeden von uns vier öffentlich werden kann oder nicht. Wir haben uns." „Ja, ihr seid meine Familie", Hailee lächelt und lehnt sich an ihren Bruder, der nickt. Schnell greift er nach dem Tablet und postet das Video. Kaum ist es hochgeladen, wirft er das Gerät in die Kissen und springt auf: „Okay. Ich will nicht gucken, wie die Leute reagieren. Lasst uns jetzt bitte einfach nur essen und trinken." „Na endlich!", Jesper lacht und umarmt seinen Freund. Hailee rutscht neben mich und legt vorsichtig ihre Füße in meinen Schoß, woraufhin ich sie angrinse und über ihre Beine streife. Sofort wirkt sie entspannter, als sie merkt, dass es mir nicht zu viel wird. „Nichts da, steht auf, wir kümmern uns ums Essen!", Jesper schnappt sich Hailees Beine und rollt sie von meinem Schoß auf den Boden, woraufhin sie flucht und wir lachen. „Nur haben wir kaum noch etwas im Haus, sorry, Vinz. Wir konnten jetzt tagelang nicht einkaufen", Atlas schaut zerknirscht und räuspert sich. „Kein Stress, alles gut. Ich bin da offen beim Essen", versichere ich ihm, auch wenn ich geknickt bin, dass es wahrscheinlich keinen Käse gibt. Andererseits versuche ich in Hailees Gegenwart möglichst oft vegan zu essen und auf Fleisch verzichte ich inzwischen fast gänzlich. „Auch, wenn wir nur Avocado- und Auberginen-Creme haben?", ruft Atlas aus der Küche, wo er seinen Kopf in den Kühlschrank steckt. Sofort flitzt Jesper zu ihm und regt sich auf, dass wirklich nicht mehr viel da ist. „Ja, alles gut. Ich kann das probieren", ich nicke und schaue zu Hailee, die mich anlächelt. „Und wir haben kein Brot mehr. Nur Reiswaffeln", fügt Atlas hinzu, ich nicke abermals nur. „Aber Chips und Nüsse!", verkündet Jesper fröhlich, jetzt grinse ich auch: „Dann ist der Abend ja gerettet!" „Ihr seid echt unmöglich! Immer nur Junkfood", murmelt Atlas und auch Hailee kichert und streckt mir die Zunge heraus. „Und du bist langweilig", verkündet Jesper und zieht seinen Freund an sich, um ihn zu küssen. Sofort sehe ich zu Hailee, die lachend vor mir flieht und gespielt kreischt, als ich sie an der Hüfte packe und die Arme um sie schlinge.

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