Kapitel zehn

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HAILEES SICHT


„Verkatert?", begrüßt mich eine gut gelaunte Stimme. Knurrend blinzele ich und halte mir die Hände vors Gesicht, als Jesper meine roten Vorhänge aufreißt und eine grelle Sommersonne mich blendet. Atlas steht mit verschränkten Armen im Türrahmen und mustert mich, die nicht mal abgeschminkt und im Partyoutfit aufs Bett gefallen ist. Als ich heim kam, habe ich nur müde bei ihm geklopft und bin sofort in mein Zimmer geflüchtet; es war schon drei Uhr nachts und ich war beschämt, dass ich so verweint und fertig aussah – und trotzdem gelächelt habe, weil Vincent mich mit seinem Motorrad hergebracht hat. Er hatte keinen Ersatzhelm, also habe ich seinen bekommen, der viel zu gut nach Kiefernholz gerochen hat. „Schon", ich fasse mir stöhnend an meinen Kopf und richte mich langsam auf. Mein Bustier ist verrutscht, was mir aber vor den beiden nicht viel ausmacht, und meine Jeans ist ganz staubig. Und – oh Gott, ich trage noch Vincents Hemd, das mir von den Schultern gerutscht ist. „Das sieht nicht nach Madisons Hemd aus", kommentiert Atlas, der meinem Blick gefolgt ist und lächelt angespannt. „Madison? Als ob du ihren Style kennst", brummt Jesper und schnappt sich mein Kopfkissen, um es seinem besten Freund gegen die Brust zu werfen. „Natürlich nicht. Aber das sieht mir nach einem Typen aus", murmelt Atlas und läuft rot an. Wenn er Reden hält, passiert ihm das nie. Allgemein ist er in Veracruz nie rot geworden, das wird erst jetzt zu seiner Gewohnheit. „Es war nur Vinz", verteidige ich mich sofort und verknote hastig das Hemd vor meiner Brust, damit Atlas es mir nicht gleich auszieht. Warum auch immer will ich noch länger Vincents Geruch in der Nase haben und sein kratziges Hemd auf meiner Haut spüren. „Vincent? Unser Vincent?", Jesper lehnt sich grinsend ans Fenster. „Ja, er hat mich heimgefahren. Keine Sorge, er hatte nichts getrunken und ich hatte einen Helm auf", ich lächele sofort wieder und vergrabe meinen Kopf an meiner Schulter. Sofort rieche ich wieder Vincent, was mich noch blöder grinsen lässt. „Ich dachte, Madison wollte dich bringen. Das war der Deal!", regt mein Bruder sich auf und schüttelt den Kopf, woraufhin ich aufschaue: „Oh ... sie hat sich mit ihrem Ex betrunken." „Ha! Also ist sie raus! Geh bloß nicht mit ihr auf ein Date!", brüllt Jesper dazwischen und springt wie ein Irrer in meinem Zimmer rum, wobei er fast den Traumfänger abreißt. „Ich dachte, ich sollte mal wieder jemanden treffen. Jemanden küssen oder so", nuschelt Atlas und fährt sich durch seine perfekt gestylten braunen Haare; seine sind fast aalglatt, während meine noch lockiger als die unseres Vaters sind. „Ja, aber nicht – what the fuck, wir reden doch eigentlich über Hails' Liebesleben", Jesper lacht und stützt sich auf Atlas ab, der mich kritisch anschaut. Und anders als Jesper sieht er nicht nur mein verknalltes Lächeln und die roten Wangen, sondern auch meine Fingernägel, an denen ich kratze. „Was ist los? Hat er etwas gemacht?", fragt mein großer Bruder sofort besorgt und setzt sich zu mir aufs Bett. „Nein, er – wir haben nur ein Trinkspiel gespielt ...", berichte ich und platze dann mit allem heraus. Wahrscheinlich wollten die beiden Männer eher ein Wahlprogramm entwerfen, eine Rede schreiben oder Statistiken durchgehen, aber jetzt nerve ich sie mit jugendlichen Nichtigkeiten von der Party. Doch natürlich hört Atlas mir die ganze Zeit schweigend zu, greift an den richtigen Stellen nach meiner Hand und umarmt mich zum Schluss. Jesper holt uns schnell Frühstück aus der Küche, eigentlich nur eine Mango, und verspricht, dass wir gleich noch brunchen. Traurig greife ich nach der mexikanischen Schüssel, die er mir hinhält, und spieße ein Stückchen auf. „Und jetzt ärgert es dich, dass er schon Sex hatte?", fragt Jesper und isst mehrere Stückchen auf einmal, wobei ihm eins auf meine Bettdecke fällt. Hastig klaubt er es auf und wirft es sich in den Mund, was mich trotz der Umstände kichern lässt. „Es ist nicht nur irgendein Sex, es ist ja auch noch so einer", Atlas räuspert sich und lehnt sich an die Wand an. Ich selbst kauere an meinem Gestell und Jesper liegt zwischen uns. „Sex ist Sex. Ich denke, die Art ist auch schon egal", brummt Jesper und kaut nicht auf. Atlas verpasst ihm einen Tritt gegen die Schulter, woraufhin die beiden sich verwirrte Blicke zuwerfen. „Das sagt ihr. Ihr seid ja auch nicht ... Jungfrauen", ich schnaube bei diesem geschmacklosen Wort und merke, wie schwer ich das Mangostückchen runterschlucken kann. „Meintest du nicht, dass er dafür emotional so schwer zu knacken ist? Ich fürchte, du musst dich entscheiden, was dir wichtiger ist, Hails", merkt Jesper an und tätschelt mein Bein. „Ja. Es ist ja eh schwierig, jemanden zu finden, der mit neunzehn noch Jungfrau ist. Und erst recht mit einundzwanzig, so wie ihr drei", murmele ich und starre auf meine Hände. Sobald ich die Augen schließe, erinnere ich mich daran, wie warm und gut sich Vincents Finger in meinen angefühlt haben. Vielleicht war es unschuldig oder unbedeutend für ihn, aber so wirkte es nicht. Er hat mich so angesehen, als würde es für ihn etwas bedeuten. „Ein paar gibt es bestimmt. Aber du solltest auf dein Herz hören und nicht jemanden daten, weil dessen Umstände passen", merkt Atlas spitz an, woraufhin ich ihn lachend boxe: „Sagt der Richtige. Im Ernst, Bruderherz, fändest du Madison überhaupt attraktiv?" „Keine Ahnung. Ich habe den Umgang mit Frauen verlernt", murmelt mein Bruder nur und starrt lieber in seine Schüssel. Als er nicht sofort aufisst, greift Jesper danach und stopft sich die Frucht in den Mund. „Jes!", Atlas schnaubt und greift nach seinem besten Freund, der sich lachend wegdreht; irgendwie schaffen die beiden es, aufeinander von meinem Bett zu fallen und auf den Teppich zu kugeln, wobei mein Bruder seine Hände in Jespers Dutt und Jesper seine Hände unter Atlas' Shirt schiebt. „Runter von mir!", lacht Jesper und drückt gegen Atlas' Bauch, der sich von ihm dreht und auf den Boden setzt: „Das war meine Mango." „Wir wollten doch eh brunchen", ich springe hastig auf und hüpfe an den beiden vorbei ins Bad. Kaum schließe ich die Tür hinter mir, atme ich tief durch. Natürlich huscht mein Blick zum Spiegel über dem Waschbecken. Ich müsste nur meinen Lippen verziehen, dann würde ich meine Zähne sehen. Nein, ich verfalle nicht in alte Muster. Es ist nur das erste Mal, dass ich mir nach dem nächtlichen Heimkommen nicht mehr die Zähne geputzt habe. Und jetzt gleich morgens etwas gegessen habe. Aber das ist doch ein gutes Zeichen, oder? Hastig wasche ich mir nur das Gesicht ab, ohne in den Spiegel zu sehen, und husche dann wieder in mein Zimmer, schlüpfe in ein Sommerkleid und laufe in die Küche, wo bereits Musik läuft.

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