Kapitel fünfunddreißig

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HAILEES SICHT


„Danke, dass du da bist", flüstere ich Vincent ins Ohr, der neben mir auf der Rückbank des Taxis sitzt. Damit das mit dem Gepäck nicht zu eng wird, fahren wir mit zwei Autos vom Flughafen zurück in unsere Wohnung. Außerdem können wir die Paparazzi besser ablenken, die uns schon seit dem Verlassen des Flughafens verfolgen. Sogar während des Flugs von Veracruz hierher nach Milwaukee wurden Atlas und Jesper immer wieder fotografiert. Ich habe ein paar Leute angezickt und Vincent hat ihnen einfach die Handys weggenommen, aber es war hart. Zwar habe ich die ganzen Blitzlichter viel seltener auf mir gespürt, aber ich habe gespürt, wie mein Bruder sich gefühlt hat. „Immer", verspricht Vincent mir und verschränkt grinsend unsere Hände. Seine sind so blass, bis auf die gerötete Haut an den Knöcheln, mit denen er Juan geschlagen hat; an seinem Handgelenk trägt er braune und schwarze Lederarmbänder. Neben meiner dunklen Haut mit den roten, orangenen und gelben Bändern wirkt er trotzdem so viel düsterer. Und dennoch sicher. „Fuck, da steht ein Auto", Vincent löst seine Hand von meiner, fast so schnell, wie er nach ihr gegriffen hat, und lehnt sich an die Scheibe. Besorgt versuche ich, einen Blick darauf zu erhaschen, aber immer ist die Kopfstütze des Fahrers im Weg. „Vielleicht sind es die Nachbarn?", schlage ich vor, auch wenn ich glaube, dass die meisten in der Tiefgarage parken. „Hoffen wir es", knurrt mein Freund und steigt aus, sobald wir anhalten. Hastig bezahle ich noch den Fahrer, der uns neugierig anschaut, und hole meinen Koffer und Vincents Rucksack aus dem Kofferraum. Vincent selbst marschiert bereits zu dem Wagen und bleibt auf einmal stehen. Als ich diesmal sehe, dass es sich um einen weißen Porsche handelt, schlucke ich. Da können Rose und Carlos Harper nicht weit sein. Bevor ich meinen Bruder warnen kann, hält bereits das zweite Taxi hinter mir; Atlas und Jesper klettern heraus und schnappen sich ihr Gepäck. „Atlas!", zische ich, doch da weiten sich ebenfalls die braunen Augen meines Bruders. „Oh ne", flucht Jesper nur und trottet zu Vincent, der auf unsere Eltern zugeht. Es fühlt sich gut an, dass die anderen beiden vorausgehen. „Scheiße. Tut mir leid, dass sie hier sind", murmelt Atlas und sieht mich entschuldigend an. „Hey, du kannst nichts dafür. Wir stehen das gemeinsam durch", ich greife entschlossen nach seinem Arm und hake mich unter, als wir ebenfalls zum Auto laufen. Die roten Haare unserer Mutter glänzen in der Sonne und ihre teure weiße Sonnenbrille funkelt so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen muss. Unser Vater hat nur die Arme vor seinem Hawaii-Hemd verschränkt und pustet sich ein paar dunkle Locken aus der braunen Stirn. „Da seid ihr ja", begrüßt uns Rose Harper herrisch und genervt wie immer. Vincent und Jesper stehen beide mit verschränkten Armen da und ziehen wütende Mienen. „Schön euch zu sehen, Mutter", erwidert Atlas schneidend und drückt mich fester an sich. „Nein, die Umstände sind so ermüdend", sie verdreht die Augen und stößt unseren Vater in die Seite. „Ermüdend? Für euch?", höre ich mich schnauben. Schockiert sehen mich alle an. „Wie bitte?", unsere Mutter tötet mich mit Blicken, weil ich mich eingemischt habe. „Ja, für uns. Der Ruf von Harper's Health wurde durch euch erheblich gefährdet!", schnauzt uns unsere Mutter an, wobei sich rote Flecken an ihrem blassen Hals bilden. „Ja, so gesund kann das Unternehmen nicht sein, wenn Atlas so etwas tut", fügt unser Vater seine ersten Worte hinzu und sieht zornig zu Atlas, der den Kopf einzieht. „Wenn Atlas was tut? Mich vögelt? Sich von mir vögeln lässt?", Jesper macht einen Schritt auf unseren Vater zu, womit er ihn mit mindestens einem Kopf überragt. „Sprich das nie wieder aus!", schreit Carlos ihn an und bekreuzigt sich danach murmelnd. Ausnahmsweise hasse ich es, dass uns das Spanische verbindet. Dass Atlas und ich verstehen, was er da sagt. Vor allem, dass Atlas das hört. „Die Einzigen, die sich hier schämen, sind Atlas und ich", ich räuspere mich und sehe enttäuscht unseren Vater an. Den, der mir das Kochen beigebracht hat. Den, der mit uns in Mexiko surfen war. Den, der mit mir auf Konzerte gegangen ist, bis er zu uncool war und ich lieber mit Jesper unterwegs war. „Hailee, das ist eine Sache zwischen deinem Bruder und mir", beschwichtigt er mich und greift nach meiner Hand, aber ich schlage ihn wütend weg. „Nein, das ist es nicht. Du bist einfach nur homophob und menschenfeindlich. Und es ist auch nicht eine Sache zwischen Mama und mir, wenn sie mich mobbt. Da schaust du weg! Und jetzt erwartest du, dass ich wegsehe, wenn du Atlas mobbst! So funktioniert unsere Familie doch die ganze Zeit. Du und ich gegen Mama und Atlas. Aber so will ich das nicht. Und ich kann das nicht mitansehen", bricht es endlich aus mir heraus. Leider weine ich dabei los und wische mir hastig die Tränen von den Wangen. „Und ich werde auch nicht wegsehen, wenn du Hailee verletzt", wendet Atlas sich an unsere Mutter, die missbilligend schaut. „Ich verletze sie doch nicht. Es ist peinlich genug, dass jetzt die ganze Welt weiß, dass sie sich von diesem Juan hat misshandeln lassen. Auch das färbt auf unser Unternehmen ab", schnaubt sie dann und kräuselt ihre Nase angewidert. Fassungslos sehe ich sie an. Weinend. Und wütend. „Du ... du schämst dich, weil ich den Mut hatte, über Übergriffe zu reden?!", werde ich hysterisch und sehe sie hilflos an. „Hailee, das war peinlich und undiszipliniert. Wenn du so etwas bestrafen lassen willst, dann melde das bei der Polizei. Aber so ein Aufriss ist unangenehm. Und so etwas hätte dir nicht passieren dürfen", sie schüttelt erneut den Kopf, wobei ihr strenger Zopf wippt. „Ach, man kann Vergewaltigung steuern? Jetzt sind die Opfer die Täter?", unterbricht Vincent uns und greift nach meiner Hand. Neue Kraft fließt durch mich hindurch. Vincent steht auf meiner Seite. Atlas. Jesper. Und ich auf ihrer. Wenn ich jetzt nicht für mich einstehe, stehe ich auch für sie nicht ein. „Ach, du hast doch keine Ahnung als Mann. Ich als Frau weiß, dass ich mich schützen muss. Als Frau muss man auf sich aufpassen und doppelt so hart arbeiten. Beispielsweise für das Familienunternehmen –", redet Rose Harper wieder los. Ich starre sie nur an, dann höre ich mich schreien: „Halt endlich den Mund!" Verblüfft schaut sie jetzt mich an und greift nach der Hand unseres Vaters. „Du hast keine Ahnung. Von gar nichts. Und erst recht nicht von uns oder unseren Freunden", erkläre ich ihr mit zitternder Stimme und schlucke. „Du hast keine Ahnung, Hailee. Du studierst noch nicht einmal. Du verbringst deine Zeit damit, dich von Bad Boys verführen zu lassen und dann irgendwelche psychischen Krankheiten zu erfinden. Wahrscheinlich bist du wirklich krank", seufzt sie und sieht mich angewidert an. Unser Vater sieht zu Atlas und nickt. „Ja, ich bin krank. Aber Atlas ist es nicht! Er ist schwul – na und? Und ich bin nicht krank geboren, ich bin krank geworden. Euretwegen. Ihr habt mich so lange ignoriert, Papa, und gemobbt, Mama, dass ich es wurde. Ihr habt mich kaputtgemacht. Und mein Bruder ist derjenige, der mich gerettet hat, indem er für mich da war und mich zur Therapie gebracht hat. Oder Jesper, der sofort nach einer Wohnung geschaut hat, damit ich von unseren Großeltern wegkomme. Oder Vincent, der mich liebt. Oder Tori, aber da habt ihr mir auch nie zugehört. Sie sind diejenigen, die mir helfen, mich wieder zusammenzusetzen. Nicht ihr. Im Gegenteil. Ihr seid einfach nur toxisch. Alle beide. Rose, du bist einfach nur eine verdammt beschissene Mutter und eine Narzisstin. Und du, Papa, bist einfach nur schwach und kannst dich nicht gegen sie durchsetzen, weil du es nicht willst. Du hast lieber deine Ruhe und verlässt dich auf irgendwelche alten und konservativen Grundsätze, auch wenn du dabei deinen Sohn verletzt. Ihr seid beide einfach nur ... beschissene Eltern", höre ich mich sagen. Schluchzen. Und trotzdem bin ich so unfassbar wütend. „Hails hat recht. Ihr macht uns kaputt und dieses Recht habt ihr nicht. Diese Macht solltet ihr nicht mehr haben. Wisst ihr was? Macht, was ihr wollt. Erfreut euch am Unternehmen oder gebt Interviews. Na los, outet mich. Oder erzählt der Welt von Hailees Störung, aber dann outet ihr auch euch. Macht, was ihr wollt. Wir sind durch mit euch", Atlas' Stimme neben mir klingt so viel sicherer, reifer und durchdachter. Er weint nicht mal, er spricht genauso wie bei einer seiner Reden. Dabei weiß ich, dass er innerlich auch gerade bitterlich weint und leidet. „Nein, ihr wendet euch nicht ab! Das werdet ihr nicht tun! Vor allem nicht öffentlich!", kreischt Rose los und erhebt den Finger, woraufhin Atlas nur einen Schritt rückwärts macht und nach meiner Hand greift. „Atlas! Denke an mein Image und an deines!", warnt sie ihn, mich ignoriert sie wie immer. „Tschüss, Mutter", er schluckt und wendet sich bereits ab. Auch Jesper und Vincent gehen rückwärts, nur ich stehe noch da und sehe meinen Vater an. „Adiós, Papá", höre ich mich dann sagen und sehe ihn noch ein letztes Mal an. „Hailee ...", er weint ebenfalls und wischt sich über die Augen, woraufhin unsere Mutter ihn streng ansieht. Sofort hört er auf und sieht mir nur nach. Als ich mich umdrehe, lächele ich. Wenn auch nur matt.

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