HAILEES SICHT
Noch nie hat eine Therapiesitzung so lange gedauert. Bereits als ich angekommen bin, haben mich alle angestarrt – kein Wunder, das Outing von Atlas und Jesper ist überall. Und ich war das letzte Mal vor der Convention hier, weswegen mich erneut alle ausgefragt haben, schließlich ging auch Juans Übergriff viral. „Hailee, darf ich dich etwas fragen?", spricht mich eine helle Stimme an, als ich gerade vom Stuhl aufstehe und nach meinem bunten Beutel greife. Sofort drehe ich mich um und blicke in Brooklyns blasses Gesicht. „Ähm ja?", ich lächele die Jüngste der Runde an und mache mich darauf gefasst, dass sie mich etwas wegen meiner Eltern fragt. Als ich heute erzählt habe, dass Atlas und ich den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben, haben alle wild geklatscht. „Wie geht es Vincent?", platzt es aus Brooklyn heraus. Überrascht lächele ich und werde sicherlich rot: „Oh." „In dem Livestream hat man gesehen, dass er im Publikum war. Und dass er mit Tori ankam, dabei seid ihr doch zusammen, oder?", mischt Ivy sich ein und sieht mich gespannt an. Langsam nicke ich und sehe zu Madison, die neben mir steht und grinst. „Ja, wir sind zusammen. Und es geht ihm gut", erwidere ich dann langsam, beide lächeln. „Das ist cool. Weißt du, er war immer mein Vorbild. Er kann so gut damit umgehen, was ihm passiert ist", murmelt Brooklyn traurig und ich beiße mir auf die Lippen. „Ja, ich bin auch sehr stolz auf ihn. Weißt du, was? Ich frage ihn, ob ich dir seine Nummer geben kann. Und ich bin mir sicher, dass du auch mal an diesen Punkt kommen wirst und dich in einen tollen Jungen oder ein liebevolles Mädchen verlieben wirst", ich lächele sie an und ernte ein breites Kichern und Strahlen. „Schlaft ihr denn auch miteinander?", fragt Ivy dann und sieht mich unschuldig an. Am liebsten würde ich ihr antworten, andererseits sträubt sich alles in mir – natürlich sollten wir in der Gruppe über so etwas reden können, weil wir alle mit Störungen und Traumata kämpfen, die Intimität und Leidenschaft so sehr einschränken. Auf der anderen Seite würde ich Vincent gegenüber niemals so übergriffig sein wollen, die Frage zu beantworten. „Hailee, ich muss dich dringend noch sprechen", Madison neben uns tippt mich an und hakt sich bei mir unter. Dankbar grinse ich sie an und sehe dann die kleinen Mädels an: „Lass uns da beim nächsten Mal drüber reden, okay?" Bevor sie antworten können, reißt Madison mich bereits mit nach draußen und winkt Doktor Nelson, die ihre Tasche packt. „Danke, ich wusste nicht, was ich sagen soll", flüstere ich Madison zu, die ausgelassen lacht und mit den Schultern zuckt: „Kein Problem. Kriege ich Details?" „Nein, echt nicht, ich – vielleicht, wenn wir mal wieder etwas trinken", weiche ich ihr lachend aus und schaue zerknirscht. „Klar, kein Stress, es ist eure Sache. Auch wenn mich das interessiert! Aber keine Sorge, ich frage dich einfach ab Oktober aus. Das ist so cool, dass wir zusammen studieren werden", plappert sie fröhlich los, ich nicke und atme tief durch. Ich mag Madison, keine Frage, nur stresst es mich zusätzlich, dass sie mit Atlas auf einem Date war. Was, wenn sie doch noch etwas unternimmt? Wenn sie doch noch zu einer Bedrohung wird? Selbst wenn ich sie mag, würde ich immer Rücksicht auf Atlas' Gefühle und Ruf nehmen. Nicht nur, weil ich es ihm schuldig bin, sondern auch, weil ich ihn so sehr liebe. „Ja, das ist cool", stimme ich ihr langsam zu und blinzele in die untergehende Sonne, die den asphaltierten Platz in ein rot-orangenes Licht taucht. „Oh, da ist ja dein Bruder!", Madison stößt mich in die Seite und läuft zielstrebig zu meinem roten Volvo, an dem Atlas und Jesper jeweils mit Sonnenbrillen lehnen. Mein Bruder trägt ein hochgekrempeltes hellblaues Hemd zu einer weißen kurzen Chino-Hose, während Jesper ein dunkelblaues T-Shirt zu seiner schwarzen zerrissenen Jeans gewählt hat – ich sage es ja, sie sind wie Yin und Yang. „Hi, ihr", Madison bliebt lächelnd vor den beiden stehen und umarmt Atlas, der die Umarmung erwidert. Jesper neben ihm verzieht nur unmerklich das Gesicht und schielt mich über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg an. „Madison, wie geht es dir? Hör mal, es tut mir total leid, dass du es so erfahren hast, warum unser Date so schlecht lief", entschuldigt mein Bruder sich sofort, doch Madison winkt ab: „Schon gut, Atlas. Meinerseits hat es nach dem Date auch nicht gefunkt, ich hab ehrlich gesagt gemerkt, dass ich noch an Dylan hänge. Und ich freue mich sehr für euch zwei." „Und hast du das auch gleich der Presse erzählt? Deinen Eltern, die zufällig einen Verlag leiten?", knurrt Jesper sie bereits an, da verpasst Atlas ihm einen Schlag auf den Arm. „Nein, natürlich nicht. Als würde ich jemanden outen oder so etwas", Madison verschränkt die Arme und sieht zu mir, ich schaue Jesper ebenfalls streng an. „Er meint es nicht so, vergiss es", ich lächele Madison an und deute dann auf den Wagen, „also wir fahren jetzt zum Theater und holen Vincent ab. Falls du zu Dylan willst ..." „Oh mein Gott, ja, sehr gerne! Wie cool!", Madison quiekt und flitzt in ihren weißen Sneakern um das Auto, damit sie einsteigen kann. Widerwillig rutscht Jesper auf die Rückbank hinter mich, während Atlas für Madison den Beifahrersitz umklappt, aber vorher noch nach hinten steigt. Ich selbst werfe meine Tasche nach hinten und lasse mich dann auf den Fahrersitz fallen. „Wieso musst du immer alles verstellen?", seufze ich und sehe im Rückspiegel meinen Bruder an, der meinen Wagen hergebracht hat. „Tja, sonst kann ich nicht fahren", grinst er mich an, woraufhin ich ihm die Zunge herausstrecke und den Motor starte.
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...