HAILEES SICHT
„Wieso willst du nicht dein aktuelles Leben haben?", frage ich nach einer Weile Schweigen und kuschele mich tiefer in Vincents Hemd. Es riecht frisch, warm und nach Geborgenheit. „Du willst dein aktuelles auch nicht haben, nehme ich an", weicht Vincent aus. Da ist sie wieder. Die Kälte. Nur langsam glaube ich, dass es ein Schutzmechanismus ist. „Ich hätte gerne mehr Liebe, vor allem erfahren. Aber ich würde es nicht tauschen, nicht, wenn ich dadurch Atlas verlieren würde", murmele ich und beiße mir auf die Lippen. Noch immer schmecken sie süß nach Mango – es ist lecker, aber gleichzeitig spüre ich förmlich den Zucker an meinen Zähnen. „Ich würde Sheera und meine Moms auch nie hergeben", Vincents Stimme klingt kratzig und rau, so, als wäre er in Gedanken woanders. „Trotz deiner Vergangenheit?", wage ich mich vor und zucke zusammen, als Vincent eine ruckartige Bewegung macht und sich weiter nach vorne vom Dach lehnt. Es ist, als wären da zwei Menschen in ihm, zwei Seiten. Dieser kalte, reife Typ aus der Therapie, der uns erzählt, wie geheilt er doch wäre und der kleine weinende Junge aus dem Kindergarten, der impulsiv und traumatisiert ist. „Vinz, ich kenne sie nicht", füge ich vorsichtig hinzu und hebe meine Hand, um nach seiner Schulter zu greifen. Bevor ich den Saum seines dunklen Shirts berühren kann, halte ich inne und atme tief durch. Inzwischen habe ich verstanden, dass er Berührungen hasst. „Aber du ahnst etwas. Du kennst mich von damals", redet er endlich wieder mit mir und umklammert noch immer die Dachkante, die zu knarzen beginnt. Sein Blick ist starr nach unten auf den Boden gerichtet, als wäre da unten etwas, das ihn auffängt oder davon abhält zu springen. „Vinz?", wispere ich hilflos und entscheide mich doch dafür, ihn zu berühren, aber um ihn nicht zu schubsen, greife ich nach seiner Hand, die kalt und verkrampft ist. „Ich springe nicht, keine Sorge. Früher habe ich immer in den Himmel geschaut und den Mond angestarrt, wenn ich ... wenn ich durchgedreht bin oder Angst hatte. Langsam versuche ich, mir andere Fixpunkte zu suchen", Vincent lacht kalt auf und zittert noch immer, aber wirkt dennoch sicher. Sicher, dass er hier oben bleibt und sicher auf dem Dach. „Du wirst mir nicht sagen, was damals passiert ist, oder? Es war im Kindergarten?", frage ich sanft und presse meine Handinnenfläche noch fester auf seine Hand, um ihm Wärme zu geben. Zu meinem Erstaunen verschränkt er unsere Finger und mustert meinen Nagellack, der viel zu fröhlich wirkt. „Ja, war es. Du wusstest es damals schon. Du hast mich immer umarmen wollen und mir Löwenzahn gepflückt, weil du keine Sonnenblumen gefunden hast", Vincent lächelt sogar und lässt meine Hand nicht los. Beschämt kichere ich und merke, wie ich näher an ihn rücke. Er lässt es zu und betrachtet mich nur matt. „Tut mir leid, dass ich jetzt keinen habe?", ich grinse ihn vorsichtig an. Erst, als er ebenfalls lächelt, werde ich nervös: „Was?" „Du lächelst. Richtig", Vincent schaut abwartend und sieht mir in die Augen. Dennoch spüre ich einen kalten Luftzug an meinen Zähnen – oh, ich lächele. Mit offenem Mund und roten Wangen, so heiß, wie sich anfühlen. „Hör nicht auf, es ist wunderschön", wispert er rau und schluckt. Ich kneife automatisch die Lippen zusammen und kichere, als Vincent mich ernst anschaut. „Das sagst du nur so, weil du weißt, dass ... alles weißt", ich versuche, ihn anzufunkeln, aber stattdessen grinse ich blöd. „Nein, ich sage es, weil ich es so empfinde. Und nicht glauben kann, dass du es nicht weißt. Dein Strahlen ist so wunderschön, Hails. Und nicht, weil deine Zähne weiß sind, das sind sie, ich schwöre es dir, sondern, weil dein Lächeln so warm und so ansteckend ist. Wenn du lachst, dann strahlt alles um dich herum. So war es damals schon, sogar noch mehr. Ich wünschte, du wärst wieder so glücklich wie damals und würdest so strahlen wie damals", Vincent sieht mir tief in die Augen und sieht hastig weg, als ich ihn tatsächlich anstrahle. Mit meinen Zähnen, mit meinen vor Glück schmerzenden Wangen und mit meinen Augen, in die Tränen treten. „Entschuldige, ich kann so etwas nicht", nuschelt er in seinen Shirtkragen und löst seine Hand von meiner. Zurück bleibt eine Kälte, die er auch spüren muss. „Nähe?", rutscht es mir heraus, woraufhin er sich durch die Haare fährt, ohne mich anzusehen. „Ja, ich bin sehr ungeübt in so etwas", gibt er zu. Schmerz durchzuckt mich. Aber auch Glück. Im Hinterkopf habe ich, bei was für Fragen auf der Party er getrunken hat. Dass er scheinbar ein sexuell erfahrener Bad Boy ist. Aber das heißt auch, dass er emotional keine Erfahrung hat. Und ist das nicht viel mehr wert? Ich hoffe es. Denn ich will, dass wir gemeinsame Erfahrungen machen, wenn ich mich jetzt schon etwas traue, das ich nie bei mir für möglich gehalten hätte. „Willst du es denn?", ich versuche taff zu schauen. So lässig, wie Jesper immer Sprüche macht. Und so selbstsicher, wie Atlas seine Reden hält. „Allgemein? Nein", Vincent schüttelt den Kopf und starrt in den Mond: „Es ist besser, wenn ich niemandem zu nah komme." „Das glaube ich nicht, Vinz", entfaltet der Mango-Tequila in meinem Blut seine Wirkung. Mir ist klar, dass Alkohol keine neuen Eigenschaften in einem erfindet, aber welche verstärkt. Und diese Portion Selbstsicherheit brauche ich gerade. „Doch, ich würde alles kaputtmachen und jeden mit mir runterziehen. Ich bin zu düster, Hails", fährt er mich an und sieht mich wieder so leblos an. So gequält, so leidend. „Mich kannst du nicht kaputtmachen. Scherben sind Scherben. Das Einzige, was uns beiden passieren kann, ist, dass wir beide unsere eigenen wieder zusammenkleben. Gemeinsam. Und wenn nicht, dann ... dann ist das so. Aber ich glaube an das Schicksal, dass es uns beiden gerade besser geht und wir einander jetzt getroffen haben. In der Therapie. Wir wissen, dass der andere düstere Seiten hat und, dass sie schon düsterer waren als sie es jetzt sind. Und wir wissen beide, wie hell wir sein können. Du erinnerst dich daran, wie fröhlich ich im Kindergarten war. Und bei mir blitzen einzelne Momente hoch, in denen du ausgelassen mit Atlas und Jesper spielst, bei uns daheim verstecken spielst und andere Kinder geschlagen hast, weil sie Atlas und Jesper damals als Schwuchteln beschimpft haben, weil die beiden mal kuschelnd eingeschlafen sind", ich greife mutig nach seiner Hand und halte seine Finger fest, die zittern. Blinzelnd sieht Vincent mich an und streicht dann über meine Fingerspitzen. „Du weißt nicht, worauf du dich einlässt", murmelt er kraftlos und fährt zärtlich über meine Fingernägel. „Dann zeig es mir", flüstere ich und greife vorsichtig mit meiner rechten Hand an seinen Hals, um seinen Kopf sanft zu mir zu drehen. Sein Nacken ist angespannter als jeder Oberarmmuskel der Welt. „Vinz, ich ... ich schäme mich das zu sagen, aber ich glaube, dass die Möglichkeit besteht, dass du dich auch so angezogen von mir fühlst, wie ich mich von dir. Wahrscheinlich ist das Schwachsinn, aber du bist mir nachgelaufen. Und du bist mir auf Instagram gefolgt und scheinst dir selbst jetzt erst überhaupt einen Account erstellt zu haben, was natürlich Zufall sein kann, aber –", brabbele ich los und verstumme, als Vincent lächelt: „Das waren meine Moms." „Oh", würge ich heraus und will mich wegdrehen, als Vincent meine Hand festhält: „Aber sie scheinen etwas zu spüren. Dass sich etwas in mir regt, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich habe die letzten sechzehn Jahre nichts empfunden. Gar nichts. Jedenfalls nichts Positives." „Und das mit uns ist positiv?", vergewissere ich mich und versuche, mein rasendes Herz zu beruhigen. „Ja, ich schätze schon. Bis auf die Tatsache, dass du meinetwegen fast vom Dach gefallen wärst", schnaubt er und lacht. Diesmal lache ich mit und grinse, als Vincent mich intensiv anschaut und noch immer meine Hand festhält. Langsam glaube ich, dass nicht er das braucht, sondern ich.
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...