Kapitel zwei

33 2 0
                                    

HAILEES SICHT


Hier hat sich nichts verändert. Milwaukee ist Milwaukee geblieben. Der einzige Unterschied ist, dass ich die Straßen nicht mehr auf Rollschuhen, sondern in meinem Auto abfahre. Und dabei laut Musik höre und nicht mehr Kopfhörer aufziehe, um mich zu verstecken. Falls Reporter mich suchen, werden sie mich eh finden; andererseits glaube ich, dass es wesentlich interessanter für die Schlagzeilen ist, dass Atlas und Jesper noch zusammen neue Möbel, Farbe und Stoffe im Baumarkt kaufen gehen. Ich habe den beiden eine Liste mit Sachen gegeben, die ich benötige – ansonsten wollte ich ihnen den Freiraum lassen. Und alleine zu meiner ersten Gruppensitzung fahren und nicht wie ein Baby gebracht werden. Es ist ja nicht gerade schwer: Das Zentrum für Psychotherapie liegt direkt im Stadtzentrum wie eine Insel und Parkplätze gibt es wie Sand am Meer. „Que será, será", flüstere ich mir selbst zu, dann ziehe ich den Schlüssel aus dem alten Zündschloss und steige aus. Eine angenehme Wärme umspielt meine nackten Beine, die in einer gelben Shorts stecken, und weht unter mein rotes Top, das sich sicherlich mit meinen Boots und meinen Haaren beißt. Aber ich wollte heute weder etwas Gelbes noch Weißes anziehen, nicht, wenn ich in der Gruppensitzung mein Problem schildern muss. Mich öffnen muss. Gestehen muss. Schluckend greife ich auf den Nachbarsitz, um mein Handy zu schnappen und in meine Hosentasche zu stecken; meine Lederjacke klemme ich mir unter den Arm, als ich losschlendere. Meine Armbänder klimpern, als ich über die Schulter den Wagen absperre und in den Hof des Zentrums laufe. Ein paar Pflanzen ranken sich um die Pfeiler und verleihen dem tristen grauen Gebäude einen mystischen Charme. Die meisten Scheiben sind verglast und innen mit bunten Vorhängen geschmückt, die darüber hinwegtäuschen sollen, was für eine Schwere über diesem Ort liegt. Das kenne ich wohl. Ich kreische auf, als mich etwas an den Beinen berührt. Vor mir steht ein Golden Retriever. Ein großer, hechelnder hellbrauner Hund, der mich mit großen braunen Augen ansieht und dann mein nacktes Bein ableckt. „Na hallo, wo kommst du denn her?", ich kichere und knie mich hin, um den Hund genauer zu mustern. Wahrscheinlich sollte man einem fremden Hund nicht sein Gesicht hinhalten, aber ich liebe Tiere zu sehr, um ihnen zu misstrauen. „Sheera!", ruft jemand. Sofort bellt die Hündin, nehme ich an, laut und wedelt mit dem Schwanz. Sie wendet sich von mir ab und rennt zur Regenrinne, die sich unter dem Efeu versteckt. Verwirrt berühre ich das warme verbogene Metall, das rostig und morsch wirkt. Bellend stellt sich Sheera an der Regenrinne auf, wobei sie mir fast zur Brust reicht. Sie ist riesig und stark, denn sie bringt unter ihren Pfoten das Metall zum Vibrieren, sodass ich langsam zurückweiche. Doch da ist nichts; weit und breit ist auf dem sonnigen Hof kein Mann zu sehen, keiner, zu dem diese kratzige und raue Stimme von eben gehört. Langsam greife ich nach meinem Handy, als Sheera von dem Metall ablässt und mich ansieht. Ihr Blick ist warm und gütig; nicht bedrohlich. Und doch beginne ich mich unwohl zu fühlen. „Wo ist dein Herrchen, hm? Ist er ein Reporter?", flüstere ich und sehe mich um. Fühle mich doch ausgeliefert. Verfolgt. Bedroht. Mierda! Ich hätte doch nicht alleine fahren sollen. Mit lauter Musik. Ohne Tasche. Und nicht zu einer Therapie. Das ist das, was meine Eltern und Atlas seit Jahren vor der Öffentlichkeit verbergen: Dass die Jüngste der Harpers psychisch labil ist und eine Störung hat. Etwas knallt. Ich schreie auf und presse mein Handy an mich, als jemand vor mir landet. Blinzele langsam, als nichts passiert und ich nur die kühle Wand und die Ranken in meinem Rücken spüre. Vor mir ist ein junger Mann gelandet, der die Arme verschränkt. Ein heißer. Hitze schießt in meine dunklen Wangen, als ich den unverschämt gutaussehenden mustere: Er hat khakifarbene leuchtende Augen, die mir als Erstes auffallen. Einen unlesbaren kalten Blick, mit dem er mich betrachtet. „Woher ...?", piepse ich viel leiser als geplant und presse mich noch immer an die Wand. Wäge ab, wie gefährlich der junge Mann ist, aber mit seinem braunen offenen Hemd, dem schwarzen T-Shirt darunter und der dunkelgrünen Cargohose, den abgelaufenen Vans und Lederarmbändern wirkt er nicht bedrohlich. Wie ein Bad Boy, aber ungefährlich. Aber ich habe mich schon mal getäuscht. Und mit seinen Tattoos, die unter dem hochgekrempelten Hemd zum Vorschein kommen, wirkt er düster. Genau wie sein Blick, der sich in Stein verwandelt hat. Ich bekomme eine Gänsehaut, je länger er mich mustert. Verkniffen. Nachdenklich. „Vom Dach", antwortet er langsam und greift in seine Hosentasche, um einen Keks hervorzuholen. Sofort rennt die Hündin zu ihm und schleckt seine Hand ab, was ihn kurz lächeln lässt. Automatisch wirkt er jünger, vielleicht wie einundzwanzig. Danach schaut er wieder kalt und mustert mich. „Lösche das wieder, was für Fotos du auch immer von Sheera gemacht hast", knurrt er dann und streichelt den Golden Retriever. Sie wirft sich gegen ihn und hechelt. „Ich habe keine Fotos von deiner Hündin gemacht. Ich dachte eher, dass du mich verfolgst", traue ich mich endlich, etwas Selbstbewusstes zu sagen und stoße mich von der Wand ab. „Warum zur Hölle sollte ich das tun?", der Typ legt den Kopf schief und sieht mich wieder so komisch an. Weil ich eine Harper bin. Doch ich beiße nur meine Zähne fest zusammen und spiele an meinen Armbändern. „Okay, ich habe keinen Plan, was bei dir abgeht, aber ich wollte dir nichts tun. Niemand verfolgt dich, Mädchen. Das hätte ich auf dem Dach gesehen", der junge Mann wendet sich ab und klopft sich auf den Oberschenkel. Sheera läuft sofort neben ihm her, auch wenn sie sich nochmal kurz umdreht. In ihren süßen Hundeaugen steht irgendetwas, ich kann es nur nicht lesen. „Das ...", setze ich laut an, woraufhin der Typ stehenbleibt. „Vergiss es. Ich bin etwas neben der Spur", ich atme tief durch und zwinge mich zu einembreiten Lächeln. Was tue ich hier? Ich kann immer reden wie ein Wasserfall, warum jetzt nicht? Und das, was ich sage, ist so ein Schwachsinn. Aber was wird er auch denken? Ich stehe ja auch vor dem Eingang für die Therapie. Er wird sich schon denken, dass ich schwachsinnig bin. „Sind wir das nicht alle?", er zuckt mit den Schultern und geht weiter. Dreht sich nicht zu mir um, sondern redet leise mit seiner Hündin. Und ich Idiotin lächele auch noch. Weil ein gutaussehender Typ mit mir geredet hat. Das ist jetzt wirklich Schwachsinn, ich sollte mir daraus nichts machen. Und doch mache ich immer aus allem etwas. Deswegen bin ich ja hier.

shattered soulsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt