Kapitel einundvierzig

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VINCENTS SICHT


„Sorry, dass wir so lange gebraucht haben", ich räuspere mich, als Hailee und ich nach unten kommen, wo Atlas und Jesper zusammen im Sessel sitzen, während meine Moms und Sheera auf der Couch liegen. Alle fünf richten sich sofort auf, selbst Sheera hebt den Kopf und wedelt mit dem Schwanz, als sie mich sieht. „Ihr habt geduscht?", fragt Jesper und deutet auf meine nassen Haare sowie das weite schwarze T-Shirt, das Hailee von mir bekommen hat. Darunter trägt sie nur eine meiner Boxershorts, was sie beim Anprobieren hat kichern lassen. „Ja, das Blut war überall", nuschele ich. Sofort schiele ich an mir herunter, ob nicht doch noch etwas da ist, auch wenn ich sowieso eine Jogginghose und ein T-Shirt trage. „Wie ...?", Mom Sanna bricht ihren Satz ab. „Ich war dabei. Es ging alles gut", versteht Hailee die Frage und streicht sanft über meinen Arm. Beruhigend. Beschützend. „Ja, mir geht es gut. Soweit eben", murmele ich und setze mich langsam aufs Sofa. Hailee rutscht neben mich und schlingt die Arme um ihre nackten Beine. „Wollt ihr trotzdem mal mit Doktor Nelson reden?", schlägt Mom Tate vor und sieht uns forschend an. „Schätze schon", stimme ich zu. Noch fühlt es sich komisch an, zur Therapie zurückzukehren. Aber ich weiß, dass es richtig ist. Egal, wie weit ich vorher war, das jetzt ist neu. Fremd. Nichts, was man alleine verarbeiten kann. Und etwas, das ich teilen sollte. Nicht will, aber sollte. Könnte. Die anderen haben es verdient. Denn auf das Gefühl, wenn der Vater stirbt, ist niemand vorbereitet. Auch nicht, wenn man seinen Vater jahrelang nicht gesehen hat, weil er einen misshandelt hat. „Und du, Hails? Wirst du auch darüber sprechen?", fragt Atlas besorgt. Sofort durchzuckt mich ein schlechtes Gewissen, weil wir beim Haus waren. Dass Hailee meinen Vater sehen musste und dass sie seine Leiche berühren musste. „Ja, auf jeden Fall", Hailee lächelt verkrampft und fährt sich durch ihre wilden Locken. „Ihr könnt auch mit uns reden", bietet Sanna an und streicht mir über die Schulter. Sheera bellt und kommt zu mir, was mich lächeln lässt. Meine Hündin schleckt mich sofort ab und wirft sich mit ihrem ganzen Gewicht in meinen Schoß, bis ich lache und sie ihren Kopf auf Hailees Beine bettet. „Bitte nicht heute", sage ich und sehe zu meiner Freundin, die nickt. Sie wirkt so erschöpft und fertig. „Was wollt ihr dann machen?", Jesper nimmt seine Beine von Atlas' Schoß und dreht sich zu uns. „Ich will einfach nur Zeit mit meiner Familie verbringen", erwidere ich und lächele. Es tut nicht weh. Vielleicht ist es aber auch zu früh, als dass es wehtun könnte, aber das ist es nicht, glaube ich. Nein. Es fühlt sich heute zum ersten Mal richtig an, nicht mehr zerrissen. Weil ich sie habe gehen lassen. Avery und Jake. Und auch mich. Vincent Moore. „Sollen wir gehen?", fragt Atlas sofort, ich schaue ihn nur an: „Ernsthaft? Nein, ihr gehört auch dazu. Ihr alle hier." „Nawww, ich hab dich auch lieb!", quiekt Jesper begeistert, was bei seiner Größe, den vielen Tattoos und dem schwarzen Outfit mit den Schwertern auf dem T-Shirt zu surreal wirkt. Hailee neben mir kichert ebenfalls und lehnt sich an mich, ihr Bruder lächelt mich ebenfalls an: „Ich hab dich auch lieb, Mann." „Ich euch auch", erwidere ich heiser und sehe zu meinen Moms, die ergriffen lächeln: „Ich liebe euch. Ihr seid meine Moms, okay? Das werdet ihr immer sein." „Und du bist unser Sohn", erwidert Tate und greift nach meiner Hand. Sanna schluchzt auf und schlingt die Arme um uns beide. „Okay, ich will nicht wieder heulen", unterbreche ich die beiden irgendwann, Hailee neben mir schnaubt amüsiert: „Da ist er wieder, der kalte Vincent von früher. Der, der vom Therapiedach springt und alle anschnauzt." „Du kennst mich doch", ich grinse sie müde an stupse sie an. „Was wollt ihr essen? Vincent, mein Großer, was wünschst du dir?", Sanna klatscht in die Hände und springt bereits auf. „Ich weiß nicht. Im Rucksack hab ich veganes Mac'n'Cheese für Hails und mich, aber das ist wahrscheinlich inzwischen eh schlecht und reicht eh nicht für alle. Können wir etwas bestellen?", schlage ich vor. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals mit meinen Moms Essen bestellt habe – wieso auch, wenn wir Sanna haben? „Klar, was willst du?", fragt Tate und legt den Arm um Mom, die fast enttäuscht schaut, aber lächelt. Fragend sehe ich zu meiner Freundin und meinen besten Freunden, die gierig schauen. Jespers Magen knurrt sogar laut, woraufhin Atlas seine Hand auf seinen Bauch legt und mit den Schultern zuckt: „Entscheide du, Vinz." „Ich denke, ich finde langsam Gefallen an eurem Sushi. Oder Chili sin carne. Oder beides", schlage ich vor, woraufhin alle grinsen. „Und dazu?", flüstert Hailee und fährt mir durch die Haare. „Würde es euch sehr stören, wenn wir einfach nur Ice Age schauen?", ich schaue zerknirscht. Kurz habe ich auch an 13reasons why gedacht, aber die ganzen brutalen Szenen würde ich heute auch nicht mehr ertragen. „Nein, es wäre perfekt nach heute", murmelt Hailee und kuschelt sich an mich. Das ist es. Auch wenn ich heute meine biologische Familie verloren habe, bin ich nicht einsam. Ich habe diese Familie hier, ich hatte sie die ganze Zeit, aber erst jetzt spüre ich sie vollständig. Hänge nicht mehr an damals. Der Schmerz wird niemals ganz verschwinden, niemals, aber ich spüre, dass ich bereit bin, damit zu leben. Nicht mehr nur den Schmerz zu überleben und täglich gegen die Erinnerungen zu kämpfen, sondern alleine zu leben und den Schmerz in ein paar Tagen mit Jake bei Avery zu begraben. Die beiden werden immer ein Teil von mir sein, ein ziemlich dunkler, und ich weiß, dass jeder Todestag einen Riss in meiner Seele wieder aufreißen wird, aber ich weiß auch, dass ich ihn zusammenhalten kann. Dass ich mich zusammengesetzt habe und immer weiter zusammensetzen werde. Das ist das Einzige, was ich noch für meine Eltern tun kann. Sowohl für Avery und Jake als auch für Tate und Sanna. Und zusammen mit Hailee, die gar nicht ahnt, was sie heute für mich getan hat. Wie sie wirklich diese Sonne war, nach der ich jede Nacht an diesem verdammten Fenster in meiner Kindheit gesucht habe, als ich nicht realisiert habe, dass sie mich nicht retten kann. Nur ich kann das. Und das habe ich heute, als ich mich nicht verloren habe. Als ich mir diesen Teil meiner Seele, der die ganze Zeit noch in diesem Zimmer festhing, geholt habe. Und gleichzeitig einen anderen habe gehen lassen.

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