Kapitel elf

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VINCENTS SICHT


„Viel Spaß", zwitschert Tate, die darauf bestanden hat, mich mit dem Auto zur WG zu fahren. Sie war der Ansicht, ich wäre zu nervös, um mit dem Motorrad zu fahren – ich hätte es selbst nie zugegeben. „Ja, Mom", ich stöhne und öffne die Beifahrertür. „Vincent", Tate hält meinen Arm fest und schaut besorgt: „Wenn du nicht wohl fühlst, kannst du uns jederzeit anrufen. Ich bin nachher kurz mit Sheera Gassi und Sanna hat ab zweiundzwanzig Uhr frei, dann -" „Ich weiß, Mom. Aber ich komme klar. Atlas und Jesper sind in Ordnung", versichere ich ihr und steige dann aus dem Auto. Warme Sommerluft schlägt mir entgegen und bringt mich sofort unter meinem braunen T-Shirt zum Schwitzen. Für den Notfall habe ich noch ein khakifarbenes Hemd in meinem Rucksack, auf den ich leider nicht verzichten konnte. „Okay. Pass ganz doll auf dich auf. Ich habe dich lieb!", Tate winkt mir wild und startet bereits wieder den Motor, als sie das Fenster nach unten lässt: „Hast du die Kekse?!"„Ja, Mom!", ich grinse sie an, aber verdrehe die Augen. Meine Moms haben darauf bestanden, dass ich ein Dankeschön für die Einladung mitbringe und ich konnte mich gerade noch davor retten, dass Tate jedem einen Kraftstein schenkt oder andere spirituelle Geschenke macht – Hailee hätte sich gefreut, aber bei den anderen beiden bin ich mir nicht so sicher. Dennoch bin ich mir echt unsicher, ob der heutige Abend die richtige Impulsentscheidung war, als ich klingele. Sofort öffnet sich die Haustür per Summer und ich marschiere nach drinnen. Bereits von unten höre ich, wie sich oben eine Wohnungstür in dem kalten Flur öffnet und rieche, wie sich ein leckerer Geruch in dem kahlen Hausflur ausbreitet. „Hi!", Hailee macht ein paar Schritte auf mich zu, kaum habe ich die letzte Stufe erklommen. Verstohlen mustere ich sie; ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ich bin froh, dass sie einfach nur ein korallen-farbenes Top und eine Jeansshorts trägt. Bis auf ihre Haare, die sie sich zur Hälfte hochgebunden hat; links und rechts am Kopf hat sie zwei kleine Dutts, oder was auch immer das sein soll. Als sie merkt, dass ich sie anstarre, errötet sie und tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. „Sorry, dass ich so spät dran bin", begrüße ich sie und spähe in den Hausflur. Sofort geht Hailee zur Seite und lässt mich rein, um hastig hinter mir die Tür zu schließen. Überfordert starre ich das volle Schuhregal an, weil ich nicht weiß, wohin ich meine Vans stellen soll. „Kicke sie einfach in die Ecke und deinen Rucksack – keine Ahnung, ob du den brauchst", Hailee lächelt und dreht sich sofort um, als Atlas den Flur betritt. „Hails, Jes braucht Hilfe beim Eindecken", teilt er ihr mit und verscheucht sie förmlich aus dem Flur. Ich ahne, was jetzt kommt. Entschuldigend grinst Hailee mich an und tänzelt dann in die Küche, wo ich es klappern höre. Atlas hingegen verschließt die Tür und lehnt sich dagegen. Sein Lächeln wirkt echt und seine braunen Augen wirken warm – und doch schlucke ich. Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir alleine sind. Und dass ich früher Panik bekommen hätte, aber es ist Atlas. Mein Kindergartenfreund. Obwohl das kein Argument ist. „He, Mann, ich weiß, was du sagen willst", ich streife vorsichtig meine Sneaker ab und schiebe sie mit meinen Füßen in die Reihe neben die weißen Puma-Chucks, die Atlas gehören. Auch jetzt trägt er wieder ein weißes T-Shirt und eine hellblaue kurze Hose, die wie einem Modemagazin entsprungen aussieht. „Nein. Vinz, ich – ich will dir nicht drohen, wirklich nicht. Und ich will dich auch nicht vor den Kopf stoßen mit dem, was ich gleich sagen muss. Wir zwei waren echt beste Freunde und ich würde mich freuen, wenn wir uns nochmal kennenlernen, falls du das willst", Atlas lächelt mich an und knetet seine muskulösen Hände. Mir entgeht nicht, dass er einen Schritt auf mich zumacht und dicht vor mir stehenbleibt. „Ich würde mich auch freuen", stimme ich ihm zu und schlucke. „Gut. Aber ich muss dir als großer Bruder auch sagen, dass ich dir alle Knochen breche, wenn du Hailee verletzt. Und das sage ich nicht, weil ich es dir zutraue, sondern weil Hailee der wichtigste Mensch in meinem Leben ist und ich sie liebe. In den letzten Jahren wurde sie oft genug verletzt und ich weiß nicht, wie viel du weißt ...", beginnt Atlas und wirkt bedrückt, aber entschlossen. „Ja. Eure Eltern und ihr Ex, ich weiß", würge ich heraus und atme tief durch, „aber ich schwöre dir, dass ich ihr nichts tun will. Ich bin selbst nicht ... ich bin nicht der beste Umgang für Menschen, aber ich gebe mir Mühe, es zu sein. Und ich will Hailee nicht verletzen, auf keinen Fall. Vor allem verspreche ich dir, dass sich das von Juan und ihr nicht wiederholen wird. Von mir geht keine Gefahr aus, physisch auf gar keinen Fall und hoffentlich auch nicht psychisch." „Okay. Das hoffe ich", mein ehemaliger Freund lächelt mich an und legt mir kurz die Hand auf die Schulter, dann öffnet er wieder die Zimmertür und lässt mich eintreten. Hailee deckt gerade summend den Esstisch, der in der Mitte des riesigen Zimmers steht, während Jesper in der Kochecke eine Pfanne vorbereitet und Schneidebretter auslegt. „Hast du ihm gedroht?", zischt Hailee etwas zu laut, als Atlas zu ihr geht. „Alter, das habe sogar ich gehört!", ruft Jesper und dreht sich um. Bei seinem Anblick fühle ich mich etwas wohler und nicht zu lässig angezogen, denn er hat ein Star Wars-T-Shirt an und dazu eine zerrissene Jeans, die voller Flecken ist. „He, Vinz. Na, wie geht's?", er kommt sofort zu mir und hält mir seine Hand zum Einschlagen hin; unsicher schlage ich mit ihm ein und runzele die Stirn, als er mich noch seitlich umarmt. Und ich raste nicht aus. Zwar schwitze ich, aber das könnte auch an dem sozialen Kontakt und nicht an dem körperlichen liegen. „Gut", lüge ich versehentlich, einfach, weil ich für keine komische Situation sorgen will, und stehe hilflos herum, bis ich an die Kekse in meinem Rucksack denke: „Ich habe noch ein Dankeschön. Glückskekse wie in der Therapie. Vegan natürlich." Erst jetzt wird mir klar, was für eine dumme Idee das war. „Oh mein Gott! Echt?", Hailee strahlt aber über das ganze Gesicht und flitzt zu mir, um die Packung abzunehmen und mir tief in die Augen zu schauen: „Es ist perfekt. Und es wäre nicht nötig gewesen." „Okay, wollt ihr zwei Turteltauben alleine kochen?", ruiniert immerhin Jesper den Moment. Oder er spricht das Peinliche aus, was wir alle denken. „Ich ... ich würde euch gerne kennenlernen", stammele ich und schaue zu Hailee, die mich anlächelt. Verdammt, sie zeigt keine Reaktion, wie sie das findet. „Zwiebeln, Knoblauch oder Salat?", fragt sie und reckt das Kinn. „Ähm ... Zwiebeln?", biete ich an und zucke mit den Schultern. „Du musst nicht weinen?", fragt sie begeistert und läuft rückwärts in die Küche, wo sie die Kekse an der Seite abstellt. „Nein, nicht mehr", ich grinse und lasse mir von ihr ein schwarzes Messer und rote Zwiebeln geben, die ich schäle. Neben mir schnappt sie sich die Presse und versorgt den Knoblauch. „Atlas, nimmst du den Salat?", zwitschert Hailee, woraufhin Jesper dreckig lacht. Ich schlussfolgere mal, dass Atlas nicht gerne kocht. „Wieso ich? Kann nicht Jes das machen?", mault er herum, was ich ihm gar nicht zugetraut hätte. In den Interviews, die ich mir heute Morgen angesehen habe, wirkt er so perfekt. Andererseits hat er im Kindergarten auch gerne nur zugeschaut und Jesper immer alles machen lassen, während er selbst wie ein Prinz danebenstand, womit ich die beiden immer geärgert habe. „Ich habe den Reis. Und nicht, weil ich zum Viertel Japaner bin", witzelt Jesper mir gegenüber und lacht. Als die anderen beiden ebenfalls kichern und die Augen verdrehen, lache ich mit und frage Hailee, wie ich die Zwiebeln für sie schneiden soll. Sie raunt mir leise Anweisungen zu, als Jesper laute Rockmusik anmacht und tanzt. Auch Hailee wippt dauernd mit und schwingt ihre Hüfte, als sie meine Zwiebeln und ihren gepressten Knoblauch in die brutzelnde Pfanne kippt und umrührt. Sie wirkt so frei. So lebendig. Und so anders. Losgelöst. Und das trotz des Essens. Meine Einschätzung war so falsch: Ihre Traumata und ihre Emotionen hemmen sie nicht, sie steuern sie. Und es ist wunderschön anzusehen. „Ich glaube dir", Atlas lehnt sich neben mich an die Arbeitsplatte und klopft sich den Salat von den Fingern. Fragend sehe ich ihn an, während wir beide Hailee und Jesper beobachten, die sich ein Duett mit ihren Kochlöffeln liefern und sich übertrieben antanzen, wobei er im Spaß twerkt und sie sich mit ihrem Top Luft zufächert und lacht. „Was?", ich lehne mich zu ihrem Bruder, der lächelt. „Dass du es ernst mit ihr meinst. Dein Blick eben hat dich verraten", er sieht mich wissend an und schaut dann wieder liebevoll zu den anderen beiden.

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