VINCENTS SICHT
Innerhalb der letzten drei Minuten habe ich schon achtmal auf mein Handy geschaut und zähle die Sekunden, bis es Punkt zwanzig Uhr ist. „Naaa, aufgeregt?", Mom Tate kommt die Treppe aus dem Keller nach oben und hat drei kleine Samtbeutel in der Hand, in denen es klimpert. „Ja, weil meine Moms peinlich sind", ich grinse sie an und habe noch immer die Hände in den Hosentaschen meiner Cargohose. „Vincent Samuel Sawyer, das habe ich hoffentlich überhört! Deine Mütter sind niemals peinlich!", Mom Sanna kommt mit Kochhandschuhen aus der Küche gestürmt und näselt an meinem schwarz-grün karierten Hemd herum, das ich über ein graues T-Shirt gezogen habe. Wahrscheinlich ist es viel zu heiß dafür, aber ich wollte so lässig wie immer wirken, obwohl mir der Schweiß bergauf läuft. „Das wissen wir nicht, ich hatte noch nie Freunde eingeladen", widerspreche ich mit einem charmanten Lächeln und lache, als Tate mir den Mittelfinger zeigt, während Sanna entzückt lacht. „Ja! Und wir sind so stolz auf dich, dass du Hailee, Atlas und Jesper zum Essen eingeladen hast! Das ist toll!", kreischt sie und schüttelt mich begeistert. Als ich leidend stöhne, kommt Sheera sofort aus der Küche angerannt, obwohl sie ihren tropfenden Mundwinkeln nach zu urteilen gerade noch getrunken hat. „Und dass du ihnen am letzten Wochenende alles erzählt hast", fügt Tate mit einem schiefen Grinsen hinzu und streicht mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Noch immer ist mir dabei ganz flau im Magen. Noch immer traue ich der Situation nicht ganz. Noch immer finde ich es surreal, dass ich am letzten Samstag mit den dreien einen Film gesehen habe, wir Jespers Chili gegessen haben, Atlas uns einfach Cola hat in die Wohnung liefern lassen und Hailee mich danach nochmal mit in ihr Zimmer gezogen hat, wo wir einfach nur gesessen und geredet haben. Und dass sie mich zum Abschied geküsst hat, genau wie am Mittwoch, als wir uns in der Stadt getroffen haben, veganes Eis gegessen haben und ich ihr gezeigt habe, was sich in Milwaukee verändert hat. Sie hat sogar kurz nach meiner Hand gegriffen und mich über einen Flohmarkt gezogen, den sie spontan gesehen hat. Als es abends spät wurde, habe ich vorgeschlagen, dass wir den fünften und bisher letzten Teil von Ice Age bei mir zuhause ansehen. Und dass die anderen zwei auch kommen könnten. Das habe ich mir jetzt wohl selbst eingebrockt. „Da sind sie ja schon", Sanna klatscht in ihre Handschuhe, nachdem Sheera bei einem Motorgeräusch anfängt zu bellen und zur Tür rennt, wo wir so selten Besuch bekommen. Kaum öffne ich auch die Haustür, rennt Sheera los und springt an Atlas hoch, der aus Hailees Cabrio aussteigt und den Sitz für Jesper umklappt, der von der Rückbank klettert. Doch mein Blick bleibt vor allem bei Hailee hängen, die auf der Fahrerseite aussteigt, das Hemd um ihre Hüfte neu knotet und nervös an ihren seitlichen Dutts zupft, als müsste sie sie vorher noch richten. „He", begrüße ich die drei nervös und mache einen Schritt aus der Haustür auf sie zu. „He, Mann. Danke für die Einladung", Jesper kommt zu mir und bleibt unbeholfen vor mir stehen; diesmal halte ich ihm die Hand zum Einschlagen hin, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie so etwas geht, doch Jesper übernimmt die Führung und zieht mich kurz zu einer Schulterberührung an sich, um mich danach fragend anzulächeln. Ich nicke ihm zu und versuche die gelernte männliche Begrüßung bei Atlas umzusetzen, der sie steif mitmacht und selbst auch überfordert zu sein scheint, was uns beide lachen lässt. „Wir wusste nichts, was wir als Gastgeschenk kaufen sollten", er räuspert sich und schaut sich nach meinen Moms um, die in der Küche leise flüstern. „Und ich wusste nicht, ob ich gut angezogen bin", murmelt Hailee, als sie als Letzte zur Haustür kommt und Sheera streichelt, die neben ihr läuft, als wäre sie Hailees und nicht mein Schatten. „Du siehst wunderschön aus. Auch wenn du nicht ganz so wild aussiehst, wie du eigentlich bist. Du kannst hier du selbst sein, meine Moms werden dich lieben. Nicht, dass ich dich auf diese Weise vorstellen wollte", ich fahre mir durch die Haare und schaue Hailee an, die ihren gelben Beutel umklammert, den sie auch im Theater bei sich hatte. „Also schon, wenn du das willst", schiebe ich hinterher, woraufhin sie kichert und dann an ihrem gepunkteten roten Kleid zupft, das einen unauffälligen Schnitt hat. Es ist geschlossener, als ich es gewohnt bin. Und obwohl ich dachte, dass es mir lieber wäre, wenn sie bedeckter wäre, spüre ich ein schuldbewusstes Stechen im Magen, dass sie sich meinetwegen verstellt oder meinen Eltern gefallen will. „Ich denke schon?", flüstert sie hilflos und schaut mich noch immer erwartungsvoll an. Als sie an ihren Armbändern zupft und ihren roten Nagellack betrachtet, umarme ich sie einfach hastig und streiche ihr kurz über den Rücken. Jetzt entspannt sie sich und stellt sich kichernd auf die Zehenspitzen, um mir kurz durch die Haare zu fahren, dann löst sie sich mit dunklen Wangen von mir, als meine Moms in den Flur kommen. „Hallo, vielen Dank für Ihre Einladung, Misses Sawyer", Atlas räuspert sich und streckt seine Hand zu Sanna, die sie sofort schüttelt: „Bitte duzt uns doch. Ich bin Sanna und die kleine Hexe hier ist Tate." „Du bist die Kleine von uns, Süße", Tate lacht und wirft Sanna einen liebevollen Blick zu, dann begrüßt sie Jesper und Atlas begeistert. Als sie Jesper ein Kompliment zu seinen Boots macht, werfe ich ihr peinlich berührte Blicke zu, woraufhin Hailee nur kichert und mich anlächelt. „Und du musst Hailee sein", Sanna kommt zuerst rüber und reißt die Arme hoch, als würde sie sie umarmen wollen, aber schüttelt ihr dann glücklicherweise doch nur die Hand. „Ja, ich freue mich, Sie ähm euch kennenzulernen", stammelt Hailee neben mir und kräuselt dabei ihre Stupsnase, was mich grinsen lässt. „Oh mein Gott, du hast ja coole Armbänder! Vincent hat uns schon erzählt, was für einen tollen Style du hast. Ich bin ja so neidisch, dass es so etwas zu unserer Zeit noch nicht gab", Tate kommt ebenfalls sofort rüber und greift nach Hailees Hand, länger als nötig, und dreht dann ihr Handgelenk, um in ihre Handfläche zu schauen: „Darf ich deine Hand lesen?" „Mom!", ich schaue sie böse an, selbst Sheera bellt zwischen uns und wirft sich gegen sie, doch Hailee lacht nur und nickt: „Gerne! Ich liebe so etwas!" Also nimmt Tate Hailee in Beschlag, und hakt sich bei ihr unter, um sie in unser Esszimmer samt Wohnzimmer zu führen. Sanna flitzt in die Küche, um die dampfende Auflaufform zu holen, wobei Sheera ihr zwischen die Beine läuft und dann wieder aufgeregt an unseren Gästen schnuppert. Gerade, als sie Atlas' Uhr von seinem Handgelenk ziehen will, ziehe ich sie noch am Halsband zurück, doch Atlas lacht nur und betrachtet seine Uhr: „Du hast recht, die Uhr ist eigentlich von unserer Mutter. Wahrscheinlich sollte ich sie wirklich wegwerfen." „Eure Mutter? Ja, bitte", frotzelt Jesper und läuft gut gelaunt neben mir zum Esstisch, während Atlas uns folgt und noch seine Uhr hastig in seine Hosentasche steckt. „Welche Mutter?", Sanna stellt gerade die duftende Glasschale auf den Untersetzer und lächelt zufrieden über ihr Festmahl. „Oh, keine Sorge, nur die Mutter von Atlas und Hails, die ist echt blöd", plappert Jesper fröhlich los und stützt sich auf einer Lehne ab, „wohin sollen wir uns setzen?" „Deine ist auch nicht nett", murmelt Atlas nur und rückt sofort neben seinen besten Freund. Ich deute schulterzuckend auf die beiden Plätze nebeneinander und sehe zu Hailee, damit sie sich neben mich setzt. Meine Moms setzen sich jeweils an die Tischenden und lächeln sich verschwörerisch über die Holztafel hinweg an. „Und eure Väter?", Sanna lächelt interessiert, doch Tate schaut sie nur vorwurfsvoll an: „Frag sie doch nicht aus!" „Ach, kein Problem. Meine Eltern interessieren sich beide mehr für meine große Schwester als für mich, deswegen wohne ich jetzt auch mit den beiden Spinnern zusammen", Jesper grinst lässig und legt den Arm um Atlas. Ich bin dankbar, dass er so ist wie immer. Und das, obwohl wir uns das letzte Mal am Samstag gesehen haben. „Das tut mir leid zu hören", Sanna schaut betreten, da sie ins Fettnäpfchen getreten ist, woraufhin ich sogar Mitleid mit ihr habe, auch wenn ich sie eben noch so peinlich fand. „Schon gut, ich komme damit klar. Und die Harpers sind noch viel blödere Eltern", petzt Jesper und schaut dann zerknirscht. „Es ist wahr", Atlas zuckt mit den Schultern und näselt an der Servierte auf seinem Teller herum, „die Wahrheit ist, dass ich nicht umsonst nicht das Erbe unserer Mutter antreten will. Sie haben es Hailee nicht einmal angeboten." „Stimmt, du bist doch politisch aktiv, oder?", greift Tate ein und greift dann nach dem Wasserkrug mit den Kräutern, „wollt ihr etwas trinken? Wasser? Saft? Wein?" „Wein wäre toll", schießt es sofort aus Jesper raus, dann schaut er zu mir: „Oh, ist es überhaupt okay für dich, wenn wir trinken?" „Klar, kein Stress", ich lächele verkrampft und deute auf meine Moms, „machen die beiden auch." „Ich nehme bitte nur Saft, ich muss ja noch fahren", Hailee sagt endlich auch etwas und streicht ihr Kleid unter dem Tisch glatt. Kaum greift Atlas die Frage nach seinen politischen Aktivitäten auf, beuge ich mich zu Hailee neben mir: „Ist alles okay? Du redest gerade gefährlich wenig." „Du meinst sogar weniger als du?", sie kichert leise und dreht ihr Glas in ihren Händen, „aber ja, bei mir passt alles. Ich wusste nicht, was ich zu dem Thema mit den Eltern sagen sollte." „Meinetwegen oder deinetwegen?", erwidere ich sanft und schaue sie gequält an. Ich will nicht, dass sie meinetwegen unsicher ist. Als würde sie spüren, was ich ihr sagen will, nickt Hailee unmerklich und sagt sofort etwas, als Atlas gerade nach Luft schnappt. Die Geschwister reden sofort darauf los und texten meine Moms zu, was mich stolz lächeln lässt. Jesper macht ein paar Witze und schaut die ganze Zeit sehnsüchtig zum Essen, bis ich mich räuspere: „Okay, sollen wir dann essen?" „Was ist das denn?", Atlas beäugt skeptisch den Auflauf, woraufhin Tate kichert: „Sannas Kochkünste." „Danke, Liebling. Nein, das ist Vincents Lieblingsessen, Mac'n'Cheese, aber in vegan. Ich hoffe, dass euch das schmeckt", meine Mom errötet und trägt als Erstes Jesper, dann Atlas und dann Hailee auf, die den Teller anstarrt. Oh, verdammt. Am Ende triggert sie das. Schon wieder fängt sie meinen Blick und grinst breit. Unauffällig lehnt sie sich zu mir und streift unter dem Tisch mein Bein: „Alles gut. Du neigst gerade mehr zum Overthinking als ich. Scheint so, als hätten wir heute einen Rollentausch."
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...