HAILEES SICHT
Jake Moore liegt über Vincent und richtet sich schwer atmend auf. „Nicht meinen Sohn", knurrt er den Mann an und fasst sich an die Seite. Rotes, fast braun gefärbtes Blut klebt an seinen Händen. Der Mann wird blass, bleich, nahezu weiß und lässt die Waffe fallen. Stolpert rückwärts und starrt uns an. „Es ... es tut mir leid", haucht er und flieht. Rennt weg. Seine Schritte hallen durch das ganze Treppenhaus, bis er auf einmal stolpert. Sein Fall ist laut zu hören, ein Krachen, dann Stille. Kein Schrei, kein Aufstehen. Ist er tot? „Vincent", Jake unterbricht keuchend die Stille und greift nach Vincent, der sich aufrichtet. Als er das Gewicht seines Vaters auf sich spürt, gerät er in Panik. Strampelt, tritt Jake, der nach hinten kippt und mit dem Hinterkopf keuchend auf dem Boden aufschlägt. Er liegt direkt unter dem Fenster, Sonne scheint in sein blasses, vernarbtes Gesicht und spiegelt sich in seinen khakifarbenen Augen wider, aus denen das Leben rinnt. „Vincent, geht es dir gut?", keucht Jake angestrengt und richtet sich nicht auf. Bleibt einfach liegen, während das Blut aus ihm rinnt. Erst jetzt löse ich mich aus meiner Starre und krabbele über den Boden zu Vincent, der zittert und seinen Vater anstarrt. „Ich ... du ... du hast ...", stottert er und starrt an sich herunter. Er ist unverletzt. Dann reißt er sich das Hemd vom Oberkörper und nähert sich seinem Vater, der nach ihm greift. Ich beeile mich, neben Vincent zu rutschen und ihm vorsichtig das Hemd wegzunehmen. „Wir müssen die Wunde stillen", murmelt Vincent neben mir und sieht mich nicht an. Ich nicke mechanisch und schlucke. Starre Jake an, der den Kopf zu uns dreht und abwesend wirkt. „Nicht", flüstert er und lächelt traurig. Blut läuft aus seinem Mund und färbt seine dunklen Zähne fast braun. „Du stirbst", bricht es aus Vincent hervor. „Für dich. Das war das Letzte, was ich für dich tun konnte", murmelt Jake Moore und schnappt nach Luft. „Nein", Vincent schüttelt den Kopf. Ich weiß nicht, warum er das nicht will. „Es ist ein Zeichen. Dass wir beide an ihrem Todestag hier sind, Vincent. Dass ich rechtzeitig da war. Ich meine, ich habe hier geschlafen, aber ich war im Garten, als ihr ankamt. Ich wollte dich nicht belagern, ich wollte verschwinden und dich in Frieden lassen, aber dann kam dieser Mann. Vincent, ich schwöre, dass ich mich daran gehalten habe. Ich habe dir versprochen, mit den Rest deines Lebens von dir fernzuhalten, wenn du das willst. Ich weiß, dass ich ... dass du mich hasst. Zurecht. Ich weiß, dass ich jedes Recht verspielt habe. Und ich weiß, dass der Tod eine zu milde Strafe für mich ist. Und ich weiß, dass ich als Vater versagt habe und ich für dich gestorben bin. Aber du bist mein Sohn. Wie hätte ich ... wie hätte ich dich nicht beschützen können? Wenn ich es damals nicht konnte, nicht vor mir selbst, dann heute", schluchzt Jake. Das Sprechen fällt ihm immer schwerer, selbst das Weinen. Sein Schmerz liegt in jedem Wort, das angestrengt seinen Mund verlässt. „Es tut mir leid, Vincent", flüstert er kraftlos und schließt die Augen. Vincent neben mir schreit auf. Markerschütternd. Zerreißend. Zersplitternd. Er schreit, greift nach Jakes schlaffem Körper und schüttelt ihn. „Nein! Nicht so! Nicht heute! Jake! Dad! Daddy!", wimmert er und dreht sich verzweifelt zu mir. „Bitte, Hails, es tut mir leid", flüstert er und drückt mir das Hemd fester in die Hand, dann rennt er los. So, wie er immer von Dach zu Dach springt. Ich weiß nicht, was er vorhat, aber ich weiß, was ich tun soll. Auch wenn mein Magen rebelliert, wenn alles an mir zittert und bebt, funktioniere ich und krabbele neben Jake und presse Vincents Hemd an seine blutende Seite. „Er ist gleich wieder da", höre ich mich sagen und schlucke. Jake keucht und schlägt seine Augen auf, die Vincents so ähnlich sehen. Und doch so viel leerer. Da ist nichts mehr, er kämpft, aber er verliert. Er entgleitet mir, auch wenn er so sehr ringt und nach oben ins Licht blickt. „Bitte, nicht so", wiederhole ich Vincents Worte und drücke fester zu. Versuche, ihn zu retten, auch wenn ich nicht weiß, wie. „Hier!", Vincent ist auf der Treppe zu hören und stürzt ins Zimmer. Er hält drei Sonnenblumen in der Hand, die er Jake in die Hand drückt. Mir entgeht nicht, dass sich ihre Hände dabei berühren. Dass Vincent es erlaubt. Dass er es schafft. Jake blinzelt verzweifelt, aber da ist wieder etwas in ihm. Nicht viel, aber er ist noch da. „Es tut mir leid", flüstert er kraftlos, „bitte, lass mich gehen." „Ja", Vincent neben mir schluchzt auf und nickt, „ich weiß. Und Mommy weiß es auch, sie weiß, dass du das nicht wolltest. Sie weiß es. Und sie wird dir vergeben." Jake lächelt. Es ist die letzte Bewegung, die er macht. Dann schließen sich seine Augen. Vincent neben mir schreit und ringt mit sich. Ich spüre, was er sagen will. Wie er kämpft, die Worte zu sagen und wie Jake kämpft, ihm zuzuhören. „Ich ... ich kann dir nicht ... ich kann nicht ... ich will ...", schluchzt Vincent, auch wenn ich die Worte nicht verstehe, nicht akustisch, aber ich spüre sie. „Er weiß es", flüstere ich deshalb nur und lasse Jake los, als er sich nicht mehr rührt. An meinen Händen und Bändern klebt Blut, nicht mal mehr mein schwarzer Nagellack ist zu erkennen. Übelkeit macht sich in mir breit, aber ich schlucke sie runter. Beherrsche mich und kontrolliere mich. Sehe zu Vincent, der nur auf die Hände seines Vaters starrt. Die Sonnenblumen fallen zu Boden. Es hört sich an, als würde das ganze Haus beben. „Ich ... ich habe ihn geliebt. Ich ...", wimmert Vincent, ich nicke und greift hilflos nach ihm. Er lässt sich in meine Arme sinken und schluchzt, ich weine ebenfalls und umarme ihn so kräftig ich kann, auch wenn ich meine Arme nicht mehr spüre. „Ich weiß. Er weiß es. Deine Mom weiß es", flüstere ich und streiche ihm durch die Haare. Erst jetzt wird mir bewusst, was ich da tue. „Entschuldige", wispere ich, doch Vincent schnieft nur und atmet schwerer. „Es fühlt sich an, als wäre sie eben hier gewesen. Als wäre sie die ganze Zeit hier gewesen. Als hätte sie im Wohnzimmer gewartet, um ihn zu holen", murmelt er und verstummt. „Ja", stimme ich ihm zu und empfinde es so. Wir haben noch nie über so etwas gesprochen, noch nie. Ich zwar mit Tate, aber nie mit Vincent. „Und er hat darauf gewartet. Er war die ganze Zeit hier im Haus", murmelt Vincent. Seine Stimme klingt ruhiger. Verstört, aber ruhiger. „Bei ihr. Bei ihrer Seele. Und bei dem Teil seiner Seele, den er ...", ich schlucke und will es nicht aussprechen, aber Vincent nickt: „Den er hier verloren hat, als es das erste Mal passiert ist." „Es ist, als wären sie beide heute gestorben", murmelt er nach einer Weile und sieht zu seinem Vater, der unverändert neben uns liegt. Er blutet nicht mehr, er liegt einfach nur in seinem blutigen Hemd da; einem ähnlichen, das Vincent zum Stillen der Wunde verwendet hat. „Wie ...", setze ich an, da unterbricht Vincent mich: „Wir müssen die Polizei rufen. Oder wen auch immer man ruft, wenn zwei Leichen da sind." Ich erstarre. Möchte mich übergeben. Möchte schreien. Weil mir erst jetzt ganz klar wird, was hier ist. Was hier liegt. Und womit Vincent meinen Verdacht bestätigt hat. Was auf der Treppe liegt. „Vinz ...", hauche ich und zittere. Er nickt und hält meine Hand, während er sein Handy aus seiner nassen, blutigen Cargohose zieht. „Soll ich ...", deute ich an, er schüttelt den Kopf und wählt den Notruf. Als er nicht hinsieht, sondern zu seinem Vater, schicke ich Tate eine Nachricht und bete, dass Sanna oder sie gleich da ist. Weil ich verdammt nochmal nicht weiß, was ich tun soll. Weder mit mir noch mit Vincent. Wie es ihm geht. Was er tun wird. Hier. Im Moore-Haus. In seinem Zimmer. Unter dem Fenster. Neben seinem toten Vater.
Vincent rührt sich nicht mehr vom Fleck. Als die Polizei eintrifft, rufe ich, dass wir oben sind. Ich traue mich nicht zur Treppe. Sie stürmen herein und knien sich zu uns. Stellen Fragen, die ich abwesend und mit zitternder Stimme beantworte. Sie holen irgendwann den Notdienst, der mir eine goldene Foliendecke über die nackten Schultern legt und mir eine Tablette anbietet, aber ich schüttele den Kopf. Sie wollen mich durchchecken, aber ich deute nur krächzend auf Vincent, der neben Jake sitzt und nach oben aus dem Fenster schaut. Er schickt die Leute weg, schüttelt sie ab und schlingt die Arme um sich, als ein Sarg hereingetragen wird. Auf der Treppe höre ich entfernt Stimmen, dann Klappern. Will mir nicht vorstellen, wie der Mann aussieht und wie sie ihn einpacken. Will nicht hinsehen, als sie Jake Moore anheben und in den Sarg legen. Aber ich kann nicht ausblenden, wie Vincent den Leuten zitternd die drei Blumen reicht, bis sie sie mit in den Sarg legen, selbst wenn es nur vorübergehend sein sollte. Irgendwann stürmen Tate und Sanna die Treppe nach oben. Tate schreit und schubst die Leute, bis sie durch darf und einen Blick mit Sanna austauscht, dann umarmt Tate mich, während Sanna ihren Sohn umarmt und an sich zieht. Irgendwann tauschen die beiden und drücken uns fest an sich, während sie leise Fragen der Polizei beantworten. Ich höre nicht zu, sondern starre nur auf das Blut an meinen Händen. Auf meiner Haut. Auf Vincent. Ich bemerke erst, dass sie mit mir reden, als Tate den Arm um meine Hüfte legt und mir hilft, aufzustehen. „Hailee, kannst du laufen?", dringt sie zu mir durch, ich nicke und stütze mich auf ihr ab. Irgendwie kann ich nicht stehen und stelle fest, dass ich mir das Knie beim Krabbeln aufgerissen habe. „Willst du, dass ich dir helfe oder sollen wir einen Sanitäter –", bietet sie an, ich schüttele den Kopf und lächele sie matt an: „Du." „Okay, ich habe dich", verspricht sie und sieht zu Vincent. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen, dass seine Moms sich entscheiden mussten. „Ich bringe dich nach draußen, Hailee. An die Luft. Ich habe Atlas und Jesper angerufen, die beiden mussten draußen warten", sie streicht mir hilflos durch die Locken, was mich antreibt. Diesmal schaffe ich es, aufzutreten und lasse mich von Tate nach unten bringen. Halte mich an ihr fest und atme erst wieder durch, als sie mich durch den Vorgarten bringt. Am Tor stehen einige Beatme, die alles abgesperrt haben. Und eine Polizistin hält Atlas zurück, der sie anschreit. „Atlas. Sie ist da", Jesper bemerkt mich zuerst und zieht Atlas zurück, der sofort erleichtert schluchzt und mich umarmt. Jesper schließt von hinten die Arme um mich und drückt mir tausend Küsse ins Haar. Tate verschwindet wieder ins Haus, was ich kaum bemerke, erst, als wir eine Weile zu dritt dastehen. „Es tut mir so leid, dass das passiert ist. Dass du das erleben musstest!", Atlas schüttelt mich und drückt mich an sich, bis ich nach Luft schnappe. „Du kannst nichts dafür. Der Mann war kein Journalist, sondern er war wegen Rose da. Es hätte euch beiden genauso passieren können", bringe ich meinen ersten Satz zustande und merke, wie mein Atem wieder ruhiger wird. „Und wie geht es dir jetzt?", Jesper streicht beruhigend über meinen Rücken und sieht mich besorgt an. „Besser als Vincent", murmele ich und sehe mich nach ihm um. Sanna und Tate bringen ihn gerade nach draußen; sie haben seine Arme links und rechts über die Schultern gelegt und hieven ihn über das Blumenbeet. „Braucht ihr Hilfe?", bietet Atlas sofort an, die Frauen lächeln matt, aber schütteln synchron die Köpfe. „Es geht. Wir bringen ihn ins Auto", Sanna schnappt nach Luft und schaut mich besorgt an: „Hailee, alles okay?" „Mhm", mache ich und lehne mich an Atlas, der mich umarmt und nicht mehr so schnell loslässt. „Wollt ihr nachkommen? Es ist auch okay, wenn du jetzt für dich sein willst, Hailee", bietet Tate an, ich nicke sofort: „Nein. Ich will mit zu euch nach Hause. Ich will bei Vincent sein." „Du kannst auch gleich bei ihm mitfahren. Ich bringe deinen Wagen hin und Jesper fährt mit unserem. Wir kriegen das hin", entscheidet Atlas sofort und bringt mich ebenfalls mit zum SUV der Sawyers, wo er mich auf die Rückbank schiebt. Erst, als ich angeschnallt bin, und er mir die Autoschlüssel abgenommen hat, entspannt er sich. „Bis gleich", verspricht er mir und schließt vorsichtig die Tür, ich lehne erschöpft den Kopf an die Rückenlehne. Neben mir sitzt Vincent und starrt nach vorne. Tate steigt bereits ein und setzt sich auf den Beifahrersitz, während Sanna noch draußen mit Atlas redet und etwas klärt, dann steigt sie ebenfalls ein: „Okay, dann fahren wir heim. Die Polizei will erst in den nächsten Tag mit euch reden, wenn sie die Obduktionen hinter sich gebracht haben." „Aber das hat noch Zeit", fügt Tate sofort hinzu und dreht sich zu uns um: „Können wir losfahren?" Ich nicke, aber sehe zu Vincent, der blinzelt. Er sagt nichts, aber er registriert, dass ich da bin. Hoffe ich. Denn ich will noch mehr für ihn da sein als dass ich ihn jetzt brauche.
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...