Kapitel siebzehn

18 2 0
                                    

VINCENTS SICHT


Es hupt bereits zum zweiten Mal, als ich aus dem Bad stürme und die Treppe nach unten renne, wo Sheera freudig bellt. Sie sitzt direkt vor der Haustür und ist startklar – für ihr Alter ist sie bei der heutigen Hitze echt motiviert und hechelt nur etwas. „Na, bist du bereit, meine Große?", ich greife nach ihrer braunen Leine und atme tief durch. Noch eine Premiere heute. Dann reiße ich die Tür auf und jogge mit Sheera nach draußen und zum Gartentor, hinter dem ein schwarzer geräumiger Sportwagen parkt. Hailee klettert von der Rückbank und umarmt mich, wobei mich ihr sommerlicher Geruch nach Früchten und Gewürzen umhüllt. „Hi", sie lächelt mich fröhlich an und schiebt sich ihre Sonnenbrille ins Haar, woraufhin ich sie ihr wieder auf die Nase schubse und sie angrinse: „Hi." „Einsteigen, ihr Turteltauben!", ruft Jesper von drinnen und hupt demonstrativ. Seufzend klettert Hailee wieder ohne ein weiteres Wort nach drinnen und murmelt etwas auf Spanisch, das ich nicht verstehe. Sheera sieht mich erst etwas skeptisch an, als ich sie ins Innere bugsiere und in den Fußraum setze, bevor ich mich nach drinnen quetsche und Hailee überfordert meinen Rucksack in den Schoß drücke, damit die Tür zugeht. „Na, was geht, Mann?", begrüßt Jesper mich hinter dem Steuer und grinst in den Rückspiegel, ich hebe die Hand zum Gruß: „Stress, das Übliche. Und das geht wirklich klar, dass Sheera hier im Fußraum sitzt?" „Ja, ich fahre vorsichtig", verspricht Jesper und drückt sofort aufs Gaspedal, wobei es mich in die Polster presst. Hailee kichert bei meinem Anblick und streichelt meine Hündin, die sich an meine Beine presst und unbehaglich schaut – sie hasst Autofahrten, aber immerhin wird ihr unser Zielort gefallen. „Er fährt nie vorsichtig", merkt Atlas vom Beifahrersitz aus an, „eigentlich wäre ich gefahren, aber mein Wagen könnte zu auffällig und eng sein." Erst jetzt dreht er sich kurz zu mir um und lächelt charmant; seine teure Sonnenbrille lässt er aufgezogen und seine längeren gestylten Haare fliegen ihm in die Stirn, als Jesper die Fenster runterlässt. „Die beiden sind heute etwas bissig", raunt Hailee mir halblaut zu und spricht dann wieder liebevoll mit Sheera, was in mir eine größere Hitze auslöst als die Luft draußen. „Wieso?", ich verschränke die Arme vor dem Brustkorb und sehe nach vorne, wo die beiden anderen schweigen und auf die Straße starren. „Keine Ahnung", Hailee pustet sich gelangweilt ein paar Locken aus der Stirn und deutet dann amüsiert auf meine nackten Beine. Ich hatte noch nie, außer im Theater, eine Cargoshorts an, aber heute hat es leider über fünfunddreißig Grad. „So freizügig, Vinz?", neckt sie mich, wobei ihre Stimme nicht so locker klingt wie ihr Spruch. Sie überlegt immer noch, wie weit ihre Witze gehen dürfen. „Ich wollte dir annähernd Konkurrenz machen", erwidere ich locker und deute auf ihre kurze zerrissene Shorts, die mehr aus Fetzen als aus Jeans besteht. Dazu trägt sie einfach nur ein durchsichtiges rotes Fransenteil über ihrem gelben knappen gestrickten Bikini, den man deutlich durchschimmern sieht. „Freizügiger als Hails geht es nicht", meldet sich Atlas von vorne zu Wort und lächelt aber seine Schwester liebevoll im Rückspiegel an, woraufhin Hailee ihm kichernd den Mittelfinger zeigt. „Und der da kann es auch nicht abwarten, seine krassen Muskeln zu zeigen", mischt Jesper sich wieder ein, wobei seine schlechte Laune das ganze Wageninnere einnimmt. „Geht es hier um Madison?", fragt Hailee dazwischen und verdreht ihre süßen dunklen Augen, die sie heute durch ein paar geklebte Steine betont. Der Festival-Look sieht süßer aus, als ich es für möglich gehalten hätte. „Frag das ihn", knurrt Jesper von vorne, und scheint dann mit mir zu reden, „weißt du, Vinz, ich habe sie von Atlas' Handy aus gekorbt, aber gestern hat Atlas Hails von der Therapie abgeholt und dort scheinbar wieder mit Madison geflirtet." „Ich habe nicht mir ihr geflirtet", widerspricht Atlas diplomatisch und lehnt sich aus dem Fenster. Er wirkt bis in die letzte Haarspitze angespannt und jede Ader an seinem Nacken zuckt, das sehe ich sogar von hier hinten. „Du warst mit ihr essen. Das hat sie auf Insta gepostet, Mann! Du musst aufpassen! Die kann uns ganz schnell einen Strich durch die Rechnung machen. Du musst als künftiger Präsident besser aufpassen", pampt Jesper weiter und rast über den Highway, wobei Sheera langsam zu knurren beginnt. Beruhigend streiche ich ihr über den warmen Kopf und gebe ihr unauffällig noch ein Leckerli aus meiner Hosentasche, das sie sofort frisst. „Du bist nicht mein Babysitter", murmelt Atlas nur lustlos und spielt an seinem nackten Handgelenk. Am letzten Wochenende hat er bei uns daheim die Erbuhr von Rose Harper abgenommen – scheinbar triggert ihn das alles immer noch. „Nein, aber dein Berater und bester Freund", faucht Jesper dazwischen und schaltet das Radio ein. Passend zur Stimmung kommt ein geschmetterter Song von Måneskin, bei dem Hailee und Jesper leise mitsummen und sich in der Musik verlieren, während Atlas außergewöhnlich pessimistisch und abgelenkt wirkt.
Der Lake Michigan wirkt noch immer viel zu überfüllt, obwohl es bereits spät ist und Jesper eine Bucht angesteuert hat, bei der wir zur Hälfte im Gebüsch parken, damit die Anwesenheit der Geschwister nicht zu sehr auffällt. Kaum steigen wir aus und treten in die schwüle drückende Hitze, ziehen Hailee und Atlas beide ihre Sonnenbrillen auf und schauen sich prüfend um, doch bisher sieht niemand rüber. „Wie findet ihr es?", Jesper wirft den beiden ihre Taschen aus dem Kofferraum zu, während ich bereits meinen Rucksack schultere und Sheera festhalten muss, damit sie nicht gleich zum Wasser stürmt. „Das hier ist nicht Veracruz", antworten die Geschwister synchron und schlagen danach lachend ein. Jesper wirft mir nur genervte Blicke zu und kommt dann zu mir, um sich auf mir abzustützen, wobei er meine Reaktion abwartet. Der Körperkontakt mit ihm ist noch immer ungewohnt, aber langsam wird er erträglich. Viel schlimmer finde ich den Gedanken, gleich unter etlichen halbnackten Leuten, vor allem Männern, zu sein. „Ich finde, du hast eine gute Stelle ausgesucht, Jes", räume ich ein und klopfe ihm unbeholfen auf die Schulter, als wir vorgehen und Sheera an der Spitze läuft. Atlas und Hailee lassen sich zurückfallen und beginnen leise auf Spanisch zu tuscheln, was mich verunsichert. „Keine Sorge, ich glaube, das ist meinetwegen", flüstert Jesper mir zu und schiebt sich an den letzten Büschen vorbei auf den Strand. Kaum mache ich einen Schritt auf den grasigen Sand, füllen sich meine Vans mit Staub und Steinchen, was mich kälter lässt als erwartet. „Immer noch wegen Madison?", ich runzele die Stirn und sehe mich gestresst um: Vor uns liegt zwar ein freier Platz, aber keine fünf Meter weiter feiern mehrere muskulöse Typen oberkörperfrei und betrinken sich lautstark. „Ja, ich traue ihr nicht", nuschelt Jesper und breitet genervt seine Decke aus. Stirnrunzelnd betrachte ich das riesige Motiv mit einem Darth Vader in irgendeiner Galaxie – ich habe die Filme nie gesehen, weil meine Moms sämtliche Trigger vermeiden wollten. „Sie ist okay. Aber ich denke nicht, dass das mit Atlas und ihr irgendetwas zu bedeuten hat. Glaub mir, sie hängt noch an ihrem Ex Dylan. Gestern Abend war sie nämlich auch noch am Theater und hat ihn auf ihrem Motorroller abgeholt", brumme ich und mustere dann Jesper, der bereits auf der Decke sitzt und seine Sneaker auszieht. Er scheint demonstrativ nicht zuzuhören, doch dann sieht er mich verschwörerisch an und klopft auf den freien Platz neben sich. Skeptisch setze ich mich neben ihn und deute Sheera an, dass sie sich neben die Decke legt, bis wir ins Wasser gehen. Hinter uns lassen sich Hailee und Atlas noch immer Zeit. „Ich bin nicht eifersüchtig, falls du das denkst", wispert Jesper und spielt an den Haargummis an seinem blassen Handgelenk. „Alles klar", erwidere ich nur und klopfe ihm kumpelmäßig auf die Schulter – keine Ahnung, ob man das so macht. „Und du und Hails?", wechselt Jesper das Thema und wackelt mit seinen Augenbrauen. Fragend lehne ich mich zurück und mustere ihn verkniffen. „Wollt ihr das, was ihr habt, mal konkretisieren?", fragt er gerade heraus und wühlt dann in seiner Hosentasche, um mir einen Kaugummi anzubieten. Abwesend schüttele ich den Kopf und balle meine Hände zu einer Faust. Er hat recht. Das, was Hailee und ich haben, ist undefiniert. Und ich weiß nicht, wie ich das finden soll. Bis vor einem Monat habe ich mir nicht vorstellen können, jemanden zu küssen. Jemanden zu mögen. Gefühle zu haben. Für ein Mädchen. Oder für mich. Irgendeine Regung in meinem kalten Körper. Und jetzt? Jetzt setze ich mich für sie meinem Zwang aus und sitze an einem verdammten Strand. Mit verdammt vielen nackten Männern um uns herum. „Vinz?", Jesper schnippt vor meinem Gesicht herum und grinst mich dreckig an. „Ähm ja? Sorry, ich – ich habe keine Ahnung", nuschele ich und atme erleichtert auf, als Hailee und Atlas endlich zu uns stoßen. „Was habt ihr jetzt abgelästert?", provoziert Jesper Atlas heute erneut und macht ihm keinen Platz, als Atlas sich auf die Decke neben ihn setzen will. Hailee seufzt nur und lässt sich neben mich fallen, wobei sie ihre Flipflops noch im Flug von den Füßen kickt. „Nichts nichts", Hailee kichert und wühlt in ihrer Strandtasche, aus der ein paar Orakelkarten und ein Sonnenhut fallen, den sie sich kurzer Hand aufsetzt. „Und ihr, habt ihr Männergespräche geführt?", witzelt sie und schnappt sich eine weiße Flasche aus ihrer Tasche. „Ja, absolut", entgegnet Jesper und reckt gespielt sein Kinn, woraufhin wir alle vier lachen. Immerhin bricht das Eis jetzt ein wenig. Ich weiß gar nicht, seit wann ich das will und nicht sogar noch mehr erzeuge. „Unfair, ich hätte beteiligt sein müssen. Wir sollten wirklich mal einen Männerabend machen", merkt Atlas an und zieht sich sein T-Shirt vom Kopf, wobei ihm seine Sonnenbrille in den Schoß fällt. Ich will nicht hinsehen, ich will mich nicht getriggert fühlen, aber kurz starre ich seinen durchtrainierten Oberkörper an und stelle mir vor, wie leicht er es hätte, mich anzugreifen. Zwar wäre ich womöglich stärker, aber kaum größer. Und Jesper hat zwar keine Muskeln, wie ich sehe, aber dafür überragt er mich um einen halben Kopf. Stopp. Das sind meine Freunde. Hailees beste Freunde. Nie würden sie mir etwas tun. Und ich könnte mich wehren. Das liegt nur an den verdammten besoffenen Männern hinter mir, die mir wie ein blinder Fleck im Nacken sitzen. Ich spüre ihre Anwesenheit, ihre Macht und ihre Männlichkeit. „Was sagt ihr, Jungs? Gehen wir gleich ins Wasser?", zwitschert Hailee und reißt mich aus meiner Starre. Nur bin ich jetzt noch angespannter als vorher. „Gerne. Oh, verdammt, wir hätten unsere Sachen im Auto lassen sollen", Atlas seufzt und verstaut bereits seine Wertgegenstände in seiner weißen Strandtasche, die gerade ihre ersten Flecken auf dem Boden bekommt. „Spießer. Bist du dabei, Jes?", Hailee wirft lachend ihr Oberteil auf Jesper, der an seiner dunklen Badehose zupft und komisch dasitzt, sodass es sogar mir auffällt. „Hm ja", brummt er nur und wirft einen hastigen Blick auf Atlas' muskulösen Rücken, den er uns zukehrt. „He, Mann, du hast echt coole Tattoos", ich räuspere mich und deute auf Jespers blassen Oberkörper, den er zu verdecken versucht. Komisch, eigentlich hätte ich ihn für selbstbewusster gehalten, aber heute ist er sowieso merkwürdig drauf. „Danke", er lächelt stolz und entspannt sich tatsächlich etwas, als ich noch immer seine vielen dunklen Symbole mustere, die seine Arme, seine Schultern und auch seinen Rücken bedecken, als er aufsteht. „Und du? Willst du ins Wasser gehen?", Hailee springt ebenfalls motiviert auf und rückt ihren knappen Bikini zurecht. Hastig sehe ich weg, als sie mit ihrer Hüfte auf meiner Blickhöhe ist und zuzele Sheera zu, damit sie aufsteht und mit dem Schwanz wedelt. „Muss ich wohl", erwidere ich verkniffen und schließe kurz die Augen. Darauf war ich vorbereitet. Es ist alles gut. Ich bin mit Hailee, Atlas und Jesper hier. Sheera ist auch noch da. Und ich bin verdammt nochmal einundzwanzig Jahre alt, trainiert und tätowiert – niemand wird es wagen, mich blöd anzumachen. Bis auf ich mich selbst.

shattered soulsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt