HAILEES SICHT
Er ist nicht mehr da. Als ich die kleine Holztür an der Seite aufreiße und wieder in den Aufführungssaal stolpere, scanne ich den ganzen Raum. Überall sind bunte Kleider, weiße und schwarze Hemden zu sehen, aber nirgends eines dieser karierten. Immerhin fällt Jesper als Riese auf, sodass ich panisch zu ihm renne und mich an den Leuten vorbei quetsche, um ihn fast umzuschmeißen. „Jes!", ich zerre an seiner Schulter und falle dabei über meine Füße. Gerade noch fängt jemand mich. Atlas, der neben ihm steht und mich besorgt anschaut. „Hails!", Jesper reißt schockiert die Augen auf und starrt mich an. „Was ist los?", fragt Atlas sofort und hält mich fest, als ich sofort wieder losrennen will. „Geht es hier um Vincent? Er ist an seinen Moms vorbei gestürmt und hat uns einfach ausgeblendet. Seine Moms meinten, dass sie das klären und wir hier auf dich warten sollen", redet Jesper drauf los und sieht sich dann suchend um. Immerhin überblickt er einen Großteil der Gäste, die noch fröhlich reden und das Theaterstück loben. „Also ist er weg?", presse ich raus und schnappe nach Luft. „Ja, wahrscheinlich ...", in Atlas' ruhiger Stimme liegt ein fragender Unterton, bei dem er zusätzlich noch seine Stirn runzelt. „Was ist denn passiert? Wieso ist er vor dir weggerannt?", ist Jesper ehrlich wie immer und verzieht dann unmerklich sein Gesicht. „Weil ... weil ... in der Umkleide ...", stammele ich, da stößt Jesper mich an und deutet auf Madison, die strahlend zu uns stürmt. „Oh mein Gott! Hailee! Herzlichen Glückwunsch, das ist so cool!", kreischt sie und springt zwischen uns, um mich zu umarmen. Sofort hüllt mich ihrer frischer minziger Geruch ein und übertönt die alten Vorhänge und das frische Popcorn, das auf dem Boden verteilt ist. „Was?", hauche ich nur geistlos und klopfe ihr unbeholfen auf den Rücken. Madison löst sich lachend von mir und fährt sich über ihren Bob: „Hast du es nicht gesehen? Ich habe den ein oder anderen Account auf Instagram abonniert und da steht einfach, dass du bei der Convention bist!" „Was für eine Convention?", fragt Atlas verwirrt dazwischen und tippt Madison an. „Die in Mexiko", murmele ich und blinzele. „Wir sind direkt in Vincents Umkleide gerannt, um dir zu gratulieren, aber er war nicht mehr da. Und du auch nicht", seufzt Madison und wendet sich dann meinem Bruder zu, um mit ihm über die Convention zu plaudern. „Ihr wart in der Umkleide?!", fiepe ich und entdecke Dylan, der ebenfalls zu uns kommt. Er trägt noch sein Kostüm, inzwischen auch mit dem Leinenhemd, und der Arbeiterhose, die beim Gehen scheuert. „He, Hailee, weißt du, wo Vincent ist? Oh und Glückwunsch zu dem Sieg", begrüßt er mich und stellt sich lachend zu uns. „Du ... war noch jemand in der Umkleide?", bringe ich mühsam heraus und versuche zu lächeln, aber in meinem Kopf sind nur Vincent und Jake. Jake, den Dylan hätte überraschen können. Jake, den Madison vielleicht erkannt hätte. Vincent, der so verstört war. Vincent, der mich alleine gelassen hat. „Ne, nur Blumen. Wieso? Ist alles cool?", fragt Dylan sofort und sieht sich um, als müsste er jemanden rauswerfen. „Ja. Nein. Ich muss weg", stammele ich und mache ein paar Schritte nach hinten, um gegen die Sitze zu laufen. „Hailee, warte. Du drehst doch jetzt nicht wegen der Convention durch, oder? Ich bin sicher, du kannst nochmal mit Doktor Nelson reden und dass du das schaffst! Du wirst die Videos super hinkriegen! Und wegen dieser anderen Sache ...", Madison schüttelt den Kopf und sieht zerknirscht zu Dylan, Jesper und Atlas. Verwirrt starre ich sie an: „Was für eine andere Sache? Sorry, wovon redest du da?" „Na von einem der anderen Plätze. Erde an Hailee, du hast einen der zehn Sitze auf der Convention gewonnen! Du bist einfach eine der zehn wichtigsten aktivistischen Blogger*innen in Mexiko! Wie cool! Das solltest du dir auch nicht von deinem Ex versauen lassen!", ruft Madison und spricht dann leiser, als die Leute zu uns sehen. Atlas lächelt angespannt und hebt grüßend die Hand, dann, kaum wendet die Menge sich ab, sieht er aus, als würde er ausrasten. Mein Gesicht fühlt sich nur heiß an, aber sonst regt sich nichts in mir. Gedanklich bin ich nur bei Vincent und – Moment, was hat Madison da gesagt? „Ex?", fragt Jesper auch dazwischen und deutet auf Dylan, „ich dachte, der da wäre dein Ex." „Ja, ich meine aber Hailees Exfreund. Juan. Dieser Typ mit dem Dutt, dem Bart und seinem Van-Life, über das er bloggt. Der hat auch einen der zehn Plätze", erklärt Madison, woraufhin ich langsam nicke und dann erstarre. Nein. Nein. Nein. Mierda. Mierda! Super mierda! Für eine Sekunde kann ich Vincent aus meinen Gedanken verdrängen. „Was? Juan ... Juan hat ... der ist da auch?", würge ich heraus und sehe zu Atlas, der Madison anstarrt, als würde er sie am liebsten erwürgen. „Ja, aber das sollte dich nicht stressen. Wenn du eine Freundin brauchst, höre ich dir gerne zu. Ich meine, du hast natürlich Atlas und Jesper, das weiß ich ...", plaudert Madison darauf los und lächelt aufmerksam, aber ich lasse mich nur auf einen der Sessel sinken und balle meine Hände zu Fäusten. Starre auf meine bunten Armbänder und auf den Nagellack, den heute ich Morgen noch summend aufgetragen habe. Da ist noch alles gut gewesen. Da war ich noch fröhlich, glücklich und einfach nur verliebt in Vincent. Ich hatte mir extra das gelbe Kleid angezogen, bin durch die Wohnung getanzt und habe mich frei gefühlt. Und jetzt? Jetzt würde ich mir das Kleid am liebsten vom Körper reißen und verbrennen. Das bin doch nicht ich! Das kann nicht ich sein! Gelb. Und andererseits fühle ich mich wieder so verdammt schmutzig. Mit dem Schlüssel in meiner Handtasche. Wegen Jake. Und jetzt auch noch wegen Juan. Das ist zu viel.
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shattered souls
Romance„Ich habe diese Worte gebraucht. Nicht von jemandem, der mich krampfhaft reparieren will, damit ich wieder für meine Eltern oder meinen Bruder funktioniere. Nicht von jemandem, der mich liebt und beschützen will - vorzugsweise vor mir selbst. Sonder...