Kapitel neunundzwanzig

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VINCENTS SICHT


Mein Sohn, morgen ist der Tag, an dem ich das Gefängnis verlassen darf. Ich freue mich nicht. Ausschließlich die Möglichkeit, mich persönlich entschuldigen zu können, treibt mich an. Die Tatsache, dass sie mich rauslassen, finde ich beängstigend. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass du seit fünfzehn Jahren an diesen verhängnisvollen Tag denkst und hoffst, dass er niemals kommt. Glaub mir, das hätte ich auch. Und das tue ich auch bei all den anderen Männern, die etwas Ähnliches getan haben. Ich würde sie auch nicht herauslassen. Und mich auch nicht. Aber ich verspreche dir, dass du keine Angst zu haben brauchst. Nicht vor mir und nicht vor dir. Du bist nicht wie ich. Ich erinnere mich gerne daran zurück, wie wir noch unbeschwert zusammen den Zaun um unser Haus gebaut haben, wie wir für deine Mommy Sonnenblumen gepflückt haben und wie wir abends immer auf dem Sofa lagen, Malzbier getrunken haben und du dir dein Mac'n'Cheese gewünscht hast. Du hast mich immer mit deinen – meinen – großen grünen Augen angesehen und gelacht. Du hast so gerne meine karierten braunen Hemden getragen und dir zu große Kapuzen über deinen kleinen Kopf gestülpt, wenn wir morgens ins Theater gegangen sind, weil du wie ein Einbrecher wirken wolltest. Ich weiß nicht, ob du gerne daran zurückdenkst, ich tue es. Weil ich dich nicht verloren hatte. Oder mich selbst. Wir waren einfach nur glücklich und ausgelassen, bevor all diese Dinge geschehen sind. Deine Mommy hat immer gesagt, dass wir uns so ähnlich wären, und damals hat das gestimmt. Aber heute tut es das nicht mehr, denn ich bin nicht mehr ich. Und ich hasse den Gedanken, dass du nicht mehr du bist. Meinetwegen. In meiner Hoffnung findest du irgendwann zu dir zurück. Oder ich. Deswegen will ich morgen als Erstes zu dem Theater gehen. Keine Sorge, ich werde nicht jedes Haus in ganz Milwaukee oder gar im verdammten Wisconsin absuchen. Wenn es sein soll, dann treffen wir uns, mein Junge. Das hätte deine Mommy so gesagt. Und bis dahin werde ich dir schreiben, wenn es das Einzige ist, was ich tun kann. In Liebe, dein Daddy", liest Sanna stockend das zerknitterte Papier in ihren Händen vor und lässt es langsam sinken. Sie kauert auf unserem großen Sessel und hat seit Stunden ihren Kakao nicht angerührt. Tate liegt zu ihren Füßen auf dem Bauch und starrt in ihre Kaffeetasse, die sie vorhin beim Durchsuchen der vielen Umschläge umgeworfen hat. Es sind über fünftausend verdammte Briefe, abgerissene Schnipsel, Servierten und vollgekritzelte Umschläge – scheinbar hatte mein Vater nicht immer Zugriff auf Briefpapier. „Vincent?", Tate räuspert sich und sucht meinen Blick. Selbst Sheera, die ihren Kopf auf meine Beine gebettet hat, sieht winselnd auf und schleckt mir über die Hand. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich dachte, er hätte mir aufgelauert. Und irgendwie glaube ich ihm, dass es ein Zufall war. Er ist also vormittags dorthin gegangen, hat die Plakate von mir gesehen und hat beschlossen, Sonnenblumen zu kaufen und sich das Stück anzusehen?", murmele ich und schlucke bei dem Gedanken, dass er mich die ganze Zeit beobachtet hat, während ich ahnungslos gespielt habe. „Das ist widerwärtig", knurrt Mom Tate sofort und wischt ein paar Briefe aus ihrem Sichtfeld. Die meisten haben meine Moms leise gelesen und mir die wohl angenehmsten gereicht; außerdem brauchen wir ewig, bis wir alle gesichtet haben. Jetzt ist es gerade einmal zwanzig Uhr und wir haben noch nicht mal ein Zehntel geschafft. Aber scheinbar die wichtigsten. „Aus seiner Sicht nicht. Und er hat recht, Vincent. Du bist nicht wie er. Beziehungsweise hast du natürlich ein paar Seiten von Jake Moore. Aber gute", flüstert Sanna und reicht mir vorsichtig den Brief aufs Sofa. Zitternd greife ich nach dem Papier, das mein Vater vorgestern noch in der Hand hatte und betrachte die kleine schwarze Schrift, die meine sein könnte. „Und was?", nuschele ich. Fuck, ich weiß, dass ich ihm ähnlich bin. Optisch. Und vermutlich auch charakterlich. „Ihr seid beide mutig, Vincent. Und ausdauernd. Er hat dir jeden Tag geschrieben, selbst an den Tagen, an denen er vergewaltigt oder fast getötet wurde. Trotzdem hat er dir immer geschrieben. Oder leidenschaftlich, wenn man an das Theater denkt. Und womöglich auch düster, ja. Aber genauso auch reflektiert, das muss man ihm lassen. Aber du bist auch unfassbar stark. Und zuverlässig. Und kompromisslos. Und beschützend. Selbst wenn du das nicht von ihm hast, hast du auch noch eine leibliche Mutter", ergreift Tate wieder das Wort und setzt sich auf. Sanna legt ihrer Frau die Hand auf die Schulter und schluchzt ergriffen auf. Tatsächlich läuft mir auch eine Träne die Wange herunter, auch wenn ich es nicht merke, wie ich weine. „Und zwei Moms", schniefe ich und versuche zu lächeln. Noch habe ich nicht ganz realisiert, was meine Moms da gesagt haben. Was mein Vater da geschrieben hat. Was das bedeuten könnte. „Die dich bedingungslos lieben, Vincent. Du bist unser Sohn", verspricht Sanna mir mit zitternder Stimme und klettert zu mir aufs Sofa, „und du hast vielleicht ein paar Moore-Gene, aber keine Monster-Gene." „Bitte glaub uns das, Vincent. Und wenn du ganz tief in dich horchst, weißt du es auch. Das, was Jake war, hast du nicht. Und er hatte es wohl auch nicht immer", Mom Tate rückt auf meine rechte Seite, dann umarmen mich beide gleichzeitig. Sheera macht Mom Platz und wirft sich stattdessen auf meinen Oberkörper, sodass ich aufstöhne und sie angrinse. Diesmal wirklich. „Ja, aber er wurde so, weil er Mommy – verdammt, tut mir leid. Weil er meine Mutter zu sehr geliebt hat und nicht ertragen hat, wie sie gestorben ist", wispere ich in die Umarmung meiner Moms und gegen Sheeras Kopf. „Er hat die Kontrolle verloren", wirft Sanna ein, ich nicke: „Ja, und ich habe sie auch oft verloren. Selbst jetzt, nachdem ich aus der Therapiegruppe raus bin, habe ich nochmal mit dem Duschen angefangen." „Aber du hast von selbst aufgehört. Und du verletzt damit dich selbst, aber niemand anderen", hält Tate ebenfalls dagegen und streicht mir durch die Haare. „Du würdest Hailee nicht wehtun", redet Sanna wieder von links weiter und greift nach meiner Hand. „Ich habe sie im Theater geschubst und hier nochmal. Und das, was ich gesagt habe ... Ich habe sie physisch und psychisch verletzt", stelle ich fest und merke, wie mein Herz sich entgegen all meiner Erwartungen meldet: Es schlägt wild gegen meinen Brustkorb und ist leider noch nicht zersprungen. „Vincent, so etwas passiert. Natürlich sollte das nicht zur Regel werden, und Misshandlungen sind in einer Beziehung niemals in Ordnung, aber Streits schon. Du kannst nicht aufgeben, nur, weil du Scheiße gebaut hast. Auch wir streiten uns manchmal. Und wir haben schon die schlimmsten Dinge gesagt", versichert mir Tate wieder und grinst Sanna verschwörerisch an, die kichert und sich auf die Lippen beißt: „Ja, natürlich. Und trotzdem lieben wir uns. Weil wir drüber reden. Vielleicht verzeiht Hailee dir nicht, vielleicht schon. Aber du kämpfst seit fünfzehn Jahren für dich und für uns, also wieso nicht auch für sie?" „Weil sie mich nicht verdient hat. Sie hat etwas Besseres verdient. Ich biete ihr keine Sicherheit, in keinerlei Hinsicht", platzt es aus mir heraus. Jeden Tag könnte ich beim Parcours sterben, ich könnte durchdrehen, ich könnte aufgeben. Ich könnte sie wieder schubsen, ich könnte sie anschreien oder enttäuschen. „Mehr als du denkst", beschwört Sanna mich und sieht mich liebevoll an. „Und Hailee wirkt nicht wie der Typ, der es komplett sicher haben will. Es liegt etwas zwischen Abenteuer und Risiko, Vincent. Sie weiß, dass du Theaterschauspieler bist. Dass du gerne Parcours läufst. Dass du Motorrad fährst. Und noch so viel mehr. Sie weiß, dass du keine Sicherheit magst. Und trotzdem gibst du sie ihr", beschwört Tate mich und schüttelt meine Schultern, bis ich lache. Dunkel blitzen ein paar Erinnerungen in mir auf. Wie Hailee mir nach der Party vertraut hat. Wie mutig sie bei unserem Date im Theater war. Wie sie mir ihre dunkelsten Geheimnisse anvertraut hat. Wie sie mich bei ihren Eltern dabeihaben wollte. Und wie sie mich als Safe Space bezeichnet hat. Verdammt.

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