Kapitel fünf

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HAILEES SICHT


Fluchtartig verlasse ich den Therapieraum, als Doktor Nelson die letzten Worte sagt. „Hailee, warte!", ruft mir eine helle Stimme nach. Gehetzt drehe ich mich um und blicke in hellblaue Augen, die von einem gestuften blonden Pony umrahmt werden. Madison flitzt neben mich und lächelt mich an: „Ich dachte, wir würden vielleicht ratschen wollen." „Oh, klar. Sorry, ich wollte einfach –", ich lächele sie an und laufe los. Sie marschiert fröhlich neben mir und blinzelt in die Abendsonne. Die orangenen Strahlen tauchen den ganzen Platz in ein fröhliches Licht und verströmen eine Wärme, von der ich träume. „Kein Ding, ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, mit mir auf eine Party zu gehen. Oder ob wir etwas anderes machen wollen. Aber ich finde dich echt cool und noch cooler finde ich es, dass wir beide Journalismus studieren, also du auch ab Oktober", tratscht sie los und bindet sich ihr Sweatshirt erneut über die Schultern. „Ja, ich mag Partys", erwidere ich und denke an meine letzte, auf der ich in Veracruz mit Tori war. Ich mochte Partys. „Ich könnte dich mit dem Wagen abholen", bietet Madison an und zückt ihr Handy, um es mir hinzuhalten: „Gib mir einfach deine Nummer." „Was tust du da?", unterbricht uns meine Lieblingsstimme: Atlas stapft über den Hof zu uns und hat die Hände lässig in den Taschen seiner Chinohose vergraben. Hinter ihm stolpert Jesper in seinen Stiefeln über einen Ast und fällt lachend auf Atlas' Schultern, um sich auf ihm abzustützen. Die beiden haben darauf bestanden, dass sie mich heute zur Therapie fahren und abends abholen, um Vincent unter die Lupe zu nehmen, weil ich gestern so rot wurde. „Hi, ich bin Madison. Ich will mit Hailee auf eine Party am Wochenende gehen, wollt ihr mitkommen?", meine Therapiegenossin grinst die Jungs frech an und streckt ihnen ihre Hand hin. Jesper verengt die Augen und sieht zu Atlas, der ihr charmant lächelnd die Hand schüttelt: „Freut mich, ich bin Atlas und das ist mein bester Freund Jesper. Aber wir gehen definitiv nicht auf die Party und Hailee auch nicht." „Doch, ich gehe dorthin", verkünde ich fröhlich und sehe zu Jesper: „Partys sind doch cool, oder?" „Klar. Atlas, lass ihr den Spaß", er boxt meinen Bruder, woraufhin ich schnaube. Ich brauche keine Erlaubnis von Atlas, nur, weil er sich Sorgen macht. „Nein, ich will nicht, dass du da hingehst. Du kennst Madison nicht", brummt er und lächelt noch immer umwerfend. Doch Madison lacht auf und kämmt sich ihre Haare: „Stimmt. Und wir zwei kennen uns auch nicht. Aber ich würde dich gerne kennenlernen." Perplex schaue ich sie an und blinzele. Atlas wird knallrot, jedenfalls erkennt man es, wenn man ihn kennt, und sieht zu Jesper, der keine Miene verzieht. „Oh, ich weiß nicht, das kommt jetzt sehr plötzlich. Ich fühle mich sehr geehrt, aber ich denke nicht, dass ich jemanden kennenlernen sollte. Und dass das eine gute Idee ist, denn ich habe gerade aller Hand mit meinem Examen zu tun und baue mir hier politisch etwas auf ...", stammelt er und wirkt zum ersten Mal nicht gerade souverän. Er hat immer die perfekten Antworten, sobald wir in der Öffentlichkeit sind. „Ich weiß, ich habe im Namen meiner Eltern gespendet. Vanderwal", Madison zwinkert meinem Bruder zu und streift kurz seine nackten Arme unter dem hochgekrempelten weißen Hemd. Er versteift sich und lächelt verkniffen. Fragend sehe ich zu Jesper, der nickt. Scheinbar kommt ihm der Name bekannt vor, doch ich starre die drei nur verwirrt an. Madison lässt echt nichts anbrennen – und flirtet meinen Bruder an, was das Zeug hält. Umso mehr wundert es mich, dass er nur von der Rolle ist, während Jesper entgegen seines Naturells nichts sagt, sondern grimmig schaut und dann die Augen aufreißt, als er an mir vorbeischaut. „Alter! Nein! Ich fasse es nicht! Das ist Vincent!", schreit er laut herum und stürzt los, um zur Tür zu gehen. Nein, nein, nein. Damit hat er bestätigt, dass ich von Vincent erzählt habe! Wie peinlich! „Vincent Moore! Oder?", Jesper bleibt vor Vincent stehen, den ich hinter Jespers riesigem Rücken nicht mehr sehe, nur seine breiten Schultern. „Entschuldige, das ist wichtig", sofort lässt Atlas Madison stehen und eilt los; überfordert folge ich ihm und spiele hundert Szenarien in meinem Kopf durch, wie peinlich es gleich wird. Wie ich die Situation retten könnte. Doch entgegen meiner Erwartungen wirkt Vincent nicht wütend oder bissig, sondern erstaunt und lächelt. Er lächelt tatsächlich. Seine khakigrünen Augen leuchten auf und er ballt seine Hände nicht länger zu Fäusten, sondern zupft an seinen Armbändern und bleibt unschlüssig vor Jesper stehen. Hinter ihm quetscht sich Doktor Nelson durch, die neugierig guckt, aber weitergeht und noch nach Brooklyn ruft. „Vincent Sawyer", Vincent räuspert sich und tippt sich an die Stirn, „aber ja, früher Moore." „Hast du geheiratet oder was?", Jesper lacht rau und klopft Vincent einfach auf die Schulter. Gespannt beobachte ich, wie Vincent seine Schultern anspannt und einen unmerklichen Schritt nach hinten macht. Er bemerkt, dass ich ihn beobachte und versteift sich. „Nein, ich wurde adoptiert", knurrt Vincent ihn an. Alles klar, er ist wieder in der Abwehrhaltung. Seine Trigger sind aktiviert. Ich weiß nur nicht, ob wegen des Nachnamens oder der Berührung. „Wieso das?", fragt Jesper neugierig, woraufhin Atlas ihn am Sweatshirt zupft und ihn nach hinten schiebt. „Sorry, du kennst ja Jes von früher. Er hat sich in den letzten sechzehn Jahren seit dem Kindergarten nicht verändert. Wie geht es dir? Ich meine, was machst du so? Und wo warst du? Wir dachten immer, wir würden uns in der Grundschule wiedersehen. Wir haben jede Klasse nach dir abgesucht und Jes und ich sind sogar mal nach Schulschluss zu unserem alten Kindergarten gelaufen und haben nach dir gefragt, aber es war, als hätte es dich nie gegeben", Atlas' Stimme ist behutsam und warm. Stolz lächele ich ihn an und schiele zu Vincent, der mich ebenfalls forschend ansieht. „Ich wollte nicht gefunden werden. Ich kam nach dem Kindergarten ins Heim und wurde bald darauf von meinen Moms adoptiert", erwidert Vincent distanziert und doch schwingt eine Wärme mit, als er seine Mütter erwähnt. Und eine Abwehrhaltung: Er versucht herauszufinden, was wir denken. Doch ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Das wusste ich schon im Therapiezimmer nicht. Mein Kopf hat sich abgeschaltet, einfach so, nachdem ich mich draußen erinnert habe. So, wie Vincent Madison von sich geschubst hat, hat er mich einmal als Kind umgeworfen, als ich ihn umarmen wollte. Und dann wusste ich es wieder. Ich war winzig, gerade mal drei Jahre alt, aber an Vincent Moore erinnere ich mich. „Du hast uns nie gesucht. Obwohl wir drei beste Freunde waren", mault Jesper und schaut verständnislos. „Wie hätte sich ein Fünfjähriger melden sollen?", fragt Atlas ihn schmunzelnd und verpasst Jesper einen Klaps auf den Arm. Vincent lächelt, jedenfalls seine Lippen. Seine Augen wirken dunkler, irgendwie erschöpft und doch hellwach, als wären sie panisch. „Tut mir leid, Jungs. Ich habe euch vermisst. Aber es ging nicht", Vincent fährt sich durch seine dunklen Haare und schließt die Augen gequält. „Solange du uns nicht vergessen hast ...", Atlas lächelt und deutet auf Vincents Wange, auf der eine helle Narbe zu erkennen ist. „Nein, auf keinen Fall. Ich weiß noch haargenau, wie mich ein gewisser Atlas Harper und ein gewisser Jesper Young dazu herausgefordert haben, dass ich mich nicht trauen würde, der Kindergärtnerin eine Spinne in die Tasche zu stecken, weil sie uns gezwungen hat, Fleisch zu essen. Und wie sie mir vor Schreck ihren Stuhl ins Gesicht geschlagen hat", Vincent lacht rau und erstickt. Warum auch immer bekomme ich eine verdammte Gänsehaut. Einzig allein durch sein warmes Lachen. „Und erinnerst du dich noch an Hails?", zwitschert Jesper und deutet lachend auf mich. Dabei zwinkert er mir noch äußerst peinlich zu! Ich könnte vor Scham im Boden versinken und kratze an meinem Nagellack herum. „Umgekehrt glaube ich das nicht", weicht Vincent der Frage aus. Mein Herz beginnt zu rasen. Alle drei Jungs sehen mich an: Atlas mit den gleichen braunen Augen wie ich, Jesper mit seinen dunkelblauen und Vincent mit seinen tiefgrünen Augen. „Doch, ich erinnere mich dunkel an Vincent ... Vinz", ich beiße mir auf die Lippen und schlucke. Jetzt ist es raus. Deswegen habe ich vorhin einen Teil meiner Geschichte erzählt. Weil ich Vincent vertraue. Weil ich mich an eine Zeit erinnert habe, in der ich mutig und frei und gelb war. „Stimmt! Du hast immer gewollt, dass wir alle auf einen Zischlaut enden. Deswegen hast du ihn immer Vinz genannt, weil du nicht verstanden hast, dass man ihn nicht mit einem s schreibt, so wie uns", lacht Jesper sich kaputt und wackelt mit den Augenbrauen. Sicherlich färbt sich meine Haut noch dunkler und ich lache verlegen. „Ja, aber Atlas hat angefangen, dich Jes zu nennen, weil er gelispelt hat", verteidige ich mich und deute auf meinen Bruder, der ebenfalls rot wird und den Kopf lachend schüttelt. „Und dann hast du sie Hails genannt", wendet er sich an Vincent, der mich anschaut: „Und du mich Vinz." „Ja, tut mir leid, das war sicher merkwürdig", ich zwinge mich zu einem unverbindlichen frechen Grinsen und streiche mein Kleid glatt, dabei ist es sowieso zerknittert und hat sogar einen Nagellackfleck. „Nein, ich mochte es. Damals", murmelt Vincent nahezu tonlos und schaut aber kalt, eiskalt. Gedanklich ist er definitiv nicht bei mir. „Und heute? He, was hältst du davon, wenn wir mal wieder einen trinken gehen? Uns treffen und alte Zeiten auffrischen?", lässt Jesper nicht locker; jetzt ist er sogar zielstrebiger als Madison eben bei Atlas. „Sorry, ich trinke keinen Alkohol. Und ich denke nicht, dass wir das tun sollten. Ich will euch nicht schaden, eure Kampagne läuft doch super. Ihr zwei werdet zusammen richtig durchstarten. Es tat gut, euch zu sehen. Sehr gut", presst Vincent raus, dann schiebt er sich an mir vorbei und rennt förmlich zu seinem Motorrad. Bevor einer von uns etwas rufen kann, hat er sich seinen Helm aufgezogen und braust in einem halsbrecherischen Tempo davon. „Was zum Teufel hast du gesagt, damit er so flieht?", Jesper klappt seinen Mund auf und lässt ihn offen stehen. „Ich habe keine Ahnung", murmele ich und hasse es, dass mir Tränen in die Augen schießen. Das war demütigend. Für uns alle drei, aber es kann nur meine Schuld sein. Klar, das von Jes war ein Witz, aber es war auch die Wahrheit. Die drei waren als Kinder beste Freunde. Ich war die nervige kleine Schwester von Atlas, die Vincent immer umarmen und trösten wollte. Gott, damals hat er mich weggeschubst. Und heute ist er meinetwegen geflohen und hat uns alle abgelehnt. Vielleicht habe ich heute zu viel gestanden? Oder jetzt blöd geschaut? Ihn mit Vinz beleidigt? „Quatsch, ich war ihm bestimmt zu spießig. Ich bin der, der in Chinohose und Hemd dasteht. Ihr zwei seid beide alternativ und cool genug", nimmt Atlas die Schuld auf sich und betrachtet nachdenklich die silberne Uhr an seinem Handgelenk – ein Geschenk unserer Mutter. „Nein, du siehst gut aus", widerspricht Jesper und wedelt dann in der Luft herum: „Also so von Kumpel zu Kumpel. Also wäre ich eine Frau, würde ich dich heiß finden. Ich meine, hast du mal deinen knackigen Arsch und deine krassen Muskeln gesehen? Alter, die sind steinhart und dann noch mit der dunklen Haut, wer könnte da nein sagen?" „Du hast ihn nackt gesehen?", ich runzele die Stirn und kann mir ein Kichern nicht verkneifen. „Nein! Nur das Sixpack und den Rücken. Oh und die Arme", Jesper schüttelt den Kopf und schüttelt sein Shirt aus, als würde er nicht wollen, dass wir auf seinen Bauch schauen. Er ist nicht sportlich, aber auch nicht unsportlich; einfach ein ganz gewöhnlicher Typ, der wenig Sport macht, was völlig normal ist. Mich wundert es, dass Jesper Komplexe hat – aber ich sollte da nichts sagen. „Ich habe mich beim Regalaufbau umgezogen", erklärt Atlas dennoch den Sachverhalt, ich nicke langsam: „Okay?" „Ja, das war normal", brummt mein Bruder und reibt sich über seine Arme, „außerdem bin ich gar nicht so heiß oder sportlich." „Du bist sportlich, Atlas. Und auch nicht der Grund, wieso Vincent keinen Bock auf uns hatte. Das habe ganz alleine ich zu verantworten", versichere ich ihm und laufe seufzend los zum Parkplatz. Scheinbar ist Jesper mit seinem schwarzen sportlichen Nissan gefahren, bei dem ich auf die Rückbank klettere, als er aufschließt. Schweigend steigen die anderen beiden auch ein. Die ganze Fahrt lang läuft nur Rockmusik im Hintergrund, bei der Atlas mürrisch aus dem Fenster starrt, Jesper leise mitsingt und ich in Tagträumen versinke. Immer wieder irrt mein Blick durch die langsam dunkel werdenden Straßen und Gassen von Milwaukee. An jeder Ecke suche ich nach Vincent, der weg ist. Natürlich. Als würde jemand wie er bleiben. Als würde er genauso Herzklopfen haben wie ich. Als würde jemand wie er sich für mich interessieren. Vor allem nach dem, was ich gesagt habe. Und nach dem, was ich nicht gesagt habe. Ich weiß nicht, was schlimmer ist

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