Kapitel 94

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„Ich hatte euch die Blätter doch nicht gegeben, um euch zu quälen. Sie sollen doch eine Übung sein. Leute, euer Abitur steht bevor. Ich kann für euch das Lernen nicht übernehmen, das müsst ihr schon selber erledigen." Etwa zum fünften Mal diese Woche hörte ich die gleichen Worte von wieder einem anderen Lehrer. Enttäuscht sah mein Biolehrer in die Runde. „Macht ihr das bei anderen Lehrern auch so?" Ja! „Es ist eure Zukunft. Ich habe schon einen Job. Ich brauch das nicht machen." Als wäre uns das nicht bewusst. Aber war unseren Lehrern auch bewusst, dass wir durchaus auch andere Sorgen haben könnten? Zum Beispiel die Sorge wie wir die Zeit auf dieser Schule bis zum Abitur überhaupt überleben können.
Ein Klopfen unterbrach die kleine Rede. Herein trat eine ältere Frau die mir von den Schulfluren bekannt vorkam. Zuordnen konnte ich sie aber nicht. Dementsprechend war ich ziemlich verwirrt als sie mich bat meine Sachen zusammenzupacken „Er ist für die Stunde entschuldigt," meinte sie an meinen Lehrer gewandt. „Niall, kommst du?"

Mit den Blicken der anderen auf mir packte ich so schnell ich konnte zusammen. Das fehlte mir ja gerade noch. Noch mehr Aufmerksamkeit, wie toll... Aber wieso eigentlich? Was konnte ich bitte angestellt haben? Soweit ich weiß hatte ich gegen keine Schulordnung verstoßen. Wieso wurde ich also aus dem Unterricht raus geholt? Oder hatte ich doch etwas falsches gemacht?

Sie führte mich in ein kleines Büro und klemmte sich hinter den Schreibtisch als sie mir bedeutete davor Platz zu nehmen. Der Stuhl kippelte leicht und fühlte sich nicht sehr stabil an. Platz nahm ich trotzdem.
„Also Niall. Ich bin Frau Hanke, die Sozialarbeiterin der Schule." Ich schüttelte ihre Hand aber sagte kein Wort. Was zu Hölle hatte ich bei der Sozialarbeiterin zu suchen? Wie war sie denn an meinen Namen gekommen? Wieso holte sie mich für ein Gespräch aus dem Unterricht? „Einer deiner Lehrer hat mich angesprochen um mit mir über dich zu sprechen. Er war ziemlich besorgt um dich." Ich schwieg. Welcher Lehrer hatte denn bitte mit ihr über mich gesprochen? Und weshalb sollte ein Lehrer um mich besorgt sein? Als ich mich nicht äußerte fuhr sie fort. „Ich spreche auch mit Jacob und versuche ihm zu helfen. Vielleicht hat er mit dir darüber gesprochen?" Wieder legte sie eine Pause ein und sah mich erwartungsvoll an. Aber nein, Jacob hatte davon nichts erzählt. Aber da sie ihn erwähnte ging ich davon aus dass es irgendwie um meine Sexualität ging. „Sieh mal, ich will nur, dass du weißt, dass es Leute gibt die dir helfen wollen und mit denen du reden kannst." Wieder eine Pause... „Also, du weißt doch wieso du hier bist. Mir wurde erzählt, dass dein Outing sich schlecht auf deine Freundschaften ausgewirkt hat? Ist das so?" Erwartungsvoll sah sie mich an.

„Wer hat ihnen das erzählt?" Würde ich ihre Hilfe haben wollen hätte ich sie doch von selbst aufgesucht!

„Das tut hier doch nichts zur Sache." Wischte sie meine Frage leichtfertig fort. Das brachte mich aber nur dazu noch mehr eine Antwort haben zu wollen.

„Natürlich spielt das eine Rolle. Mein Outing ist meine Sache und wie ich damit umgehe geht nur mich was an. Also? Welcher Lehrer mischt sich bitteschön in meine Privatangelegenheiten ein?" Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, doch es störte mich ungemein, dass ein Lehrer anstelle mit mir zu reden zu einer Sozialarbeiterin rannte.

„Niall. Das Wichtigste ist doch, dass du mit jemandem sprichst und dich öffnest."
„Und mit einer mir fremden Frau zu sprechen soll mir helfen? Ich war schon beim Therapeuten und hab da über meine Probleme gesprochen. Aber wissen sie was, manchmal ist reden nicht genug. Das Leben ist so wie es ist. Da hilft reden nicht gerade viel!"

„Aber reden ist ein Anfang. Wenn du dich mir öffnest, können wir zusammen versuchen Lösungsmöglichkeiten zu finden." Sie versuchte mich mit einer ruhigen Stimme etwas runter zu bringen doch als mir endlich klar wurde wer mit ihr über mich geredet hatte lief das Fass über.
„Es war Mr. Malik nicht? Er hat mit ihnen über mich gesprochen, nicht wahr?" Ihr überraschter Blick verriet ihn endgültig. Ich stand auf und griff nach einer Jacke. „Vielen Dank für das nette Gespräch, aber ich muss los." Ich bemühte mich so viel Ironie in meine Stimme zu legen wie möglich als ich in Richtung Tür spazierte.

Zuerst versuchte sich mich dazu zubringen mich wieder zu setzen und mit ihr zu reden aber sie scheiterte kläglich.
„Wenn du nicht mit mir sprechen willst, vertrau dich wenigstens wem anders an." Fügte sie noch hinzu, doch ich hörte längst nicht mehr zu. Ich schmiss die Türe ins Schloss und machte mich auf den Weg ins Sekretariat um zu erfragen in welchem Raum Mr. Malik gerade Unterricht hatte. Wütend stampfte ich die Treppe zu dem mir genannten Klassenzimmer hoch. Mir war bewusst, dass das hier vermutlich eine ziemliche Dummheit war. Ihn in der Schule anzuschreien war vermutlich das Dümmste, das ich bisher getan hatte. Doch er hatte mich so auf die Palme gebracht, dass ich das einfach rauslassen musste.
Ich riss die Türe auf und wurde von seinen Schülern und ihm gleichermaßen überrascht angestarrt. Doch nachdem ich loslegte wirkten seine Schüler eher amüsiert, während er ziemlich schockiert dreinsah.

„Was fällt ihnen ein über mich mit der Sozialarbeiterin zu reden? Mein Leben geht sie ein Scheißdreck an und genauso wenig will ich dass sie sich Sorgen um mich machen! Reden sie doch wenn mit mir direkt darüber als mir diese durchgeknallte Frau Hanke auf den Hals zu jagen. Sie helfen mir damit kein bisschen. Meine Probleme gehen sie nichts mehr an also halten sie sich da gefälligst raus. Nur weil sie beschissen glücklich sind sollten sie sich nicht als Wohltäter aufspielen, indem sie die armen Seelen retten, denen es nicht halb so gut geht. Weder ich noch mein Privatleben geht sie etwas an, haben sie das verstanden?" Mein Puls raste als ich endlich aufhörte zu brüllen. Zayn starrte mich mit offenem Mund an und brachte nichts anderes zustande als kaum merklich zu nicken. „Gut." In seinen Augen sah ich, dass er gerne etwas sagen wollte. Mich anflehen wollte, oder was auch immer. Aber wir waren hier in der Schule. Vor einer seiner Klassen. Er musste drauf achten, was er sagte, sonst könnte das für ihn schwere Konsequenzen haben.

Mit diesen Worten knallte ich die Türe zu und rannte so schnell ich konnte vom Schulhof. Mir war egal, dass ich eigentlich noch Unterricht hatte. Schwänzte ich eben, na und? Alles was ich wollte war einfach nur noch nach Hause zu kommen. Ich rannte die Treppe hoch und schloss mich in meinem Zimmer ein. Dort kroch ich einfach nur unter die Bettdecke und presste die Augen zusammen in der Hoffnung es würde irgendwie helfen. Ich wünschte mir, ich würde einfach aufwachen und keine Ahnung, das alles wäre nur ein Traum gewesen. Ich wäre nie schwul gewesen, hätte nie etwas mit einem Lehrer angefangen oder wäre zumindest nie ausversehen geoutet worden. Mein Leben war aber leider kein Albtraum aus dem man so einfach erwachen konnte. Es war ein Albtraum der nicht enden wollte.

Mit zittrigen Fingern griff ich nach meinem Handy und drückte auf Leons Kontakt. Es wählte und wie immer wurde ich nur zur Mailbox weitergeleitet. Doch ich war einfach zu müde eine lange Rede darüber zu halten, dass es mir noch eine Chance geben sollte.
So legte ich wieder auf als die Tränen langsam anfingen zu fließen.

SchülerVertretung {Ziall}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt