42. Die Vestalin

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"Ich muss sagen, ihr habt mich überrascht", fuhr die Frau fort. "Normalerweise brauchen meine Gäste länger, um meine kleinen Rätsel zu lösen." Sie erhob sich und kam auf uns zu.

Sie hatte langes, schwarzes Haar, das mit ein paar silbernen Strähnen durchsetzt war und ihr bis zur Hüfte reichte. Ihre luftige, seidenen Tunika war weiß und reichte ihr bis zum Knie, doch das auffälligste waren nicht ihre nackten Füße, sondern das schwarze Flammenmuster, dass ihr vom Schlüsselbein bis über die Schulter reichte.

"Ich bin Amelie, ehemalige Priesterin der Vestalinnen", stellte sie sich vor und lächelte.

Sky neigte respektvoll den Kopf, Antonio und ich taten es ihr nach einem fragenden Blick nach. "Kommt Kinder, setzt euch zu mir", meinte Amelie und winkte uns mit sich. Sie führte uns einen schmalen Kiesweg entlang zu einem kleinen Tisch mit vier Stühlen, direkt unter der alten Eiche.
"Hmm...Ihr beiden seid echt ein süßes Paar", schmunzelte sie und sah zu Antonio und mir. Er wurde rot und ich sah verlegen zur Seite.

"Amelie", fing Sky zögernd an. "Wir wollten..."

"Mir ist klar, warum ihr hier seid", unterbrach sie. "Der Mond flüstert mir die Geschehnisse aus dem Schattenreich zu, und ich habe Augen und Ohren überall. Aber dazu kommen wir später. Sagt mir, Kind der Schatten und der Wölfin" Sie sah mich aus ihren dunklen Augen an "Wie geht meiner Schwester Alexandra?"

Verblüfft sah ich sie an.

"Ja, die Welt ist klein", seufzte diese. "Und anscheinend dich groß genug, dass wir uns gegenseitig fremd erscheinen." Ihr Blick verlor sich in der Ferne und ich betrachtete sie genauer. Sie strahlte Weisheit und Älter aus, doch in ihren Augen befand sich ein Funke, der sie wie bei einem kleinen Mädchen leuchten ließ.

"Also...Ich denke, Alexandra geht es gut. Sie ist meine Mentorin", erzählte ich.

"Warum wundert mich das nicht", murmelte Amelie. "Wie lange habe ich ihr geraten, sich dafür einzusetzen... Und wie ich sehe, ist mein kleines Schwesterchen doch noch zur Vernunft gekommen...Hör zu, du musst dich an sie halten. Vertrau ihr, sie hat Erfahrung."

Dann wandte sie sich an Antonio. "Und du, Junge, Pass auf diese junge Dame hier auf. Ich wünschte, ich könnte euch beide davor bewahren, was bald auf euch zukommt, aber da müsst ihr wohl alleine durch."

"Was willst du damit sagen?" Beunruhigt sah Antonio zu mir rüber und ich hob fragend meine Augenbrauen.

"Was soll das heißen? Was kommt auf uns zu?", fragte ich und zwang meine Stimme, nicht zu zittern.

"Tut mir echt leid, aber wenn ich euch noch mehr verrate, würde Lupa das als Eingriff in euer Schicksal sehen", meinte sie und hob entschuldigend die Hände. "Und das wäre nicht sehr erfreulich. Auf jeden Fall", Sie sah wieder zu Antonio, "Deine Schwester ist etwas besonderes. Behalte sie ein bisschen im Auge, aber lass sie endlich los. Sie muss ihr eigenes Leben leben."

"So", seufzte sie wieder und drehte sich zu Sky. "Ich bin froh, dich mal wieder zu sehen. Du hast Fortschritte gemacht, du kannst stolz auf dich sein. Und denk daran: Du bist die Heilerin im Rudel, die einzige Person, die dem Anführer nicht verpflichtet ist." Amelie zwinkerte uns zu. "Merkt euch das, Kinder."

Sie klatschte in die Hände und sah in die Runde. "Ich würde sagen, ihr lasst Thalia und mich jetzt in Ruhe miteinander reden. Ihr dürft euch ruhig hier umsehen oder wieder ins Haus gehen, wenn euch der Staub nicht abschreckt."

"Aber...", wiedersprach ich. Ich wollte nicht alleine bleiben, nicht mit dieser Frau, die anscheinend so viel über mich wusste.

"Wenn etwas ist, dann schrei", flüsterte Antonio mir ins Ohr. Ich nickte unglücklich und sah den anderen hinterher, die den Kiesweg zurückliegen und schließlich aus meinem Blickfeld verschwanden.

"Kind, stell deine Fragen", verkündete Amelie.

Missmutig sah ich zu ihr. "Was ist eine Vestalin", stellte ich dann die erstbeste Frage, die mir in den Sinn kam.

Ernsthaft, Thalia? Das erste, was du fragst ist das?

Amüsiert funkelten mich Amelie dunkelbraunen Augen an. "Das, meine Liebe, ist eine gute Frage. Wir Vestalinnen sind die Hüterinnen des ewigen Feuers, das uns Wölfen unsere Kraft schenkt. Wir dienen Der Wölfin und schwören ihr ewige Treue, auch wenn wir nicht mehr in Iren Diensten stehen."

"Aha."

"Ich denke, es gibt noch eine Frage, die dich bedrückt. Deswegen seid ihr doch hergekommen, oder?", stellte sie fest. "Ich denke nicht, dass einer von euch nur das Bedürfnis hatte, einer alten Frau Gesellschaft zu leisten."

Bei diesen Worten musste ich Grinsen. "Du bist doch gar nicht so alt", entfuhr es mir.

Sie lächelte mich an. "Wenn du wüsstest."

Peinlich berührt sah ich zu Boden, dann sammelte ich all meinen Mut. "Amelie, was ist mir los?", fragte ich leise. "Warum habe ich diese Albträume? Und wo kommt das her?"
Ich schob meinen Ärmel hoch und entblößte das Tattoo.

"Sagen wir so, alles was du gefragt hast, hängt mit deinem Mal zusammen", erklärte Amelie knapp.

"Mein...Mal?", hauchte ich. "Was meinst du?"

Sie deutete auf das Tattoo. "Thalia, du hast eine Heilgabe, richtig? Und du hast eine besondere Verbindung zu Lupa? Du hast sie schon mehrmals getroffen, oder?"
Ich nickte bei jedem Punkt, den sie aufzählte.

"Das alles bedeutet, dass du das Potenzial zu einer starken Wölfin hast", meinte sie. "Du hast zwei Seiten, eine ist hell wie Mondlicht, so etwas habe ich noch nie gesehen."

"Das... Ist gut?", fragte ich zögernd.

Amelie nickte.

"Und meine zweite Seite? Was ist mit der?"

Sie zögerte und wich meinem Blick aus. "Nun ja...Das ist ein bisschen kompliziert... "

"Amelie, was ist damit?", rief ich lauter, Panik breitete sich in mir aus. "Was ist mit meiner zweiten Seite?"

Resigniert seufzte sie. "Hör zu. Am besten sagst du es keinem, das könnte Probleme geben."
Ich nickte schnell.
"Also...Das ist so..." Sie rieb sich die Stirn. "Wie soll ich das erklären..."

"Sag es einfach."

"Na gut. Thalia, deine zweite Seite ist genau das Gegenteil deiner hellen. So etwas gab es noch nie. Du hast eine Schattenseite, eine mächtige. Daher das Mal. Vielleicht hast du es schon gemerkt, dass du in bestimmten Situationen die Kontrolle verlierst. Wenn du nicht lernst, dich zu kontrollieren, kann das Böse enden."

"Wie meinst du das? Nein, das... Das kann nicht sein! " Verzweifelt schlug ich die Hände vors Gesicht. Alles ergab plötzlich einen Sinn, die Träume, Mums Entführung, die Wut, die von mir Besitz ergriff.
"Sie wollen meine dunkle Seite", murmelte ich.

"Hör auf, dich selbst zu bemitleiden ", hörte ich Amelie sagen. "Es liegt an dir. Du ergibst dich und gehst zu den Werwölfen und wir sind verloren. Oder du kriegst dich in den Griff, und es gibt noch Hoffnung."

"Aber wie?" Immer verzweifelter spürte, wie sich in meinen Augen Tränen sammelten.

Die Wahrheit war, dass die Schatten mich früher oder später unter Kontrolle kriegen würden. Es war nur eine Frage der Zeit, denn ich wusste, dass meine Kraft nicht ausreichte, um mich gegen sich selbst zu wehren.
"Wie soll ich das schaffen?"

"Denk daran, du hast auch eine helle Seite. Du kannst..."

"Ich kann was?", unterbrach ich sie. "Sky hat mir erzählt, dass in mir ein Teil von Lupas Tochter lebt. Meine Seele hat zwei Hälften: Ich bin die dunkle Seite, Lupas Tochter ist die helle."

Amelie schwieg, dann nahm sie vorsichtig meine Hand. "Schließ deine Augen. Das wird dir helfen."

Ich tat was sie sagte und murmelte : "Wie soll mir das denn... "

Weiter kam ich nicht, der Schlaf übermannte mich und ich glitt in eine andere Welt.

Im Schatten des Mondes (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt