57. Wirklichkeit

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Die Tür wurde aufgerissen und sie setzte sich auf. Das helle Licht blendete sie, doch sie ließ sich nichts anmerken.

An diesem Ort waren Gefühle eine Schwäche.

"Es ist soweit", verkündete Lucius und zog sie auf die Beine. "Wir müssen los."

Ihr Magen drehte sich. Heute war Neumond, und heute würde es sich entscheiden. Sie betete, dass Thalia nicht erschien, doch Wahrscheinlichkeit war gering.

Sie wartete, dass er ihr wieder Fesseln anlegte, doch nichts geschah. "Diesmal nicht", meinte er belustigt. "Wenn du auch nur daran denkst, abzuhauen, wird das nicht gut für deine liebe Tochter sein."

Sie schluckte und folgte ihm durch den hell erleuchteten Gang.

"Lucius..." Ihre Stimme hallte an den hohen Wänden nach, er blieb stehen und drehte sich um. "Bitte tu das nicht", sagte sie leise. "Lass Thalia in Ruhe."

Über sein Gesicht huschte ein Schatten, als er auf sie zu kam. "Das kann ich nicht."

Seine Nähe verursachte, dass ihr Herz höher schlug, ihr Atem ging unregelmäßig.

Er ist gefährlich. Und du hast dir ein neues Leben aufgebaut, auf dich wartet eine ernsthafte Beziehung mit jemandem, der sich wirklich liebt. Lass dich von ihm nicht aus der Fassung bringen.

"Bleib hier", murmelte er und kam noch näher. "Du könntest bei mir wohnen. Nichts würde uns im Wege stehen."

Sie schloss die Augen.

Nein! Das darfst du nicht! Bleib standhaft! Du musst deine Tochter retten, er will dich nur ausnutzen.

"Ich..."

Er kam noch einen Schritt näher. "Ich vermisse dich."

Dann küsste er sie.

Sie wollte sich wehren, sie musste sich wehren, doch dann entspannte sich ihr Körper. Es war wie früher. Seine Hände wanderten an ihren Seiten entlang, sie stellte sich auf die Zehenspitzen und umfasste seinen Nacken.

Er küsste ihren Hals und zog sie noch näher, sie fühlte die aufsteigende Hitze in ihrem Körper.

"Bleib hier", raunte er in ihr Ohr. "Wir könnten wie eine richtige Familie Leben. Du, ich, Thalia..."

Die Worte holten sie in die Wirklichkeit zurück, sie riss sich los. 
"Nein!"
Er sah für einen kurzen Augenblick überrascht aus, dann setzte er wieder seine starre Maske auf.

Zerstreut wandte sie sich ab und verbannte die Gedanken an den Kuss.

Er will dich nur ausnutzen... Du bedeutest ihm nichts mehr...

Doch ihr Herz sagte etwas anderes. Sie wollte bei ihm bleiben, durch seine dunklen Haare streichen, seine Nähe spüren...

Wütenden sie den Gang, das energische Klacken ihrer Absätze hallte gespenstisch in der Dunkelheit wieder.

"Links", hörte sie Lucius hinter sich und ging in die gewiesene Richtung.

Der Korridor, den sie nun betrat, war dunkler als der vorherige und roch nach verfaultem Fleisch. Sie würgte und hielt sich eine Hand vor die Nase, dann lief sie weiter.

Plötzlich wurde sie von hinten gepackt, über ihre Lippen drang ein gepresster Schrei. 
Durch das schwache Licht erkannte sie das dreckige Grinsen des Werwolfs.

"Na, wohin des Weges, Süße?", raunte er.

"Nimm deine Pfoten weg, du... " Sie suchte nach einem passenden Wort und schlug seine Hände weg. "Dreckiges Schwein!"

Schritte ertönten und Lucius erschien. Seine Augen funkelten kalt, als sie ihn flehend ansah.
" Dimitri, lass sie los."

"Aber-"

"Sofort!"

Der Druck ließ nach und sie taumelte gegen die Wand. 
Der Werwolf zog sich grummelnd in die Dunkelheit zurück und sie blieb mit Lucius alleine zurück.

"Danke." Ihre Stimme versagte und sie wandte den Kopf ab. Lucius nickte nur, dann ging er voraus und sie beeilte sich, ihm zu folgen.


Im Schatten des Mondes (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt