60. Gebrochen

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Antonio

"Was willst du, Autumn?", fragte ich genervt und stützte mich an einem Baum ab.

"Also...weißt du... " Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe und mied meinen Blick.

Ich seufzte und wollte gehen, doch sie zog mich am Arm zurück. "Bitte, hör mir zu", sagte sie leise und ich runzelte die Stirn. Das war nicht die Autumn, die ich kannte, nicht das giftige Biest, das sie in den letzten Monaten gewesen war.

"Gut, ich bleibe", seufzte ich. "Aber beeil dich."

"Ich... Antonio, ich vermisse dich", flüsterte sie plötzlich.

"Was?" Verblüfft starrte ich sie an. Ich hatte vor einem halben Jahr mit ihr Schluss gemacht, weil es sich nicht mehr richtig anfühlte, und seit dem hatte ich nicht den Eindruck gehabt, dass sie mich überhaupt noch mochte.

"Antonio, bitte", meinte sie noch leiser. "Gib mir eine Chance."

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. "Das geht nicht. Es ist vorbei. Und ich bin mit Thalia zusammen, ich liebe sie."

Bei meinen Worten wandte sie den Kopf ab, als hätte ich sie geschlagen. Erschrocken entdeckte ich die Tränen, die sich in ihren Augenwinkeln sammelten.

Autumn weinte.

"Warum?", schluchzte sie. "Warum tust du sowas? Wir waren doch glücklich, wir könnten-"

"Es gibt kein wir mehr", unterbrach ich sie. "Hör zu, Autumn. Ich will das nicht mehr. Das mit uns ist..."

Vorbei.

Bevor ich meinen Satz zu Ende sprechen konnte, hatte sie ihre Lippen schon auf meine gepresst und ich taumelte gegen den Baum.

Das einzige, was ich denken konnte, war: Das ist doch jetzt ein Witz, oder?

Und dann begang ich den größten Fehler meines Lebens - ich erwiderte den Kuss. Doch vor meinem inneren Auge sah ich eine andere Person, eine mit wunderschönen, grünen Augen und diesem atemberaubenden Lächeln.

Ein Geräusch riss mich zurück in die Realität und sah über Autumns Schulter Thalia, die mit einem gequälten Gesichtsausdruck zusah.

Ich stieß Autumn von mir, doch als ich mich wieder umdrehte war Thalia verschwunden. Sofort lief ich ihr hinterher und achtete nicht auf Autumns Rufe.

"Thalia, warte!" Sie drehte sich nicht um und rannte noch schneller weiter, schon bald verlor ich sie aus den Augen und blieb am Waldrand stehen.

"Verdammt!", rief ich und schlug gegen einem harten Baumstamm, bis ich mich schließlich auf den Weg zu Sky machte.

Thalia

Die Tränen liefen mir unaufhaltsam über die Wangen, bei dem Klang seiner Stimme beschleunigte ich meine Schritte.

Es tat so weh.

Meine Brust schnürte sich schmerzhaft zusammen und mir entfuhr ein lautes Schluchzen.

Ich liebe dich.

Das alles war eine Lüge gewesen. Hatten die anderen das gewusst?

Du bist so wunderschön.

Es war so unglaublich dumm von mir gewesen. Autumn's Andeutungen, alles ergab jetzt einen Sinn.

Egal was passiert, ich werde immer für dich da sein.

Etwas in mir zerbrach. Ich konnte es spüren, den stechenden Schmerz, tief in meinem Herzen.

Du bist die wundervollste Person, der ich je begegnet bin.

Vor mir erschien ein kleiner, plätschernder Bach, doch ich blieb nicht stehen.
Im Sprung verwandelte ich mich und ließ meinem Wolf freien Lauf.

Vor ein paar Stunden hätte ich vielleicht gezögert, kehrt gemacht, sich überreden lassen, doch noch den Plan meiner Freunde auszuführen.

Aber jetzt?

Pass gut auf dein Herz auf, sonst könnte es dir jemand brechen.

Meine Gefühle hatten mich blind gemacht, blind vor der bitteren Wahrheit.

Der richtige Weg ist nicht immer der einfachste, er erfordert Opfer und Schmerz.

Hatte Lupa gewusst, was kommen würde? Wollte sie mich davor warnen, einen Fehler zu begehen?

Ich blieb stehen und blickte orientierungslos umher. Die Bäume sahen auf allen Seiten gleich aus, in diesem Teil des Waldes war ich noch nie gewesen. Ich rollte mich zusammen und blieb regungslos liegen.

War es denn so falsch, nachzugeben?

Ich hatte keine Kraft mehr, und ich wollte einfach nur weg. Zurück im mein altes Leben, mit meiner Mum shoppen gehen und mich über inkompetente Lehrer beklagen.

Nach einer Weile hatte ich keine Tränen mehr, das einzige was ich fühlte, war Leere. Nichts als gähnende Leere.

Ich setzte mich auf und sah hoch in den Himmel. Die Sonne war schon längst verschwunden, doch kein einziger Stern leuchtete.

Es war stockfinster, ich konnte mich nur dank meinen erweiterten Sinnen als Wolf orientieren.

Die Schatten unter den Bäumen waren tiefer, dunkler, und um mich herum herrschte gespenstische Stille.

Es war Neumond.

Nach ein paar Schritten wurden die Bäume weniger und ich wurde unruhig. Etwas an diesem Ort war falsch, ich konnte das in der Luft spüren.

"Wie schön, dass du unsere Anweisungen befolgt hast", ertönte eine Stimme hinter mir und ich verwandelte mich zurück. Als ich mich umsah, bekam ich eine Gänsehaut. Ein paar Meter vor mir stand Lucius, und um mich herum konnte ich schemenhafte Gestalten erkennen.

"Dann steht unsere kleine Abmachung fest", fuhr Lucius fort und ich ballte eine Hand zur Faust. "Wenn du dich schön brav ergibst, wird keinem etwas passieren."

"Wo ist meine Mum?", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

"Sie ist hier, und ihr geht es gut. Allerdings musst du noch deinen Teil des Deals erfüllen." Er lächelte kalt, doch ich zögerte.

"Mira!", rief Lucius über die Schulter. "Ich glaube, die Kleine braucht noch ein bisschen Motivation. Zeigen wir ihr doch mal, wie sehr wir es ernst meinen. Kümmern dich doch mal um unsere Gefangene."

Entsetzt sah ich zu, wie die Werwölfin meine Mutter nach vorne zerrte. Mum war blass, ihre Haare waren zerzaust und unter ihren Augen waren dunkle Augenringe. 
Mira hielt ihr ein gezacktes Messer unter ihr Kinn.

"Bitte", flüsterte meine Mum. "Lauf. Geh zurück zu den anderen." Sie sah mich flehend an, doch ich konnte nur wie in Trance den Kopf schütteln.

Mira grinste, dann zog sie das Messer quer über Mum's Wange. Ich hörte ihren lauten Schrei und sah die Klinge aufblitzen, als die Werwölfin erneut zustechen wollte.

"Halt!", rief ich. "Ich...Ich ergebe mich!"


Im Schatten des Mondes (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt