63. Stillstand

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Alles war wie zu Eis gefroren, niemand rührte sich, es herrschte eine gespenstische Stille. Meine Freunde waren mitten in der Bewegung erstarrt, kein totes Blatt rührt sich, kein Wind strich durch die Bäume.

Unter mir sah mich Sky aus starren, geweiteten Augen an, in ihrem Blick lag blanke Angst.

Angst vor mir.

Angst vor dem Monster, zu dem ich geworden war.

So schnell sie auch gekommen waren gaben meine Kräfte nach und ich sank auf die von der Schlacht mit Blut bedeckte Erde. Verzweifelt vergrub ich mein Gesicht in den Händen und spürte bereits, wie Tränen meine Wangen hinunter strömten.

Meine Freunde waren gekommen, um mich zu retten, um mir zu helfen, wie viele würden heute noch ihr Leben lassen?

"Es tut mir so leid", schluchzte ich, obwohl mir bewusst war, dass sie mich nicht hören konnten. Doch die Wahrheit traf mich immer wieder wie ein harter Schlag in den Magen:

Was passiert war und was noch passieren würde war meine Schuld.

Ich spürte eine leichte Berührung auf meiner Schulter, erschrocken hielt ich inne und drehte meinen Kopf.

Mein Herzschlag setzte für mehrere Sekunden aus, ich wagte es kaum zu atmen. Hinter mir stand eine Frau mit fast schwarzen Haaren und dunklen Augen, sie schien förmlich zu Schimmern. Obwohl sie um Jahre jünger aussah, erkannte ich sie.

"Alexandra", hauchte ich und sie lächelte.

"Ich bin so stolz auf dich", meinte meine Mentorin und zog mich in eine Umarmung.

"Es tut mir so leid", wiederholte ich und löste mich von ihr. "Wenn ich schneller da gewesen wäre-"

"Würdest du jetzt an meiner Stelle hier stehen", unterbrach sie mich. "Thalia, es gibt Sachen, die sollte man geschehen lassen, und es gibt Ereignisse, dir man nicht aufhalten kann, merk dir das."

"Aber das ist... Unfair", brachte ich heraus.

"Du musst noch viel lernen, Kind", erklärte Alexandra ruhig. "Ich wünschte, ich könnte dir alles beibringen, aber unsere Göttin hat andere Pläne mit mir", seufzte sie dann.

Ich betrachtete sie genauer. Sie wirkte nicht nur jünger, sondern auch irgendwie glücklich, wären alle Sorgen und Lasten von ihren Schultern gefallen.

"Aber bevor sich unsere Wege trennen, würde ich dir noch gerne jemanden vorstellen", fuhr sie fort und lächelte wieder.

Neugierig sah ich mich um, bis ich eine junge Frau sah, die von der Seite auf uns zu kam. Von weitem schätzte ich sie auf mein Alter, doch was mich am meisten in den Bann zog war ihre Erscheinung. Sie schien zu flimmern und ihr Körper war leicht dursichtig, mein Blick wanderte von ihrem hellen Kleid zu ihrem von dunklen Locken umrahmten Gesicht.

"Was zum..." Ich verstummte und unterdrückte das in mir aufkommende Schwindelgefühl sowie den Drang, laut loszuschreien.

Ihre Augen, ihre hohen Wangenknochen, ihre Lippen, ihre Stirn.

Alles kam mir so bekannt vor, so vertraut.

Es war das gleiche Gesicht, das mich jeden Morgen im Spiegel ansah, mir in jeder Glasscheibe entgegenblickte.

Das Mädchen vor mir sah aus wie ich.

"Hallo, Thalia", sagte sie mit ihrer hellen Stimme und hob die Hand. Sprachlos starrte ich sie an und bemerkte zu spät, wie meine Kinnlade herunterklappte. Sie erwiderte nur ruhig meinen Blick, ihre Augen funkelten im Mondlicht und da entdeckte ich die kleinen, aber auffälligen Unterschiede zwischen uns.

Im Schatten des Mondes (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt