27. Dunkelheit

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Wir wollten damit sagen, dass wir bald zusammenziehen werden...

Mehrere Sekunden lang herrschte Stille, man hätte das leise Klimpern einer fallenden Stecknadel hören können.
Dann brach das Chaos aus.

"Was?!" Vorwurfsvoll sah Charlotte ihren Vater an. "Das kannst du doch nicht machen! Das... Das ist doch..." Sie suchte nach den richtigen Worten, und den Moment nutzte Mum aus.

"Setzen wir uns doch, dann können wir alles klären ", meinte sie beruhigend und zeigte auf den gedeckten Tisch. Mit festem Schritt ging sie auf einen der Stühle zu uns zog ihn zurück.

Francesco nickte. "Richtig. Wir sollten... Uns setzen", murmelte er vor sich hin, uns nahm links neben Mum Platz. Fassungslos starrte seine Tochter ihm hinterher, während der kleine Nico schweigend auf einen Stuhl kletterte.

"Aber...Dad! Du kannst doch nicht einfach mit einer Frau zusammenziehen, die du seit gerade Mal ein paar Monaten kennst! Wer weiß, ob sie nicht eine..."

"Charlotte, das reicht! ", unterbrach sie Francesco. "Du setzt dich jetzt auf der Stelle hin und respektierst unsere Entscheidung."

"Aber..."

"Sofort!"

Sie verengten ihre Augen zu wütenden Schlitzen, sagte aber nichts mehr. Ich merkte, dass ich nun die einzige war, die noch stand, doch mich beachtete keiner. Die anderen diskutierten am Tisch weiter, und ich sortierte meine Gefühle.

Ich war enttäuscht, dass Mum mir nichts gesagt und mich bei so einer Entscheidung nicht um meine Meinung gefragt hatte.

Ich war wütend, weil ich nichts über Dad wusste, meine Mutter aber schon mir dem nächsten Typen zusammen war.

Und ich war ratlos. Ich hatte mein altes Leben verloren, meine Freunde, aber die Tatsache, dass es irgendwo da draußen noch ein Zuhause gab, einen Ort, an dem ich einfach ich selbst sein konnte und wo ich hingehört, hatte mir Kraft und Ruhe gegeben.

Und jetzt gab es dieses Zuhause nicht mehr.

Ich wusste noch nicht einmal, ob es in dieser neuen Familie einen Platz für mich gab.

Eine seltsame Hitze breitete sich in meinem Körper aus, Schweißperlen rannen mir die Stirn hinunter.

"Schatz, ist alles in Ordnung? ", drang die besorgte Stimme meiner Mutter zu mir durch. "Du siehst so blass aus."

"Es ist alles gut", presste ich hervor. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich mit der rechten Hand krampfhaft nach dem nächstbesten Gegenstand, also der Platte eines antiken Tischchens gegriffen hatte. Hastig ließ ich sie los und erstarrte, als ich den schwarzen Abdruck meiner Handfläche auf dem Holz sah.

Verdammt!

Erleichtert merkte ich, dass niemand etwas bemerkt hatte.Unauffällig betrachtete ich meine Hand und schnappte nach Luft.
Ein schwarzes Muster hatte sich in meine Haut eingebrannt und zierte nun meinen Handrücken bis zum Gelenk. Zwischen den filigranen Ranken prangte ein zierlicher Mondsichel.

Wo kam das auf einmal her?

Ich spürte Mum's Blick in meinem Rücken und hielt die Hand unauffällig hinter dem Rücken, während ich ein falsches Lächeln aufsetzte und mich auf einen freien Platz neben Charlotte setzte.
Diese diskutierte immer noch mit ihrem Vater und ignorierte Mum und mich konsequent.

"Wie stellt ihr euch das eigentlich vor?", fragte sie. "In dieser Gegend ist es schwer, ein Haus zu finden, in das wir alle passen würden, und-"

"Ich will aber nicht hier weg."

Wir alle drehten und überrascht um und sahen Nico an, der bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte.

Francesco seufzte. "Natürlich werden wir nichts hier wegziehen, dieses Haus ist groß genug für uns alle. Das Gästezimmer brauchen wir nicht, und im Studio unterm Dach ist auch noch Platz."

"Und was ist mit Fridolin?", rutschte es mir heraus.

"Wer ist denn jetzt schon wieder Fridolin?" Charlotte sah mich entgeistert an.

"Unser Schäferhund", erwiderte ich knapp und verkniff mir eine bissige Antwort. Mein Gott, mir gefiel das ganze auch nicht, aber das war kein Grund andere Leute anzugiften.

"Ein Hund?!" Ihre Stimme überschlug sich fast. "Ihr wollt einen Hund mit in dieses Haus bringen?" Sie holte tief Luft um sich zu beruhigen, dann sah sie wieder ihren Vater an. "Dad, das kannst du nicht machen. Ich will hier kein haariges Tier mit Flöhen , das ist doch..."

Ich seufzte und hörte nicht weiter zu.
Am Rande nahm ich war, wie meine Mutter noch schnell einwarf, dass ich während der Woche in einer WG bei meinen Freunden wohnte, und deshalb nur am Wochenende nach Hause kam. Ich ignorierte diese Notlüge nicht weiter und wunderte mich nur drüber, dass Francesco und Charlotte ihr das wirklich abkauften.

Dann würde das Essen serviert und ich betrachtete misstrauisch meinen Teller.

Das würde noch ein langer Abend werden.





***

"Ernsthaft, Mum?", fragte ich, als wir im Auto saßen.

Meine Mutter winkte fröhlich Francesco zu, der am Straßenrand stand, und startete den Motor.
"Was denn, Schatz?"

"Eine WG? Das glaubt doch keiner." Ich steckte vorsichtig meine rechte Hand in eine Tasche meiner Jacke, damit das Tatoo verdeckt wurde.

Mum kicherte und warf mir einen raschen Blick zu. "Und ich dachte schon, dass du mir wegen Francesco Vorwürfe machst."

Ich schnaubte und sah aus dem Fenster. "Davon abhalten kann ich dich ja nicht, also warum sollte ich mich aufregen? Das würde mich viel zu viel Energie kosten" In der Dunkelheit sah ich vereinzelte Lichter von Straßenlaternen und Häusern, die an uns vorbeiflogen.

"Ach, Thalia, ich bin so stolz auf dich", meinte Mum leise.

„Sag mal", wechselte ich das Thema. „Gibt es bei Wölfen manchmal irgendwelche... Zeichen? Oder Tatoos, die erscheinen?"

Meine Mutter runzelte die Stirn. „Nein, nicht dass ich wüsste. Warum denn?"

„Ach, nichts. War nur so eine Frage."

Nach einer Weile in Stille wurden die Lichter immer weniger, bis wir schließlich den Wald erreichten. Ich starrte in die tiefe Schwärze der Schatten, doch ich konnte mich nicht entspannen. Ein leichtes Kribbeln breitete sich in meiner rechten Hand aus, und ich schreckte hoch. "Mum, hast du das gesehen?" Ein Schatten huschte zwischen den Bäumen umher und verschwand immer wieder in der Dunkelheit.

Mum sah mich beunruhigt an, dann spähte auch sie aus dem Fenster. Ihre Augen weiteten sich und im nächsten Augenblick trat sie auf die Bremse. Der Wagen schlitterte über die Straße und ich kreischte auf, als mein Kopf gegen das Fenster schlug. Als das Auto zum stehen kam sah Mum mich eindringlich an. "Thalia, wenn ich es dir sage, lauf! Hörst du?"

Benommen schüttelte ich den Kopf. Das schwarze Muster auf meiner Hand brannte immer mehr, und ich biss die Zähne zusammen. "Nein! Ich lass dich hier nicht alleine!"

"Thalia, du musst..."

Etwas Schweres traf das Auto und ich schrie, als ich aus meinem Sitz geschleudert wurde und gegen die Scheibe schlug.

Im Schatten des Mondes (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt