Kapitel 5

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,,Hast du das deinen Lehrern auch versucht zu verklickern? Dann kann ich gut verstehen, warum die die Schnauze voll hatten...", fauchte ich und kaum hatte ich es ausgesprochen, wurde mir bewusst, dass ich total übertrieb. Anstatt ihm eine vernünftige Chance zu geben, sich zu erklären, machte ich direkt Vorwürfe und rastete wegen einer Kleinigkeit aus. Aber ich war nunmal nicht perfekt und wenn ich etwas hasste, dann war es Unpünktlichkeit. Schon eine ziemliche Doppelmoral, wenn man bedachte, dass ich auch manchmal ganz schön trödeln konnte. Aber noch hatte ich ja meine Mutter, die dafür sorgte, dass ich trotzdem immer pünktlich war. Ach verdammt, vielleicht suchte ich auch nur einen Grund, sauer auf ihn zu sein. Warum? Keine Ahnung.

,,Alter, chill doch mal, was gehst'n jetzt sofort so ab?", fragte er verständnislos und runzelte die Stirn. ,,Ich komme ein paar Minuten zu spät und du rastest aus, als hätte ich jemanden umgebracht, bist du behindert oder so?" ,,Behindert? Ganz bestimmt nicht!", dass man das im Jahr 2015 immernoch als Beleidigung benutzte, hätte mich jetzt schockieren sollen, aber ich war eher erstaunt, dass er gleich so zurückpöbelte. Ganz so schlimm war meine Aussage jetzt auch nicht gewesen. Ich hatte bloß eine Frage gestellt... wenn auch etwas schnippisch. Was für ein Chaos. ,,Ich glaub schon! Ich kann ja auch nix dafür, wenn euch Deutschen eure Familie so scheiß egal ist, aber bei uns haut man halt nicht einfach ab, wenn man Familienbesuch hat", erklärte er mir und in meinem Kopf legte ich mir alle möglichen Verteidigungsstrategien zurecht, während ich ihn entgeistert anblinzelte. ,,Pass mal auf, ist ja alles schön und gut, aber jetzt komm doch nicht mit der "Ich bin so ein armer Ausländer"-Nummer"

,,Ich bin kein Ausländer... theoretisch gesehen oder so. Ich bin in Deutschland geboren, besitze einen deutschen Pass... Ich hab türkische Gene, aber Deutschland ist meine Heimat, man! Aber es gibt eben so ein paar Werte und Normen, mit denen man einfach aufwächst und-", er brach ab und schüttelte den Kopf. ,,Was rechtfertige ich mich hier eigentlich? Hab ich gar nicht nötig. Wollen wir jetzt an dem Referat arbeiten oder brauchst du noch ein wenig Aufklärungsunterricht, was andere Kulturen betrifft?", fragte er und ich schnaufte, verschränkte die Arme vor der Brust. Ich verstand das ja. Andere Länder, andere Sitten. Aber wäre eine kurze Nachricht bei WhatsApp zu viel gewesen? Dann hätten wir uns die Diskutiererei sparen können. Und das er sagte, dass "uns Deutschen" unsere Familie scheiß egal war, war auch nicht fair. Und irgendwie ein bisschen dumm, weil er anschließend ja quasi beweisen wollte, dass er auch Deutscher war. Zumindest auf dem Papier.

Das meinte ich jetzt nicht mal böse. Ihm schien seine türkische Herkunft ebenfalls wichtig zu sein, wenn ihm die Normen und Werte in dieser Kultur so viel bedeuteten. Ich fand das gut. Warum sollte er seine Herkunft auch verleugnen? ,,Schon gut. Demnächst schreibst du einfach kurz "Wird später" und dann bin ich auch ganz brav. Zumindest wenn du zurück nimmst, dass den Deutschen ihre Familie egal ist. Das stimmt nämlich nicht!", ließ ich ihn wissen und sah zu, wie er sich gegenüber von mir auf den Gartenstuhl setzte. ,,Okay. Ist gebongt. Ich find's halt nur... scheiße, dass man oft nicht verstanden wird. Klar, ich verstehe das. Die Uhren ticken hier anders, als bei uns und wir werden hier groß, leben hier... sollen oder müssen uns ein bisschen anpassen, aber das ist nicht immer so einfach, weil alle irgendwelche Erwartungen haben, die man bloß erfüllen soll!", erklärte er mir seufzend und öffnete dann schon mal den mitgebrachten Laptop, um ihn hochzufahren. ,,Meine Eltern erwarten, dass ich nicht einfach abhaue, wenn meine Oma zu Besuch kommt. Und auch für mich ist das selbstverständlich, weil ich es nicht anders kenne. Du erwartest, dass ich pünktlich bin. Ist nicht immer so einfach. Damit will ich nicht wieder auf armer Ausländer machen!", schob er schnell hinterher und hob schmunzelnd die Hände, wahrscheinlich als "Tu mir bitte nichts"-Zeichen.

,,Machst du mir eigentlich gerne ein schlechtes Gewissen?", fragte ich und legte den Kopf schief, aber er sah mich nur hilflos an, weswegen ich abwinkte. Das hatte er sicher nicht extra gemacht, aber jetzt tat mir meine Standpauke schon irgendwie leid... Klar, er war bei der Diskussion auch kein Unschuldiger gewesen, aber er hatte sich eben verteidigen wollen. ,,Eins verstehe ich noch nicht so ganz. Letztens sagst du, du bist Türke... jetzt sagst du quasi, dass du Deutscher bist und einen Moment später redest du doch wieder von "uns", wenn du von den Türken sprichst...", ich hoffe das durfte man fragen. Aber wie sollte man das Ganze denn sonst verstehen, wenn man eben keine Fragen stellen durfte? Genau deswegen kamen doch diese ganzen Missverständnisse zwischen den verschiedenen Kulturen auf. Nicht nur bei Deutschen und Türken, schließlich lebten so viele Menschen unterschiedlichster Herkunft in Deutschland. Man ging einfach nicht aufeinander zu. Jeder blieb unter sich und wenn man nicht miteinander redete, konnte man sich auch nicht verstehen!

Ich fand das wirklich schade, denn ich war der festen Überzeugung, dass andere Kulturen unsere Kultur hier in Deutschland wahnsinnig bereichern konnten. Egal ob es um Musik, Essen oder die Lebenseinstellung ging. ,,Ich bin beides. Für manche ist das echt schwer zu verstehen, aber so ist es. Meine Eltern sind beide in der Türkei geboren und dann irgendwann hier rüber gekommen, sie würden sich also wohl eher als Türken bezeichnen, obwohl sie sich angepasst haben. Aber ich selbst bin Türke und ich bin auch Deutscher. Mal kommt die eine Seite mehr durch, mal die andere!", lachte er und zwinkerte mir zu. ,,Das klingt jetzt voll behindert, ne? Aber ist echt so. Manchmal ein ganz schöner Identitätskonflikt. Hey, streich dir das im Kalender an, der "Ausländer" hat ein Fremdwort benutzt!", sagte er und malte Gänsefüßchen in die Luft, was mich lachen ließ. Aber doch, ich verstand das jetzt. War ja auch irgendwie logisch. Er lebte in zwei Welten und warum sollte er sich für eine entscheiden? Manche taten das vielleicht und auch das war okay. Das musste jeder selber entscheiden und keiner sollte einem da reinreden.

,,Ohh ja, das mach ich sofort. Das geht in die Geschichte ein! Wo wir wieder beim Thema wären!", ich verzog leidend das Gesicht und auch er wirkte nicht unbedingt so, als könne er sich nichts Schöneres vorstellen, als an unserem Referat zu arbeiten und wieder in die Weimarer Republik einzutauchen. ,,Ich hol uns erstmal was kaltes zu trinken. Eistee?" ,,Klingt gut!" ,,Okay!", ich lächelte, erhob mich von meinem Stuhl und lief Richtung Haus, blieb jedoch kurz an der großen Glastür, die ins Wohnzimmer führte, stehen. ,,Celal?" ,,Hm?", fragend drehte er sich zu mir um. ,,Tut mir leid, dass ich sofort so ausgerastet bin und auf der Sache mit deinen Lehrern rumgehackt habe..." ,,Schon okay. Mir tut's auch leid, dass ich direkt beleidigend geworden bin" ,,Sei dir verziehen", ich zwinkerte ihm zu und verschwand dann ins Haus, um uns ein wenig Stärkung zu besorgen.

Alles türkisch, oder was?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt