Kapitel 44

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,,Meinst du, Murphy hat die Wahrheit gesagt?", fragte ich Marco, der mit mir im Garten meiner Eltern saß. Er war gestern aus seinem einwöchigen, wohlverdienten Urlaub gekommen und heute hatte ich einfach mit ihm sprechen wollen. Ich hatte ein paar Tage Zeit gehabt, um über die ganze Sache nachzudenken, aber wirklich einordnen konnte ich das noch immer nicht.
Die Vorstellung, dass er mich tatsächlich belogen haben könnte, tat weh. Ich wollte mich nicht in ihm getäuscht haben. Ich glaubte doch, ihn zu kennen.
,,Keine Ahnung, Nala. Vielleicht solltest du einfach mal mit ihm sprechen und ihn das fragen! Ich habe diesen Murphy nur ein paar Mal auf dem Schulhof gesehen und-" ,,Ja aber... warst du vielleicht auch auf der Party? Oder weißt du genau, dass Celal im Knast war?"
,,Nein! Ich meine... ich weiß es nicht. Kann schon sein, dass ich auf der Party war. Weißt du, auf wie vielen Partys ich war, wo Celal auch war und irgendwann die Bullen kamen? Was jetzt nichts mit Celal zutun hat. Ich meinte allgemein. Und das mit dem Knast... ich habe echt keine Ahnung, kann schon sein, kann aber auch nicht sein. Er war eine zeitlang nicht beim Training, aber da kann er auch sonst wo gewesen sein. Vielleicht war er auch verletzt", mein bester Freund zuckte mit den Schultern, während ich mir verzweifelt durch die Haare fuhr.
Ich wusste überhaupt nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Ich hatte gehofft, dass Marco mir mit irgendeiner Information weiterhelfen konnte, aber das hier war nichts halbes und nichts ganzes. Ich konnte nichts damit anfangen und war immernoch nicht viel weiter als vergangenen Freitag, an welchem John mir von der Sache erzählt hatte.
Wahrscheinlich bereute er es schon, dass er mit mir darüber gesprochen hatte, denn das Picknick hatte sich damit erledigt. Ich hatte keinen Hunger mehr gehabt und mit den Gedanken war ich auch woanders gewesen, so dass er mich kurz darauf schon nach Hause gebracht hatte. Es tat mir leid, dass der Abend so geendet hatte, aber ich hatte nicht so tun können, als ließe mich diese Geschichte völlig kalt.
Es ging schließlich um Celal. Um den Jungen, den ich liebte, ganz egal was in den letzten Wochen passiert war und was er mir an den Kopf geworfen hatte.
Gefühle konnte man nicht einfach abschalten, auch wenn das manchmal mehr als praktisch gewesen wäre.

,,Hmm..."
,,Ehrlich, Nala. Ich kann verstehen, wenn du darauf eigentlich keinen Bock hast, nachdem was alles so passiert ist, aber nur so wirst du die Wahrheit erfahren. Das Spekulieren hilft dir nicht weiter und macht dich nur wahnsinnig. Wie viel hast du die letzten Tage geschlafen? 3-4 Stunden pro Nacht?", wollte er von mir wissen und sah mir forschend in die Augen, doch ich wandte meinen Blick ab. Er hatte ja recht. Und ich hatte eigentlich auch genau gewusst, dass er mir diesen Rat geben würde. Insgeheim war mir auch klar gewesen, dass nur ein Gespräch die Lösung des Problems sein konnte, ich hatte nur jemanden gebraucht, der es mir ins Gesicht sagte.
,,Und selbst wenn er es war... das heißt noch nicht, dass er ein skrupelloser Gewalttäter ist"
,,Nein, aber das heißt, dass er gelogen hat", wenn das nicht schlimm genug war, dann wusste ich es auch nicht. Ich war auch nicht immer ehrlich, besonders was meine Eltern anging, aber Celal hätte ich nie belogen.
Andererseits... ich hatte ihm die Sache mit Emilia und Sophie zunächst verschwiegen, vielleicht war er auch der Meinung, dass er lediglich etwas verschwiegen hatte. Ich hatte echt keine Ahnung.
,,Er schämt sich wahrscheinlich dafür. Glaub mir, er ist nicht aggressiv oder so. Klar flucht er auf dem Platz mal rum, oder die Gegenspieler werden geschubst, aber beim Fußball ist das ganz normal", sagte Marco und ich hatte fast das Gefühl, als versuche er ihn aus irgendeinem Grund in Schutz zu nehmen. Wusste Marco mehr, als er vorgab?
Nein, Marco hätte mich nie angelogen, aber allein die Tatsache, dass ich das auch nur für den kleinsten Moment in Betracht zog, zeigte, dass ich keinem mehr vertrauen konnte oder wollte.

Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, als sei die Welt vollkommen in Ordnung, aber ich hatte das Gefühl, dass alles mehr und mehr zerbrach. Die Freundschaft zu Emilia und Sophie, das gute Verhältnis zu meinen Eltern, die Beziehung zu Celal... Was kam denn noch? Okay, vielleicht konnte man es positiv sehen und sagen, dass es nicht mehr schlimmer werden konnte, aber ich wollte mein Glück nicht herausfordern.
,,Und jetzt solltest du dich ablenken, bevor du dich hier total verrückt machst!", meinte Marco und stand auf, zog mich an den Armen von meinem Stuhl.
,,Was hast du denn vor?", brummte ich missmutig, auch wenn ich es schon ahnte, weil er mich verdächtig nah Richtung Pool zog.
,,Wir gehen jetzt schwimmen. Es sind verdammte 30 Grad und ich bin nicht nur hierher gekommen, um mir deine Gefühle anzuhören, wo kommen wir denn da hin?", witzelte er und zerrte an dem leichten Sommerkleid, welches ich mir über den Bikini geworfen hatte. Ich hatte heute frei und mich schon darauf eingestellt, heute noch in den Pool zu gehen, aber eher, um mich dort zu ertränken, als fröhlich zu plantschen. Naja okay, nicht wirklich.
,,Tzz und sowas nennt sich bester Freund, du Arsch", neckte ich ihn und sah zu, wie er sich jetzt sein graues T-Shirt auszog. Die rote Badeshorts trug er bereits, nur die Schuhe zog er jetzt noch aus, während ich meine Flip Flops achtlos stehen ließ und mein Kleid auf eine der Liegen warf.
,,Du sagst mir auch immer, dass ich nicht jammern soll, wenn ich irgendeine Verletzung habe. Jetzt kannst du mal deine eigene Medizin schmecken... oder wie auch immer man das sagt", er grinste mich an, wuschelte sich einmal durch die dunkelblonden Haare und sprang dann mit einem eleganten Kopfsprung in das blaue, glitzernde Wasser.
Ich hingegen stand kopfschüttelnd am Beckenrand und beobachtete ihn einen Moment, bis mein Blick zurück auf die Terasse fiel, wo mein iPhone auf dem Tisch lag. Ob ich Celal schreiben sollte? Je länger ich das Gespräch hinauszögerte, desto schlimmer würde die ganze Situation wahrscheinlich werden. Ich seufzte leise, sah zurück zu Marco, ehe ich dann doch nochmal zum Tisch ging und mir mein Smartphone schnappte.

Mit zitternden Fingern startete ich in WhatsApp eine neue Konversation, denn die alten Chats hatte ich alle gelöscht. Ich hatte ihn aus meinem Leben verbannen wollen, um nicht ständig an ihn denken zu müssen und einfach Abstand zu gewinnen. Ansonsten hätte ich wahrscheinlich nur schmachtend an meinem Handy gehangen und den "alten" Zeiten nachgetrauert.
<Hey. Ich weiß, dass kommt jetzt vielleicht überraschend, aber können wir uns treffen? Wir müssen dringend reden!>, ich schloss für einen Moment die Augen, atmete tief durch und drückte dann blind auf "senden", bevor ich es mir anders überlegen konnte und wieder einen Rückzieher machte. Das Handy warf ich zurück auf den Tisch, um Marco im Pool endlich Gesellschaft zu leisten. Spätestens jetzt konnte ich die Ablenkung gut gebrauchen, sonst hätte ich wahrscheinlich auf das Display gestarrt, bis eine Antwort kam.

Ganze zwei Tage wartete ich auf eine Rückmeldung von ihm und dann kam bloß ein schlichtes <Wieso?>
Verzweifelt schlug ich die Hände über dem Kopf zusammen und überlegte schon, ob ich es einfach sein lassen sollte. Ob ich die Sache abhaken sollte, denn wir waren nicht mehr zusammen und theoretisch hätte es mir nun egal sein können, was er in seiner Vergangenheit getan oder eben nicht getan hatte. Aber ich brauchte Gewissheit.
<Das erkläre ich dir dann. Also?>, tippte ich und hoffte, dass er mich nicht wieder zwei Tage lang warten lassen würde. Laut seinem Status war er noch online und die blauen Häkchen zeigten, dass er meine Nachricht wohl auch sofot gelesen hatte. Gebannt starrte ich auf mein Display, bis ich ein "schreibt..." lesen konnte. Gott sei Dank. Erleichtert atmete ich auf und wartete auf eine Antwort, die kurz darauf mit einem Geräusch auf meinem iPhone erschien.
<Okay. Ich hol dich ab. Oder bist du arbeiten?>
<Nein, ich bin zuhause. Bis gleich?>
<Bis gleich>, bestätigte er und ich atmete tief durch. Um ehrlich zu sein, war ich nicht darauf vorbereitet gewesen, dass er schon jetzt gleich hier auftauchen würde. Ich hatte gedacht, wir würden uns für irgendeinen Tag verabreden, aber so bekam ich meine Antworten wohl früher, als ich geglaubt hatte. Ob das gut oder schlecht war, konnte ich allerdings noch nicht sagen.

Ich spürte sofort, dass mein Körper vor Nervosität zu kribbeln begann, aber ich beschloss mich abzulenken, indem ich meine Gammelklamotten, die aus Jogginghose und einem Deutschland Trikot bestanden, mit einen kurzen Jumpsuit tauschte.
Meine Haare band ich zu einem unordentlichen Dutt zusammen, ehe ich einen Blick in den Spiegel warf. Ich sah tatsächlich beschissen aus. Augenränder bis zu den Knien, ich war blass und mein Gesichtsausdruck hätte Angela Merkel ernsthaft Konkurrenz machen können. Meine Hände zitterten und ich merkte, wie sich mein Magen verkrampfte, wobei ich mir nicht sicher war, ob das an unserem Treffen lag oder schlicht und einfach daran, dass ich in den letzten Tagen kaum einen Bissen herunter bekommen hatte.
Selbst meine Eltern machten sich schon Sorgen und versuchten immer wieder nachzuhaken, aber ich sagte kein Wort. Ich würde ihnen nicht erzählen, dass sie einen großen Anteil an dieser ganzen Misere hatten, denn dazu hatte ich momentan keine Kraft. Vielleicht war es kindisch oder übertrieben, aber ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen, mit ihnen reinen Tisch zu machen.

Als ich wieder einen Blick auf das Display von meinem Handy warf, waren bereits gute fünf Minuten vergangen, also machte ich mich auf den Weg nach unten. Meine Eltern arbeiteten im Garten und bemerkten vor lauter Rasenmähen und Beete umgraben nicht, dass ich mich aus dem Staub machte. Mila lag im Wohnzimmer auf der Couch und warf mir bloß einen kurzen Blick zu, ehe sie sich wieder ihrer Lieblingsserie widmete. Ich war froh, dass sie die Vermittlerin zwischen meinen Eltern und mir spielte, auch wenn es mir gleichzeitig leid tat, sie da mit reinzuziehen. Mir war klar, dass das momentan eine schwere Zeit für sie war und das alles auch an ihr nagte. Wahrscheinlich würde ich mir was einfallen lassen müssen, um das wieder gutzumachen. Wenn das überhaupt möglich war...

Kurz darauf stand ich in unserer Einfahrt und wippte nervös mit dem Fuß. Fast hatte ich das Gefühl, als sei ich zurück an den Anfang versetzt worden. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie er nach der Party mit seinem Auto hier aufgetaucht war und wir uns geküsst hatten. Wie oft wir hier in seinem Auto gesessen und gequatscht hatten... Und jetzt war alles kaputt.
Kurz blickte ich zu unserem Küchenfenster, aus dem meine Familie quasi ein Spionagefenster gemacht hatte, doch diesmal stand niemand dort. Ich seufzte leise und fuhr herum, als ich plötzlich hörte, wie ein Auto unsere Auffahrt hinauf fuhr. Ich brauchte eigentlich nicht mal hinsehen um zu wissen, dass er es war.
Das Fahrzeug kam zum Stehen und mit der Lichthupe signalisierte er mir wohl, dass ich einsteigen sollte. Ich atmete ein letztes Mal tief durch, sprach mir selber irgendwie Mut zu und stieg dann in Celals Auto. Augenblicklich stieg mir der Geruch von seinem Parfüm in die Nase und am liebsten hätte ich gleich losgeheult. Verdammt, ich vermisste ihn. Ich wollte meine Arme um ihn schlingen und ihn nie wieder loslassen... aber ich brauchte Antworten auf meine Fragen.
Und die würde ich mir jetzt holen.

Alles türkisch, oder was?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt