Drei

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„Danke", murmelte Louisa abwesend und lief dann wieder auf den Gang, der zurück ins gemeinsame Zimmer führte.
Noch im Gehen sah sie immer wieder auf Avas Foto. Schließlich widmete sie sich dem Text, der direkt unter dem Foto prangte.

Seit dem 4. Januar diesen Jahres fehlt von unserer Tochter, Schwester und Freundin Ava Carter jede Spur. Von einem Shopping Trip mit ihren Freundinnen kehrte sie nicht mehr zurück. Wer hat Ava gesehen? Sie ist 1,68m groß, 21 Jahre alt, hat blonde Haare und braune Augen. Am Tag ihres Verschwindens trug sie blaue Jeans, einen grauen Pullover und einen roten Mantel sowie eine braune Tasche und braune Boots. Das letzte Mal wurde sie gegen 18 Uhr in der Market Street vor dem Westfield San Francisco Centre gesehen. Wer Ava nach diesem Zeitpunkt noch gesehen hat oder etwas über ihren Aufenthalt weiß, gibt diese Informationen möglichst an die zuständige Polizeidienststelle oder an uns direkt. Bitte helft uns, unsere Tochter wieder in die Arme schließen zu können!"

Abwesend schloss Louisa die Zimmertür hinter sich und musste schlucken. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen, bevor sie den Text erneut las. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, dass ein Mädchen vermisst wurde. Wohin war Ava Anfang des Jahres verschwunden? Obwohl es bereits März war, fehlte von ihr offenbar noch jede Spur.
„Lou? Ist alles okay bei dir?" Aleas Frage ließ sie hochschrecken. War sie die ganze Zeit im Raum gewesen? Großer Gott, wo sollte sie sonst gewesen sein.
„Ja, alles... gut. Ich...hab einen Stadtplan", erwiderte sie und wedelte mit dem Plan in der Luft. Dabei fiel der Zettel mit Avas Foto zu Boden. Es war so unglaublich typisch. Alea bückte sich und hob ihn auf. Es dauerte offensichtlich nur wenige Augenblicke, bis sie verstand, worum es ging.

„Das hat dich so fasziniert, ich verstehe. Armes Mädchen, der Fall hat hier in den letzten Wochen hohe Wellen geschlagen", sagte sie, nachdem sie den Text kurz überflogen hatte. Sie wusste offenbar bereits Bescheid. War ja klar. Wahrscheinlich war Louisa die einzige Person in ganz Kalifornien, die keinen Plan hatte. Außer eben...einen Stadtplan.

„Du hast davon gehört?", fragte sie überrascht. Alea lächelte und zupfte sich einige Strähnen aus dem Zopf, den sie sich gerade gebunden hatte.
„Lou, das Thema meiner Abschlussarbeit dreht sich um Kriminalität in San Francisco, ich verfolge schon seit Monaten alles, was die Presse so hergibt. Besonders so einen Fall. Der Sacramento Bee war außerdem voll davon. Diese Mall ist keine zehn Minuten von hier entfernt." Sie legte den Zettel auf ihr Bett und zog sich einen Pullover über den Kopf. Na super! Louisa musste schlucken. Dass sie von nichts wusste, lag offenbar an den unzähligen Serien, die sie geschaut hatte und dem Verbarrikadieren in einer Wohnung, in die sie nur den Eislieferanten hineingelassen hatte. Es war, natürlich, mal wieder alles Dominics Schuld.
„Ich hoffe, die Polizei findet sie", murmelte sie und wandte ihren Blick von dem Zettel auf Aleas Bett ab.

„Ich will dir ja keine Angst machen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass Ava lebend gefunden wird, ist schwindend gering", entgegnete Alea nüchtern und sah Louisa kurz an, während sie mit den Fingern durch ihr Haar fuhr, um es zu richten. Schwindend gering.

„Ich weiß, du hast mir Statistiken zu diesem Thema oft genug vorgebetet. Ich mein ja nur, vielleicht passiert es ja. Tu mir nur einen Gefallen, sei vorsichtig, wenn du hier durch die Ghettos ziehst. Ich möchte keine Zettel mit deinem Bild darauf verteilen müssen." Louisa sah ihre Freundin ernst an. Alleine der Gedanke gruselte sie.
„Keine Sorge, das wirst du nicht müssen. Ich pass schon auf mich auf, das hab ich doch immer gemacht, du kennst mich." Es stimmte, Alea war bisher nie in Schwierigkeiten geraten. Eher hatte sie andere davor bewahrt. Sie zum Beispiel.
Louisa nickte zwar, spürte aber dennoch ein Unwohlsein in der Magengegend. Diese Mall ist keine zehn Minuten von hier entfernt.

BrokenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt