Fünfundvierzig

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Sie starrte ihn fassungslos an. Er ist hier. Und er hatte auf sie geschossen. Das nächste, was sie überhaupt wahrnahm, war die ohrenbetäubende Stille, die sie plötzlich umgab. Noch nie hatte sie eine derart drückende Stille gespürt. Es war totenstill. Sah er sie? Wie gelähmt glitten ihre Augen durch den Raum, ohne dass sie dabei den Kopf bewegte, als könne die bloße Kopfbewegung sie bereits verraten. Immer noch leer. Ihr Puls schlug in unregelmäßigen Abständen bis zu ihrem Hals. War es ihr Puls? Oder waren es Schritte hier irgendwo? Jacob hatte sich ebenfalls wieder aufgestellt, sein gesamter Körper stand unter Anspannung. Auch Louisa spürte eine enorme Alarmbereitschaft, die ihren Körper durchflutete. Sie war bereit. All ihre Sinne waren geschärft, ihr Bild war klar und unverzerrt, Der beißende Benzingestank machte alles noch schärfer. Aber es geschah nichts.

„Eine große Frau hat mal gesagt...-" Großer Gott. Erschrocken fuhr Louisa herum, während die tiefe Männerstimme, die sie eben gehört hatte, sich in ihren Kopf einbrannte. Nur wenige Meter hinter ihr stand er, sie hatte ihn weder kommen sehen, noch hören. Von hinten hatte er sich an beide herangeschlichen, von einem Schuss abgelenkt hatten beide nicht hinter sich geschaut, jetzt stand er ihnen gegenüber. Angespannt sah sie ihm ins Gesicht. Seine gebräunte Haut glänzte, vor allem an Stirn und Nase, wie sie es bei den anderen schon so oft gesehen hatte. Er war in schwarz gekleidet, seine Kleidung wirkte hochwertig, eine auffällige Gürtelschnalle fing einen Moment ihren Blick. Er war groß und vor allem breit, ein Mann mittleren Alters, aber größer als sie sich ihn vorgestellt hatte. Mächtig. Und das, obwohl er noch ein ganzes Stück von beiden entfernt war. Breitbeinig stand er ihnen gegenüber, zwei breite Männer hinter ihm, die Jacob und Louisa zuvor bereits in die Halle gebracht hatten, versperrten jeden Fluchtweg. Es gab kein Entkommen. Die tiefen Falten im Gesicht des Bosses ließen ihn grimmig aussehen, seine dunklen Haare waren nach hinten gekämmt, aber es waren ohnehin nicht mehr viele. Sein später Haaransatz ließ sein Gesicht noch größer und breiter wirken. Einen Hut oder eine Zigarre, wie sie in ihren Vorstellungen existiert hatten, konnte sie nirgends erkennen. Der modrige Geruch von Qualm und Schweiß erreichte sie allmählich, vermischt mit einem herben Männerduft. Sie hielt die Luft an. Erst jetzt bemerkte sie, dass Jacob mit einem Schritt neben sie getreten sein musste.

„...toda gran falta es un acto de egoísmo." Seine Mundwinkel verzogen sich ansatzweise zu einem gehässigen Lächeln, mit zwei Fingern, die mit Ringen beschmückt waren, fuhr er sich über den dunklen Schnurrbart. Instinktiv griff Louisa nach Jacobs Hand. Sie war warm und ruhig. Er drückte sie. Sie konnte spüren, wie der Mann ihnen gegenüber sie musterte und mit dem Blick an ihren Händen hängenblieb. Was er eben gesagt hatte, konnte sie sich nur ansatzweise herleiten. Sie hatte nie Spanischunterricht gehabt.
„Es fällt mir kein passenderer Augenblick ein, diese Frau zu zitieren als jetzt", sagte er dann und strich mit einer Hand sein ohnehin schon zurückgegeltes Haar erneut nach hinten. Es war widerlich.

„Was wollen Sie?", durchbrach Jacob die Stille. Er hatte immer noch Louisas Hand in seiner. Ihr Gegenüber sah sie eine Zeit lang nur an, sie konnte nicht ausmachen, ob sein Blick amüsiert oder hasserfüllt war. Es war etwas dazwischen. Dann bewegte er seinen mächtigen Körper Schritt für Schritt auf die beiden zu, wobei er eine Hand in seine schwarze Hosentasche schob. Die Absätze seiner edlen Herrenschuhe hallten mit jedem Schritt durch den gesamten Raum. Der Geruch von Rauch, Schweiß, Benzin und der Alkohol des Herrendufts zwangen Louisa für einen Moment die Augen zu schließen. Nicht übergeben.

„Egoismus, lieber Jacob...", überging der Boss seine Frage.
„...dein Egoismus ist es, der diese nette kleine Versammlung hier hervorgerufen hat. Und das, obwohl du doch weißt, dass ich so ein vielbeschäftigter Mann bin. Du wurdest doch sorgfältig eingearbeitet, oder irre ich mich?" Er blieb unmittelbar vor Jacob stehen und legte ihm kumpelhaft seine Hand auf die Schulter. Louisa hielt die Luft an. Er war so groß wie Jacob, nur um ein Vielfaches massiger. Schmieriger. Und furchteinflößender. Er wirkte tatsächlich wie ein Boss. Sie spürte, dass Jacob steinhart blieb. Aus den Augenwinkeln sah sie den goldenen Schmuck an der Hand des Mannes schimmern.
„Lass uns hier raus und wir sind quitt. Ich steige aus und lasse euch in Ruhe. Und ich informiere keine Polizei." Jacobs Stimme war ruhig, während Louisa immer noch die Luft anhielt. Keine Polizei? Der Mann vor ihnen verzog keine Miene. Schließlich nahm er seine Hand von Jacobs Schulter und schob sie erneut in seine Hosentasche. Er wirkte ruhig, beinahe gelassen. Es war die Ruhe vor dem Sturm.

„Jacob, Jacob... Das Verhandeln solltest du den Großen überlassen." Der Mann begann, hämisch zu grinsen und seine gelblich verfärbten Zähne kamen zum Vorschein. Er sollte dringend mit dem Rauchen aufhören.

„Ich hatte keine Ahnung, was ihr mit ihnen macht. Ich war einfach angewiesen auf das verdammte Geld. Aber wenn ich gewusst hätte, dass-"
„Spiel nicht das Unschuldslamm, Jacob. Die Rolle steht dir, kein Zweifel... Aber du warst ein Teil der Familie. Du wusstest genau, wie der Hase läuft. Du warst beauftragt, mir diese Mädchen zu besorgen." Der Boss verzog erneut einen Mundwinkel zu einem schiefen, kaum erkennbaren Lächeln. Louisa atmete flach die Luft aus, die sie bis zu diesem Zeitpunkt eingehalten hatte. Hatte Jacob tatsächlich die ganze Zeit über alle Spielregeln des Spiels gekannt, das sie beide verloren hatten?

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