Dreiundvierzig

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Erst als sie den Hafen erkennen konnte, ließ ihr Trancezustand allmählich nach. Die gesamte Fahrt über hatte sie kein Wort gesprochen. Sie war nicht einmal in der Lage gewesen, klar zu denken. Es waren ungeordnete Bilder, die ihr immer wieder unkontrolliert durch den Kopf schossen. Von früheren Zeiten, von Louisa, von ihren ahnungslosen Eltern in L.A, von Jacob. Sie war mit einem Mal ganz ruhig gewesen. Die vergangenen Stunden hatte sie pausenlos aus dem Fenster gesehen und dennoch konnte sie nicht sagen, was es war, das sie beobachtet hatte. Es war, als wären ausschließlich die Erinnerungen selbst an ihr vorbeigezogen.

Auch Taylor hatte geschwiegen. Sie war ihm dankbar dafür gewesen, denn innerlich hatte sie versucht, loszulassen. Ihre Ängste, das Gefühl, alles unter Kontrolle haben zu müssen, Louisa. Sie würde sich nun dem stellen müssen, was sie erwarten würde. Und sie wusste, dass es Taylor haargenau so ging. Seine Anwesenheit linderte zumindest ein wenig ihre Angst.

Erst als er den Wagen zum Stehen brachte, wagte sie überhaupt einen Blick in seine Richtung. Er sah stur geradeaus. Sie hatten ein abgelegenes Hafengebiet erreicht, rundum konnte sie nichts erkennen außer verlassenen Lagerhallen, Schotter und Müll. Der Gedanke, dass sie auch Ava hier entsorgt hatten, schmerzte sie. Müll.
„Bist du soweit?" Taylors Worte rissen sie aus ihren Gedanken. War sie soweit? Müde drehte sie den Kopf zu ihm.

„Soweit man sein kann", antwortete sie dann und blickte in sein Gesicht, das keine weitere Regung zeigte. Er öffnete schließlich seine Autotür und stieg aus dem Wagen. Es war kalt draußen. Der Wind jagte ihr eine Gänsehaut über den gesamten Körper.

„Da hinten irgendwo müssen sie Ava gefunden haben. Ziemlich verlassen hier", murmelte Taylor und sah sich um. Sie tat es ihm schweigend gleich. Die riesigen Gelände, die vor ihnen lagen, waren menschenleer. Lediglich verrottete Maschendrahtzäune grenzten sie voneinander ab und verwehrten unmissverständlich den Zugang. Bauschutt, Müll und fensterlose Hafencontainer waren in unregelmäßigen Abständen darauf verteilt, Unkraut ragte durch die Drahtzäune. Die großen Lagerhallen waren heruntergekommen und verlassen, Fenster waren eingeschlagen und Eingänge mit Zäunen versperrt. Rost zog sich beinahe über die gesamte Fassade. Die lange und schmale, asphaltierte Straße, die sich vor ihnen erstreckte, schien zum Wasser zu führen.
„Es riecht furchtbar nach Benzin", bemerkte Taylor, während Alea sich über die Arme rieb. Er hatte Recht.

„Ich glaube, ich schicke Dad sicherheitshalber mal unseren Standort", murmelte er gedankenverloren und zog sein Handy hervor, während Alea bereits einige Schritte vorlief. Der Himmel war von Wolken bedeckt und es ging ein kühler Wind.

Der Gedanke an Avas Leiche ließ sie schaudern. Sie befanden sich schon wieder an einem Tatort.
„Wo genau war es?", fragte sie leise und ließ den Blick langsam weiter über das Gelände streifen.
„Ich weiß es nicht genau, Dad hat was von-" Er unterbrach abrupt, als ein lauter Schuss unweit von ihnen eine Scheibe zerklirren ließ. Alea war zusammengefahren und wirbelte herum. All ihre Sinne waren mit einem Mal geschärft.
„Heilige Scheiße! Das kam direkt von hier! Sie sind hier!", rief sie aufgebracht und sah Taylor erschrocken an. Dann lief sie auf das Gebäude zu, dessen Scheibe eingeschossen war.
„LOU!", schrie sie und sah sich im Rennen um.
„Bist du hier? Sag was! LOUISA!" Ihre Stimme krächzte bereits.
„Lass sie in Frieden, Jacob!" Mittlerweile rannte sie in die Richtung, aus der der Schuss gefallen war. Taylor war ihr dicht auf.

„Hey!", hörte sie mit einem Mal eine tiefe Männerstimme und blieb stehen. Jacob. Nein. War er es? Sie fuhr herum und sah unmittelbar in den Lauf einer Waffe. Zwei südländisch aussehende Männer standen in etwa zehn Metern Entfernung vor ihnen und richteten jeweils eine Waffe auf sie. Alea blieb keuchend stehen und spürte, wie der Schreck sie erneut zu lähmen begann. Game over.


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